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Angewandte Ethik

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Angewandte Ethik ist der Teilbereich der normativen Ethik, der zwischen der allgemeinen Ethik und der Untersuchung konkreter Einzelfälle oder Falltypen nach Gesichtspunkten der Moral und Ethik angesiedelt ist. Sie bedient sich der Grundbegriffe, Prinzipien und Begründungen der allgemeinen Ethik und der empirischen Kenntnisse und Gesetzmäßigkeiten in Bereichen menschlicher Praxis, um zu fallübergreifenden ethischen Aussagen zu gelangen und Hilfestellung in der konkreten Urteilsfindung zu leisten. Die angewandte Ethik gliedert sich in verschiedene Bereichsethiken, die sich der Untersuchung einzelner Lebensbereiche und Handlungsfelder widmen.[1] Mitunter wird angewandte Ethik auch als Oberbegriff für die verschiedenen bereichsspezifischen Ethiken verstanden.[2]

Der Ausdruck wird terminologisch vielfach kritisiert: zum einen, weil Ethik immer praxisbezogen sei,[3] zum anderen, weil er „diffus“[4] sei und sie so den (fälschlichen) Eindruck erwecke, eine logische Ableitung von allgemeinen Prinzipien auf einzelne Bereiche sei möglich.[1] Als Synonyme werden auch Konkrete Ethik, Praktische Ethik oder Problemorientierte Ethik verwandt.[5]

Angewandte Ethik, verstanden als Hilfestellung zur richtigen moralischen Entscheidungsfindung in konkreten Situationen – also nicht nur als Summe von Bereichsethiken, sondern auch als Alltagsethik –, ist bereits in der altägyptischen Lehre des Ptahhotep[6] nachweisbar und wurde dann seit der klassischen Antike verstärkt betrieben. Die deutschen Philosophen Ralf Stoecker, Christian Neuhäuser und Marie-Luise Raters nennen als Beispiele für ethische Abhandlungen zur Bewertung konkreter Verhaltensweisen u. a. Lehrbriefe Senecas, die Essais von Michel de Montaigne oder John Lockes Brief über die Toleranz. Auch die kasuistischen Betrachtungen christlicher Ethiker, darunter Augustinus von Hippo oder Thomas von Aquin, zählen sie hierzu.[2] Nach Matthias Lutz-Bachmann lässt sich die Disziplin der angewandten Ethik gerade als Reaktion auf frühere Kasuistik verstehen, indem sie versucht, fallübergreifend praktische Grundsätze, Normen und Regeln zu finden bzw. zu entwickeln, die als „mittlere Prinzipien“ für typische Handlungssituationen und -bereiche ethisch begründete Hilfestellung leisten.[7]

Eine stark wachsendes Interesse an der angewandten Ethik ist seit den 1960er und 1970er Jahren zu verzeichnen, erkennbar an ihrem seitdem stark wachsenden Umfang und an ihrer Institutionalisierung in Form von Fachzeitschriften, -instituten und -gesellschaften. Nach Stoecker, Neuhäuser und Raters kann man seitdem von der angewandten Ethik als einer eigenständigen philosophischen Disziplin sprechen. Sie entwickelte sich zunächst in den USA aus der Suche nach ethisch begründeten Urteilen zu Themen wie dem Vietnamkrieg, Rassismus, Abtreibung, der interventionistischen Außenpolitik der USA und moralischen Dilemmata, die die zunehmenden Möglichkeiten der Medizin aufwarfen.

Individual- und Sozialethik

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Individualethik und Sozialethik sind die wesentlichen Dimensionen beziehungsweise Perspektiven angewandter Ethik. Die Unterscheidung ist theologischen Ursprungs.[8] So ist noch heute die christliche Sozialethik als wichtigste Ausprägung zu betrachten. Auch bei den Bereichsethiken dominiert die sozialethische Dimension.

Während sich Individualethik mit dem Individuum unter dem Gesichtspunkt seiner Rechte, Pflichten und Tugenden und der Auswirkungen seines Handelns auf die eigene Person befasst und oft tugendethisch argumentiert, behandelt die Sozialethik die soziale Ordnung im Ganzen. Verhandelt wird also das Verhältnis zwischen dem rechten Handeln des Einzelnen als Person und den gesellschaftlichen Bedingungen eines guten Lebens.

