Heinrich Müller (Gestapo)

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Heinrich Müller („Gestapo-Müller“; * 28. April 1900 in München; † wohl im Mai 1945; zum 1. Mai 1945 für tot erklärt)[1] war ein Mitarbeiter der Geheimen Staatspolizei (Gestapo, Amt IV im Reichssicherheitshauptamt (RSHA)) und ab Oktober 1939 Leiter dieser Behörde.

Leben

Heinrich Müller wurde in München in einer katholischen Familie geboren. Sein Vater war Gendarmeriebeamter. Nach der Mittelschule absolvierte er eine Lehre als Flugzeugmonteur. 1917 trat Müller als Kriegsfreiwilliger in die bayerische Armee ein und kam zur Fliegertruppe. Als Flugzeugführer wurde er mehrfach ausgezeichnet (u. a. mit dem EK I) und 1919 als Unteroffizier entlassen. Im selben Jahr wurde Müller bei der Polizeidirektion München als Hilfsassistent eingestellt.[2] Ab 1929 war er dort als Polizeisekretär in der Münchner Politischen Polizei tätig und mit der Bekämpfung kommunistischer Organisationen betraut.

Besprechung der Ermittlungsergebnisse über den Bombenanschlag im Bürgerbräukeller in München am 8. November 1939 durch Georg Elser, von links nach rechts: SS-Obersturmbannführer Franz Josef Huber, SS-Oberführer Arthur Nebe, Reichsführer SS Heinrich Himmler, SS-Gruppenführer Reinhard Heydrich und SS-Oberführer Heinrich Müller.

Als Heinrich Himmler und Reinhard Heydrich wenige Wochen nach der nationalsozialistischen Machtergreifung im Frühjahr 1933 die Kontrolle über die bayerische Polizei übernommen hatten, wurde Müller in die neugegründete Bayerische Politische Polizei (BPP) übernommen, deren Aufgabe in der Bekämpfung der weltanschaulichen Gegner der Nationalsozialisten im bayerischen Raum bestand. Nach der Ernennung Heydrichs zum Leiter des Geheimen Staatspolizeiamtes in Berlin – und damit zum Leiter der Politischen Polizei in Preußen als dem weitaus größten deutschen Teilstaat – im April 1934 nahm er mehrere seiner Mitarbeiter aus der Bayerischen Politischen Polizei mit nach Berlin, darunter auch Müller. Hintergrund dieser Maßnahme war es, seine Position im Geheimen Staatspolizeiamt zu festigen, indem er dortige Führungspositionen mit ihm vertrauten und loyalen Mitarbeitern aus seiner früheren bayerischen Dienststelle besetzte.

Im Geheimen Staatspolizeiamt (Gestapa) übernahm Müller, der zu dieser Zeit auch in die SS (SS-Nr. 107.043) eintrat, zusammen mit seinem ehemaligen Münchener Vorgesetzten Reinhard Flesch zunächst die Gesamtleitung der Unterabteilung II 1 sowie die Leitung der Referate II 1 A („Kommunistische und Marxistische Bewegung und deren Nebenbewegungen“) und II 1 H („Angelegenheiten der Partei und der ihr angeschlossenen Verbände“). 1935 konnte er die Gelegenheit der Rückkehr Fleschs nach München zum Ausbau seiner Machtstellung nutzen, indem er auch die Leitung des Referates II 1 B („Konfessionelle Verbände, Juden, Freimaurer, Emigranten“) an sich zog, die bis dahin Flesch innegehabt hatte.[3] 1936 wurde Müller schließlich zum stellvertretenden Chef des Amtes Politische Polizei im Hauptamt Sicherheitspolizei ernannt, in dem das Gestapa im Zusammenhang mit der fortschreitenden Bündelung der polizeilichen Machtmittel zu dieser Zeit aufging.

1939 wurde Müller, der seit 1938 auch der NSDAP angehörte, Geschäftsführer der „Reichszentrale für jüdische Auswanderung“. Er inszenierte den angeblichen Überfall polnischer Soldaten auf den Rundfunksender Gleiwitz, der Hitler den Vorwand zum Angriff auf Polen lieferte. Ab Oktober 1939 war er Chef des Amtes IV (Gestapo) des Reichssicherheitshauptamtes im Rang eines SS-Oberführers, sein letzter Rang war ab November 1941 SS-Gruppenführer und Generalleutnant der Polizei.

