Hermann-Gocht-Haus

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fünfstöckiges Haus, davor Wiese, ganz vorne: Zaun.
Altbau des Hermann-Gocht-Hauses (2024)
Karte
Hermann-Gocht-Haus zwischen Samuel-Heinicke-Straße und Gochtstraße in Zwickau-Weißenborn

Das Hermann-Gocht-Haus im Zwickauer Stadtteil Weißenborn ist ein christlich geprägtes Wohnheim für Gehörlose und Hörgeschädigte sowie Mehrfachbehinderte[1]. Die Anfangszeit ist eng mit dem Leben des späteren Namensgebers verknüpft. Nach der deutschen Einheit wurde das Heim der Diakonie durch einen Neubau erweitert.

Der Altbau von 1914 ist ein Putzbau im zeittypischen Jugendstil.[2][3] Ein Relief über dem historischen Haupteingang zeigt einen Tauben, der Jesus bittet, ihn hörend zu machen. Dieser weist einladend auf die Buchstaben „HEIM“. Damit ist der Anspruch formuliert, den Bewohnenden ein verständliches Umfeld zu bieten.[4] Zur optimalen Kommunikation gibt es große Fenster und breiten Gänge.[5]

Der moderne Neubau von 2001 besteht aus grauen Quadern. Einer davon dient als ebenerdige seitliche Verbindung zum Altbau. Im Zentrum steht aber eine schräge Fassade aus Glaselementen und eine gelbe gerade Wand. Auf letzterer ist silbern das Diakonie-Zeichen und der aktuelle Name „Hermann-Gocht-Haus“ abgebildet.

Gründer des Heims war Hermann Gocht (* 14. November 1862 in Ebersbach[6]; † 23. Dezember 1959[7]), Zwickauer Pfarrer und erster Sächsischer Gehörlosenseelsorger[8].

Bis zur Heimgründung

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Gocht wuchs im Osten des Königreichs Sachsen als Kind eines gleichnamigen Färbermeisters auf. Prägend war der frühe Kontakt mit einem gehörlosen Nachbarskind. Nach Volksschule und Gymnasium ging Gocht nach Leipzig um evangelische Theologie an der dortigen Universität zu studieren. Nach dem Abschluss war er ab 1887 drei Jahre Hilfslehrer an der örtlichen Gehörlosenschule.[9]

1891 zog Gocht nach Zwickau und blieb dort: An der Marienkirche war er zunächst Kandidat im Predigtamt, später vollwertiger Pfarrer und Sächsischer Gehörlosenseelsorger[8]. Gocht hielt monatliche Sondergottesdienste in Deutscher Gebärdensprache (DGS), zweimal im Jahr mit Abendmahl. Die Kommunikation mit Taubblinden erfolgte über Lormen. Das Gottesdienstzimmer befand sich in der nordwestlichen Ecke der Kirche, also links des Haupteingangs. Zwickaureisen waren für Betroffene aus dem Sächsischen Königreich bis 1893 kostenlos, danach nur noch ermäßigt. Zudem setzte die Stadt ab 1903 Gocht als Gebärdensprachdolmetscher bei der Kommunikation von Ämtern ein. Er organisierte ferner den ab 1908 jährlich stattfindenden Sächsischen Taubblindentag.[10]

Heimgründung und -verwaltung

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Der 1905 aus der sächsischen Lehrerschaft heraus gegründete Fürsorgeverein für Taubstumme [!] im Königreich Sachsen strebte ein Heim an, um die prekäre Lage der Zielgruppe abzufedern, denn die herkömmlichen Armen- und Pflegehäuser waren auf diese nicht eingestellt, was zu besonderer sozialer Isolation führte. Gocht setzte diese Idee in seiner Stadt um. Dafür organisierte er Unterstützung: Die Baukosten übernahm der taubgeborene Kommerzienrat Friedrich Falck, der aus seiner hohner steinkohleindustriellen Erbschaft insgesamt 120.000 Mark spendete. Weiterhin spendeten Kommerzienrat Carl Wolf (6.000 Mark für das Grundstück), zwei anonyme Frauen (5.500 Mark) und die Stadt Zwickau (1.000 Mark). Neben dieser finanziellen Unterstützung gab es auch direkte: Großkaufmann Simon Schocken stiftete die Inneneinrichtung. Der Architekt des Hauses Gustav Hacault und der des Gartens Paul Lorenz verzichteten jeweils auf ihr Gehalt. Langfristig sollte der Betrieb durch Vermögenszinsen des bereits 1900 gegründeten Sächsischen Taubstummenbundes (?) sowie durch Gelder der Herkunftsgemeinden der Bewohnenden sichergestellt werden.[11]