Leopold von Wiese unterscheidet in seiner Ethik in der Schauweise der Wissenschaften vom Menschen und von der Gesellschaft jeweils zwischen einer „pathetischen“ und einer „unpathetischen“ Ausprägung:

„Je nachdem, ob man in der Individual- oder in der Sozialethik an die pathetische oder die unpathetische Richtung denkt, bekommt man verschiedene Bilder. Bisweilen verbindet sich eine pathetische Individualethik mit einer unpathetischen Sozialethik oder eine pathetische Sozialethik mit einer unpathetischen Individualethik. Ein unbefriedigtes Bedürfnis flüchtet aus der einen Sphäre in die andere.“

Leopold von Wiese[9]

Konkurrierende Ansätze

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In jüngerer Zeit wird eine Erweiterung der Perspektiven um die Institutionenethik angestrebt.[10] Dabei werden vor allem die Institutionen in den Blick, die „den Raum des Sozialen konstituieren“, sowohl abstrakt, beispielsweise der Markt, als auch konkret im politischen Bereich.

Als weiterer wichtiger Impuls in der Entwicklung der angewandten Ethik ist das wachsende Interesse an Fragen des Umwelt- und Tierschutzes zu nennen, die mit Rachel Carsons Werk „Der stumme Frühling“ (1962) und Peter SingersAnimal Liberation. Die Befreiung der Tiere“ (1975) in den Blickpunkt von Öffentlichkeit und Politik rückten.[11]

Zur angewandten Ethik gehört vor allem die Untersuchung moralischer Fragen in verschiedenen Anwendungsbereichen, als deren wichtigster die Medizinethik genannt wird. Jenseits solcher Bereichsethiken, die sich oft an bestimmte Berufsgruppen richten, zählen Stoecker, Neuhäuser und Raters auch Alltagsethik zur angewandten Ethik. Fragen zum richtigen Umgang von Menschen miteinander, etwa, ob und unter welchen Umständen man lügen darf, gehören also in dieser Sichtweise auch zur angewandten Ethik. Darüber hinaus gibt es verschiedene übergreifende Fragestellungen, die die Bereichsethiken miteinander verbinden und die nach Stoecker, Neuhäuser und Raters ebenfalls Thema der angewandten Ethik sind. Hierzu gehört zum Beispiel der moralische Status von Personen und Tieren.[2]

Allgemein ist angewandte Ethik also der Versuch, Menschen in konkreten Situationen zu helfen, moralisch richtig zu entscheiden. Sie stellt dazu die beispielhafte moralische Diskussion von Einzelfällen, Begründungsmuster und Begriffe zur Verfügung.[2] Damit will sie die Urteilsfindung unterstützen, in welche moralische Grundkategorie eine charakterliche Neigung, eine Absicht, ein Motiv, eine Handlungsregel oder eine Handlung fällt, ob etwas „verboten“, „erlaubt“ und „geboten“ ist. „Erlaubte“ Handlungen lassen sich weiter differenzieren nach „wünschenswerten“ und moralisch „neutralen“ bzw. indifferenten. Zu wünschenswerten aber nicht gebotenen Handlungen gehören solche, die dem Handelnden zumutbar sind, deren Unterlassen aber auch nicht weiter tadelnswert ist (zum Beispiel das Aufheben von fremdem Müll), und solchen, die die Handelnden unter enormen eigenen Opfern auf sich nehmen müssten, die zu fordern unzumutbar wäre (Supererogation). Solche superogatorischen Handlungen sind in besonderem Maß lobenswert. Wünschswerte und gebotene Handlungen bezeichnet man zusammenfassend auch als „gut“, moralisch verbotene „schlecht“.[12]

Grundlage der angewandten Ethik stellt die allgemeine Ethik dar, von der sie ihre theoretischen Grundbegriffe und -prinzipien erhält. Um aber Orientierungshilfe in praktischen, gesellschaftlichen und politischen Fragen bieten zu können, muss sie über die akademische Untersuchung moralischer Begriffe, Prinzipien und Begründungsmöglichkeiten hinausgehen und Erkenntnisse des jeweiligen Fachgebietes in ihre Überlegungen miteinbeziehen. Zugleich handelt es sich nicht einfach um die Anwendung von Ergebnissen ethischer Überlegungen, die gleichsam als Instrument zur Lösung praktischer Fragen benutzt werden, sondern ethische Reflexion ist immer auch Teil des Bemühens, angewandte Ethik zu betreiben.[13]