Als Leiter der Gestapo war Müller an nahezu allen Verbrechen führend beteiligt, die im Reichssicherheitshauptamt geplant, vorbereitet und organisiert wurden.

Ab Anfang September 1939 gab er Anweisungen zur „Sonderbehandlung“ (Ermordung) politischer Gegner. Er übermittelte am 5. April 1945 dem Kommandanten des KZ Dachau den von Hitler erteilten Mordbefehl am Widerstandskämpfer Georg Elser.

Ihm unterstand auch das von Adolf Eichmann geleitete „Judenreferat“ IV B 4. An der Planung und Ausführung des Völkermords an den Juden in der Sowjetunion war er bis ins Detail beteiligt. Müller formulierte in Reinhard Heydrichs Auftrag Befehle an die Einsatzgruppen und war für die Abfassung der „Ereignismeldungen“ zuständig, zu denen die Berichte der SS-Einsatzgruppen zusammengefasst wurden. Müller war einer der mächtigsten Schreibtischtäter des NS-Regimes.

Verbleib nach Kriegsende

Müller gilt seit Mai 1945 als verschollen. Nach den Angaben von sechs Zeugen, die 1961 von der westdeutschen Polizei vernommen wurden, wurde Müller zuletzt am 1. und 2. Mai 1945 – nach Hitlers Suizid – in der Reichskanzlei gesehen.[4] Als wahrscheinlich gilt ein Tod Müllers beim Fall Berlins Anfang Mai 1945.[4]

Berichte, Müller sei Ende April 1945 per Flugzeug in die Schweiz geflohen und habe später in Südamerika für US-amerikanische Geheimdienste gearbeitet, beruhen auf einem Buch, das 1996 im rechtsextremen Druffel-Verlag erschien.[5] Das Buch enthält Quellenfälschungen, weist zahlreiche Widersprüche auf und ist „voller Verharmlosungen der NS-Vernichtungspolitik und zugleich voll von Herabwürdigungen der Opfer des NS-Regimes“.[6]

Der Chef des SD-Auslandsnachrichtendienstes, Walter Schellenberg, gilt als einer der Urheber von Gerüchten, wonach Müller bereits vor 1945 für die UdSSR gearbeitet habe und per Funk in Kontakt mit sowjetischen Geheimdiensten stand.[7] Schellenberg, dem eine erbitterte Rivalität mit Müller nachgesagt wird, äußerte derartige Vermutungen 1945 in Vernehmungen durch den US-amerikanischen Nachrichtendienst OSS. Schellenbergs Angaben wurden sowohl von Ernst Kaltenbrunner, Müllers direktem Vorgesetzten, als auch von seinem Untergebenen Heinz Pannwitz bestritten. Heinz Pannwitz, selbst mehrere Jahre in sowjetischer Haft, erklärte hingegen 1959 gegenüber der CIA, ihm sei bei Verhören in der UdSSR wiederholt gesagt worden, Müller sei tot.[7]

Unterlagen der CIA zu Müller wurden gemäß dem „Nazi War Crimes Disclosure Act of 1998“ am 26. September 2000 freigegeben.[8] Die Akten wurden mittlerweile im Auftrag der US-Regierung von einer Gruppe von Historikern ausgewertet.[9] Nach den Unterlagen war unmittelbar nach Kriegsende die Ergreifung Müllers von hoher Bedeutung, dennoch gelang es nicht, ihn aufzuspüren. Die Suche wurde auch durch die Häufigkeit des Familiennamens Müller erschwert. Die meisten Berichte deuteten darauf hin, dass der Gesuchte sich bei Kriegsende in Berlin aufgehalten hatte. Eine 1947 durchgeführte Hausdurchsuchung bei der Geliebten Müllers brachte keinerlei Hinweise, dass Müller damals noch lebte. Bei Beginn des Kalten Krieges gingen die US-Nachrichtendienste vom Tod Müllers aus.