Das Sächsische Taubstummenheim[12] wurde am 29. Juni 1913 eingeweiht, fast exakt ein Jahr nach Baubeginn.[13] Das Programm, bei dem 500 Taube sowie der Staats- und Kultusminister Heinrich Gustav Beck anwesend waren, beinhaltete einen Festgottesdienst in der Marienkirche, ein Festessen in der Herberge Zur Heimat und die Besichtigung der Einrichtung.[14] In diesem Zuge entstand auch die Samuel-Heinicke-Straße,[15] an dessen Hausnummer 16 das Heim steht. Trotz dieses konservativen Rückbezugs waren Gocht und sein Heim verhältnismäßig fortschrittlich:[16][5]

  • nicht nur Pflege, sondern auch Beschäftigung: „Wohnen und Pflegen, Arbeiten, Kommunikation, Freizeit, Feiern und geistlichem Leben“
  • viel Raum im Haus als auch außerhalb, beispielsweise Doppelzimmer statt Schlafsäle
  • bilingualer Unterricht und Würdigung von Gebärdensprache statt einseitiger Oralismus

Als der sächsische König Friedrich August III. am 23. April 1914 das König-Albert-Museum am heutigen Platz der Völkerfreundschaft einweihte, besuchte er am Nachmittag auch das Heim. Im Speisesaal wurde ein großes Bild des Monarchen enthüllt. Die Hälfte der zu diesem Zeitpunkt 16 Bewohnenden war zusätzlich blind. Um die Qualität der Sinneswahrnehmungen zu steigern, soll der König im Nachgang Zigarren geschickt haben.[17]

Für den Ersten Weltkrieg zeichnete der Fürsorgeverein für Taubstumme anfangs noch 4500 Mark Kriegsanleihe. Über die Zeit verschlechterten sich aber einerseits die Einnahmen. Andererseits kamen die Ausgaben zunehmend auch Kriegsgeschädigten zu und damit weniger dem Heim. Um die finanzielle Situation stabilisieren, konstituierte sich am 27. September 1917 den nun lokale Verein Sächsisches Taubstummenheim in Zwickau. Gocht war Vorstizender und übernahm nun so die Verwaltung. Simon Schocken und andere städtische Persönlichkeiten waren im Vorstand vertreten. Zu größerer finanzieller Sicherheit durch Unabhängigkeit sollte Landwirtschaft beitragen: Entsprechend wurde das Grundstück von 7 ha auf 35,6 ha erweitert. Dennoch war die Inflation spürbar.[18]

Gocht war Gründungsmitglied des Reichsverbands der Gehörlosen Deutschlands (ReGeDe).[19]

Gocht ging 1930 in den Ruhestand. Für die Stadt war das Anlass die hinter dem Heim, parallel zur Samuel-Heinicke-Straße verlaufende Gochtstraße entsprechend zu benennen (Erstnennung 1932[20]).[21]

Gocht war während der Weimarer Republik Monarchist geblieben und stand dem NS-Regime zunächst positiv gegenüber. So wurde im Speisesaal ein Hitlerporträt neben dem erhaltenen Königsbild von 1914 aufgehangen. Zum 25-jährigen Jubiläum 1938 war der jüdische Unterstützer Simon Schocken, der bereits 1929 gestorben war, in der Festschrift unsichtbar. Gocht hingegen wurde bei diesem Anlass mit der Wichern-Plakette der Inneren Mission ausgezeichnet.[22]

Im Zweiten Weltkrieg verschärfte sich die Situation für das Heim. Zunächst bedrohte 1940 das rassenhygienisch und kriegswirtschaftlich motivierte Massenmordprogramm Aktion T4 unmittelbar das als „lebensunwert“ bezeichnete Leben von Heimbewohnenden, woraufhin Gocht verdeckt Widerstand leistete: Zunächst musste Gocht zu allen 44 je einen Meldebogen ausfüllen und zur Zentraldienststelle T4 schicken. Am 30. September wurden 5 Bewohnende in die als Geisteskrankenanstalt Zschadraß im heutigen Colditz getarnte Zwischenstation gebracht, um sie von dort nach einigen Tagen in die Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein zu bringen und zu vergasen. Die grundsätzliche Gefahr ahnend reiste Gocht umgehend nach Zschadraß und sprach bei dem Leitenden Arzt Max Alwin Liebers vor, der sich nicht entscheidungsbefugt gab. Am Folgetag beim Innenministerium in Dresden trat er in der Sache naiv – nur sein Heim sei ein angemessener Ort –, aber selbstbewusst auf. Das war erfolgreich: Nach zehn Tagen wurden die 5 Bewohnenden zurückgebracht.[23]