Die Beschäftigung mit Themen der angewandten Ethik hat in letzter Zeit vor allem wegen der immer drängender werdenden Probleme in den Bereichen Technik, Umwelt und Gesellschaft stark zugenommen. In der Praxis führt die enge Verbindung zwischen angewandter Ethik und aktuellen politischen und gesellschaftlichen Diskursen – wie sie etwa in politischen Beratungsgremien gegeben ist – dazu, dass zwischen diesen Bereichen nicht mehr klar unterschieden wird. Die Aufgabe der angewandten Ethik kann sich hier verschieben von einer Untersuchung der Qualität von Argumenten hin zu einer Herstellung gesellschaftlichen Konsenses. Damit erhebt sich die Pluralität ethischer Theorien als Hürde. Weil eine Einigung auf eine bestimmte ethische Theorie regelmäßig nicht zu erwarten ist, ist die Suche nach sogenannten mittleren Prinzipien, die im Einklang mit verschiedenen Theorien stehen, ein wichtiges Mittel zur Überwindung dieser Hürde. Beispielhaft sind die vier Prinzipien von Beauchamp und Childress in der Bioethik: Respekt vor der Patientenautonomie, das Nicht-Schadensgebot, die Fürsorgepflicht und eine Gerechtigkeitsforderung. Eine Einigung auf mittlere Prinzipien bedeutet jedoch noch nicht ihre Berechtigung und moralische Geltung, sie kann ihre kritische Reflexion und Begründung nicht ersetzen. Zudem ist häufig ihre Bedeutung in konkreten Entscheidungssituationen immer noch zu klären, zumal Konflikte zwischen verschiedenen Prinzipien möglich sind.[13] Die Suche nach kohärenten Begründungszusammenhängen hat vor diesem Hintergrund in der angewandten Ethik besondere Bedeutung gewonnen.[14]

Bereichsethiken

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Bereiche angewandter Ethik haben sich in sehr verschiedenen Zusammenhängen und entlang deutlich unterschiedlicher Fragestellungen entwickelt, so dass ihre Systematisierung nach einem einheitlichen Prinzip nicht möglich ist. Einige lassen sich durch ihre Anlehnung an bestimmte Wissenschaftsdisziplinen oder Berufsfelder unterscheiden. Von besonderer Bedeutung sind hier die Medizin- und Bioethik. Der Technikethik, ausgerichtet auf die Betätigungsbereiche von Ingenieuren und Technikern, lassen sich eine Vielzahl von Subdisziplinen zuordnen – jedoch nicht immer eindeutig –, zum Beispiel die Medien- oder Informationsethik. Eine andere Aufteilung orientiert sich an gesellschaftlichen Handlungsfeldern, die Bereiche der politischen Ethik oder Wirtschaftsethik lassen sich so verstehen.[13]

Die folgenden Themenfelder erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit und gliedern sich in die Bereiche:

Zahlreiche Ethikräte in Unternehmen, Organisationen und Institutionen sollen ethische Aspekte von deren Arbeit untersuchen und gegebenenfalls sicherstellen. Teilweise sind sie gesetzlich verankert, wie der Deutsche Ethikrat.

Im wissenschaftlichen Bereich sind für den deutschsprachigen Raum unter anderem folgende Ethik-Institute zu nennen:

Commons: Angewandte Ethik – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien
Einführungen und Übersichten
Institutionen
  1. a b Otfried Höffe: Lexikon der Ethik, 7. Auflage. München, Beck 2008, ISBN 978-3-406-56810-7: angewandte Ethik
  2. a b c d Einleitung. In: Ralf Stoecker, Christian Neuhäuser und Marie-Luise Raters (Hrsg.): Handbuch Angewandte Ethik. J. B. Metzler’sche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag, Stuttgart 2011, ISBN 978-3-476-02303-2, S. 2–11.
  3. Martin Gessmann (Hrsg.): Philosophisches Wörterbuch. 23. Auflage. Kröner, Stuttgart 2009: Ethik, angewandte.: "Pleonasmus"
  4. Gerd Grübler: Angewandte Ethik. In: Breitenstein/Rohbeck (Hrsg.): Philosophie. Metzler; Stuttgart, Weimar 2011, S. 303
  5. Vgl. Gerd Grübler: Angewandte Ethik. In: Breitenstein/Rohbeck (Hrsg.): Philosophie. Metzler; Stuttgart, Weimar 2011, S. 303
  6. Friedrich Junge, Die Lehre des Ptahhotep und die Tugenden der ägyptischen Welt, Göttingen 2003.
  7. Matthias Lutz-Bachmann: Ethik (= Grundkurs Philosophie. Band 7). Reclam, 2013, ISBN 978-3-15-018474-5, 4 Angewandte Ethik.
  8. Thomas Gutmann und Michael Quante: Individual-, Sozial- und Institutionenethik, S. 2, abgerufen am 21. April 2019.
  9. Leopold von Wiese: Ethik in der Schauweise der Wissenschaften vom Menschen und von der Gesellschaft, Bern, Francke, S. 143.
  10. Etwa durch Thomas Gutmann und Michael Quante: Individual-, Sozial- und Institutionenethik, abgerufen am 21. April 2019.
  11. Brenda Almond: Applied Ethics. In: Routledge Encyclopedia of Philosophy. 5 Historical Context, doi:10.4324/9780415249126-L005-1 (routledge.com).
  12. Reinold Schmücker: Grundkategorien moralischer Bewertung. In: Ralf Stoecker, Christian Neuhäuser und Marie-Luise Raters (Hrsg.): Handbuch Angewandte Ethik. J. B. Metzler'sche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag, Stuttgart 2011, ISBN 978-3-476-02303-2, S. 14–16.
  13. a b c Marcus Düwell: III Angewandte oder Bereichsspezifische Ethik – Einleitung. In: Marcus Düwell, Christoph Hübenthal und Micha H. Werner (Hrsg.): Handbuch Ethik. 3. Auflage. Metzler, 2011, ISBN 978-3-476-05192-9, S. 243–247.
  14. Jens Badura: Kohärentismus. In: Marcus Düwell, Christoph Hübenthal und Micha H. Werner (Hrsg.): Handbuch Ethik. 3. Auflage. Metzler, 2011, ISBN 978-3-476-05192-9, 6. Ethischer Kohärentismus und praxisbezogene Ethik, S. 201–203.
  15. Uwe Meier (Hrsg.): Agrarethik – Landwirtschaft mit Zukunft. Erling Verlag, Juli 2012. Weitere Auswahl von Quellen zur Agrarethik auf der Webpräsenz der Universität Wien, Forschungsstelle für Ethik und Wissenschaft unter Angewandte Ethik – Agrarethik. (Memento des Originals vom 5. August 2018 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/fewd.univie.ac.at
  16. Universität Wien, Forschungsstelle für Ethik und Wissenschaft: Willkommen zu IEE - Interdisziplinäre www.ErnährungsEthik.at.
  17. Berr, Karsten (Hrsg.): Architektur- und Planungsethik. Zugänge, Perspektiven, Standpunkte. Springer, Berlin 2017, ISBN 978-3-658-14972-7, S. 206.
  18. Müller, Albrecht: Planungsethik. Eine Einführung für Raumplaner, Landschaftsplaner, Stadtplaner und Architekten. A. Francke Verlag, Tübingen 2017, ISBN 978-3-8252-4875-8, S. 127.
  19. Hendler, Sue (Hrsg.): Planning ethics: a reader in planning theory, practice, and education. Rutgers, New Jersey 1995, ISBN 0-88285-151-9, S. 374.
  20. Reinhard Lay: Ethik in der Pflege. Das Lehrbuch für alle Bereiche der Pflege. 3. Auflage. Schlütersche Fachmedien., Hannover 2022, ISBN 978-3-8426-0838-2 (562 S.).
  21. Ethikzentrum der Universität Zürich
  22. Berliner Institut für christliche Ethik und Politik (ICEP)
  23. Institut für Ethik & Werte in Gießen
  24. Institut für Wissenschaft und Ethik (IWE), Bonn
  25. Deutsches Referenzzentrum für Ethik in den Biowissenschaften (DRZE), Bonn
  26. Hochschule der Medien
  27. Institut für Ethik und Gesellschaftslehre