Nach der Entführung Adolf Eichmanns aus Argentinien nach Israel im Mai 1960 geriet der Verbleib Müllers wieder in das öffentliche Interesse. Verwandte Müllers, seine Geliebte sowie seine ehemalige Sekretärin wurden observiert und verhört. Hausdurchsuchungen erbrachten keine Hinweise darauf, dass Müller – wie von der westdeutschen Polizei vermutet – im Ausland lebe und mit seinen Angehörigen in Kontakt stehe. Im September 1963 stieß die Polizei auf ein vermeintliches Grab Müllers auf dem Berliner Friedhof Lilienthalstraße. Die Untersuchung der aufgefundenen sterblichen Überreste ergab, dass es sich nicht um Müller handeln könne. Hinweisen auf eine Beerdigung Müllers in einem Massengrab auf dem jüdischen Friedhof Berlin-Mitte konnte nicht nachgegangen werden, da dieses im Ostteil Berlins lag. Etwa zeitgleich nahm die CIA ihre Nachforschungen zu Müller wieder auf: Überläufer aus dem Ostblock berichteten, Müller sei nach Kriegsende verhaftet und in die UdSSR gebracht worden. Ebenfalls in den 1960er Jahren erschienen unterschiedliche Zeitungsberichte, die Müller in Rumänien, Albanien, Südafrika oder Südamerika vermuteten. Ein im Dezember 1971 entstandener CIA-Bericht ging von einer Desinformationskampagne der östlichen Seite im Kalten Krieg aus. Unmittelbar nach Kriegsende sei nicht mit dem nötigen Nachdruck nach Müller gesucht worden. Es gebe deutliche Hinweise, aber keine Beweise, dass Müller mit der sowjetischen Seite zusammengearbeitet habe. Ebenso gebe es deutliche Hinweise, dass Müller 1945 in Berlin gestorben sei, so der CIA-Bericht.

Nach Angaben von Johannes Tuchel, Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, starb Müller kurz vor Kriegsende: Die Auswertung zeitgenössischer Dokumente bestätige, dass seine Leiche im August 1945 in einem provisorischen Grab in der Nähe des ehemaligen Reichsluftfahrtministeriums aufgefunden, eindeutig identifiziert und anschließend in Berlin in einem Massengrab auf dem 1943 auf Anweisung der Gestapo[10] abgeräumten jüdischen Friedhof in der Großen Hamburger Straße beigesetzt wurde.[11]

Literatur

Weblinks

Commons: Heinrich Müller – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. vgl. Sterbeurkunden des Standesamtes Berlin-Mitte 1959 und 1961, in: Institut für Zeitgeschichte München-Berlin, Archiv Signatur ED 404, Bestand Heinrich und Sophie Müller.
  2. Gerhard Paul, Klaus-Michael Mall: Die Gestapo. Mythos und Realität. Primus Verlag, Sonderausg. 2003, S. 255/256.
  3. Gestapo-Müller. Kein Nazi. In: Der Spiegel. , abgerufen am 27. Mai 2013.
  4. a b Übereinstimmend: Timothy Naftali, Norman J. W. Goda, Richard Breitman, Robert Wolfe: Analysis of the Name File of Heinrich Mueller. In: www.archives.gov; Jürgen Zarusky: Leugnung des Holocaust. Die antisemitische Strategie nach Auschwitz. In: BDjS-Aktuell. Amtliches Mitteilungsblatt der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften. Sonderausgabe Jahrestagung 1999, S. 5–15, hier S. 11 f. (PDF; 544 kB).
  5. Gregory Douglas: Geheimakte Gestapo-Müller. Dokumente und Zeugnisse aus den US-Geheimarchiven.
  6. Zarusky: Leugnung des Holocaust. 1999, S. 11.
  7. a b Naftali u. a.: Analysis of the Name File of Heinrich Mueller. 1999.
  8. Datum bei CIA Documents/Files Declassified and Released to NARA as of 17 Mar 2004 (PDF; 117 kB) bei der George Washington University. Zur Aktenfreigabe siehe auch H-Soz-u-Kult.
  9. Veröffentlichungen der Auswertung: Richard Breitman, Norman J. W. Goda, Timothy Naftali, Robert Wolfe (Hrsg.): U.S. Intelligence and the Nazis. Cambridge University Press, Cambridge 2005, ISBN 0-521-61794-4; sowie Naftali u. a.: Analysis of the Name File of Heinrich Mueller. 1999. Die nachfolgenden Angaben zu den Nachforschungen nach Müller bei Naftali.
  10. Michael Brocke: Die Steine von Berlin-Mitte. In: Jüdische Allgemeine. 21. November 2013, S. 17.
  11. Gestapo-Chef wurde auf jüdischem Friedhof beerdigt. In: Tagesspiegel. 31. Oktober 2013, abgerufen am 31. Oktober 2013.