Bei einem amerikanischen Luftangriff am 7. Oktober 1944 kam es zu leichteren Schäden am Heim. Durch die Aufnahme von Ausgebombten, durch amerikanische Beschlagnahmung wohnungslos Gewordenen und Geflüchteten erreichte das Heim mit Angestellten und regulären Bewohnenden einen Personenstand von 103. Die Ressourcen waren durch Raub, Beschlagnahmung und Lieferengpässe zusätzlich reduziert, sodass die Versorgungslage sehr schlecht war. Die Mangelernährung führte zu weniger Arbeitsleistung, ein Teufelskreis, und zu schlechter Gesundheit: Noch 1947 gab es drei Todesfälle infolge von Tuberkulose.[24] Zu den materiellen Problemen kamen instituionelle Herausforderungen. Die Initiative aus der Ost-CDU die Stätte in ein städtisches Kinderheim umzuwandeln wurde im Stadtrat abgelehnt. Ein Befehl zur Auflösung aller Vereine in der Sowjetischen Besatzungszone wurde mit der Umbenennung des im Ersten Weltkrieg gegründeten Vereins in Sächsisches Kirchliches Taubstummenheim Zwickau umgangen. Nach und nach stabilisierte sich zwar das Heim in DDR, dennoch war Mangelwirtschaft eher Regel als Ausnahme.[25]

Die Leipziger theologische Fakultät, an der Gocht studiert hatte, verlieh ihm 1956 die Ehrendoktorwürde[21] bevor er 1959 starb.

Gocht hatte mindestens ein Kind namens Gotthold[21]. Über die Mutter und mögliche weitere Kinder schweigen die herangezogenen Quellen.

Seit dem BRD-Beitritt

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flache Hausfassade: gelber Teil gerade, mit der Aufschrift Hermann-Gocht-Haus, links daneben eine gewölbte Fassade aus Glaselementen. An die genannten Teile schließen graue Elemente an. Im Vordergrund Bänke und Grünbewuchs.
Teil des Neubaus (2024)

Nach dem BRD-Beitritt war der Zustand des Heims nicht mehr zeitgemäß. Im Oktober 2001 wurde ein Neubau mit Wohneinheiten und einer Werkstatt für behinderte Menschen fertiggestellt, der mit dem historischen Altbau baulich verbunden ist. In diesem Zuge wurde auch der ursprüngliche, überkommene Name durch Hermann-Gocht-Haus ersetzt.[26] Der Altbau hingegen erfüllte gesetzliche Anforderungen nicht mehr und war deshalb 2002 leergezogen. Erst 2006 begann die Sanierung. Das 2,5-Millionen-Euro-Projekt wurde schließlich im Juli 2007 abgeschlossen und eingeweiht.[27]

Das 2013 gefeierte einhundertjährige Jubiläum trug das Motto „Einander verstehen“. Passend dazu predigte eine taube Theologiestudentin zu den Emmausjüngern. Grußworte sprachen unter anderem die damalige Oberbürgermeisterin Pia Findeiß (SPD) und Martin Zierold (Grüne).[28]

Der Altbau ist eines der Weißenborner Kulturdenkmäler nach § 2 SächsDSchG[2]. Das Heim ist eine überregionale Einrichtung der Eingliederungshilfe nach § 54 SGB XII[29], zuvor nach § 39 BSHG[30]. Diese Angaben sind ohne Gewähr.

Commons: Hermann-Gocht-Haus – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

(alle Hyperlinks abgerufen im Oktober 2023 und im Juli 2024)

Einzelnachweise und Anmerkungen zu Widersprüchen in Quellen

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  1. Hermann-Gocht-Haus Zwickau auf diakonie-westsachsen.de, abgerufen am 8. Oktober 2023.
  2. a b Denkmaldokument auf sachsen.de, abgerufen im Juli 2024.
  3. Papenfuß 2012, S. 72.
  4. Barth 2008, S. 5.
  5. a b Papenfuß 2012, S. 72 (Der entsprechende Absatz ist nur zu lesen, wenn der Text auf der Seite markiert wird. Er überlappt dann so das Bild „Taubstummenheim 1913“).
  6. Krauß 2002; Papenfuß 2012, S. 69. Abweichender Geburtsort bei Käbisch 2004: „in Zwickau“.
  7. Papenfuß 2012, S. 69.
  8. a b Barth 2008, S. 36.
  9. Krauß 2002; Papenfuß 2012, S. 69.
  10. Krauß 2002; Papenfuß 2012, S. 69–70.
  11. Papenfuß 2012, S. 70–71; Peschke 2017, S. 132. Möglicherweise meint Papenfuß den Fürsorgeverein statt den Taubstummenbund. Das wäre naheliegender, weil er die Projektidee direkt forcierte und würde auch besser zu der beschriebenen Problematik während des Ersten Weltkriegs passen. Da die Verwechslung nicht bewiesen ist, bleibt der Text hier aber nahe an der Quelle.
  12. Die Quellen widersprechen sich in der genauen Bezeichnung von 1913: Barth 2008, S. 36: „Kirchliches Sächsisches T.“ und „Sächsisch Kirchliches T.“; Käbisch 2004: „Sächsisches T.“; Peschke 2017, S. 132: „Sächsisches Kirchliches T.“ Wahrscheinlich richtig scheint „Sächsisches T.“ zu sein, denn das ist den Namen der Vereine „Sächsischer Taubstummenbund“ (1900) und „Verein Sächsisches Taubstummenheim in Zwickau“ (1917) am ähnlichsten. Der Zusatz „Kirchliches“ wurde erst in der Nachkriegszeit eingeführt, hielt sich bis 2001 und war so sicher den Autoren geläufiger als der ursprüngliche.
  13. Papenfuß 2012, S. 71–72; Peschke 2017, S. 132
  14. Papenfuß 2012, S. 71.
  15. Peschke 2017, S. 234.
  16. Barth 2008, S. 36–37; Krauß 2002.
  17. Papenfuß 2012, S. 72–73.
  18. Papenfuß 2012, S. 73–74.
  19. Käbisch 2004. Die dort genannte Jahreszahl 1925 weicht von der des im Text verlinkten Artikels Reichsverbands der Gehörlosen Deutschlands (1927) ab.
  20. Peschke 2017, S. 228.
  21. a b c Krauß 2002.
  22. Käbisch 2004; Papenfuß 2012, S. 74–75.
  23. Barth 2008, S. 37; Käbisch 2004; Krauß 2002; Papenfuß 2012, S. 75.
  24. Papenfuß 2012, S. 75–76.
  25. Papenfuß 2012, S. 76. Demnach hieße er „Sächsisch Kirchl…“. Abgleiche mit historischen Postkarten und der allgemeinen Grammatik deuten darauf hin, dass tatsächlich die Silbe „-es“ vorhanden war.
  26. Barth 2008, S. 37; Papenfuß 2012, S. 76 (abweichender Zeitpunkt der Umbenennung: anlässlich Gochts Tod 1959); Peschke 2017, S. 200 (abweichender Name: „Hermann-Gocht-Heim“).
    Das Hermann-Gocht-Haus. In: Stadtmission Zwickau. Diakonie, archiviert vom Original (nicht mehr online verfügbar) am 25. Mai 2003; abgerufen am 23. Juli 2024.
  27. hkl: Kalenderblatt. In: Freie Presse Zwickauer Zeitung, 6. April 2016, S. 14 und 17. Juli 2017, S. 11.
  28. Zwickau: Hermann-Gocht-Haus feiert 100-jähriges Bestehen. In: Freie Presse. 1. Juli 2013, abgerufen am 24. Juli 2024.
    Rückblick – Jubiläumsfeier 100 Jahre Hermann-Gocht-Haus. In: Stadtmission Zwickau. Archiviert vom Original (nicht mehr online verfügbar) am 19. September 2013; abgerufen am 24. Juli 2024.
  29. Barth 2008, S. 8.
  30. Das Hermann Gocht-Haus auf stadtmission-zwickau.de, archiviert am 5. Januar 2007, abgerufen am 8. Oktober 2023.

Koordinaten: 50° 44′ 17,6″ N, 12° 28′ 30″ O