Dies ist ein als lesenswert ausgezeichneter Artikel.

Eisenbahnunfall von Eschede

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Dies ist eine alte Version dieser Seite, zuletzt bearbeitet am 24. Mai 2007 um 09:50 Uhr durch Gamba (Diskussion | Beiträge) (Chronologie des Unglücks: Grammatik). Sie kann sich erheblich von der aktuellen Version unterscheiden.
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Das ICE-Unglück von Eschede war ein Zugunglück am 3. Juni 1998 in der Nähe des niedersächsischen Ortes Eschede im Landkreis Celle. Bei der Entgleisung des ICE 884 „Wilhelm Conrad Röntgen“ kamen 101 Menschen ums Leben, 88 wurden schwer verletzt. Es war bis dahin das schwerste Zugunglück in der Geschichte der Deutschen Bahn AG sowie aller Hochgeschwindigkeitszüge weltweit.

Unglücksstelle in Eschede

Chronologie des Unglücks

Am Mittwoch, dem 3. Juni 1998, befand sich der ICE 884 „Wilhelm Conrad Röntgen“ mit ca. 200 km/h auf der Fahrt von München nach Hamburg etwa sechs Kilometer vor dem Ort Eschede, als um etwa 10:55 Uhr ein Radreifen an einem Rad der dritten Achse des ersten Wagens auf Grund von Materialermüdung brach. Der abgesprungene Radreifen wickelte sich ab, bohrte sich durch den Boden eines Abteils zwischen zwei Sitzen in Wagen 1 und blieb dort stecken.

Als der Zug um 10:58 Uhr etwa 200 Meter vor einer Brücke über die erste von zwei aufeinander folgenden Weichen fuhr, prallte der noch immer im Zugboden steckende Radreifen gegen einen Radlenker der ersten Weiche und riss diesen von den Schwellen; auch dieser bohrte sich durch den Zugboden, schoss im Vorraum (im Türbereich) bis in die Decke hinauf und hob dabei den Achsenkörper aus den Gleisen. Eines der entgleisten Räder traf auf die Weichenzunge der zweiten Weiche und stellte sie dabei um, so dass die hinteren Achsen von Wagen 3 auf ein Nebengleis geleitet wurden. Auf dem für viel geringere Geschwindigkeiten ausgelegten Weichenradius konnte sich der seitlich ausgelenkte Waggon nicht halten, schleuderte über das Nebengleis hinaus und gegen die Pfeiler einer Straßenüberführung, die dadurch einstürzte. Wagen 4, der durch das plötzliche Ausscheren von Wagen 3 bei immer noch 200 km/h ebenfalls entgleist war, unterquerte die einstürzende Brücke noch unversehrt und kam in einer Baumgruppe dahinter zum Stehen. Auch drei Bahnarbeiter, die sich unter der Brücke in vermeintliche Sicherheit begeben hatten, wurden getötet. Durch das Zerreißen der Waggonkupplungen wurden die automatischen Bremsen ausgelöst und die weitgehend unbeschädigten Wagen 1 bis 3 blieben vor dem Bahnhof Eschede stehen.

Die 200 Tonnen schwere Brücke der Rebberlaher Straße brach über der zweiten Hälfte des fünften Wagens zusammen und zerquetschte sie. Die folgenden Waggons schoben sich im Zickzack auf engem Raum, etwa der Länge eines einzigen Waggons, zusammen. Wagen 6, 7, der Servicewagen, der Speisewagen (BordRestaurant), der durch herabstürzende Teile auf 15 cm zusammengepresst wurde, sowie die drei Wagen 10 bis 12 der ersten Klasse wurden schwer beschädigt; der hintere Triebkopf entgleiste ebenfalls und fuhr auf den Trümmerberg auf.

In den Trümmern fand sich auch ein Auto. Es gehörte zu den drei erwähnten DB-Signaltechnikern und stand vor dem Unfall vermutlich auf der Brücke. Anfängliche Gerüchte, wonach das Auto als Auslöser des Unglücks angeblich von der Brücke gestürzt wäre, vom herannahenden ICE überfahren worden und dieser deswegen entgleist sein soll, stellten sich nach der Untersuchung des vorderen Triebkopfes als nicht haltbar heraus, da dieser keine Spuren einer solchen Kollision aufwies.

Der vordere Triebkopf stoppte durch eine automatische Bremsung erst zwei Kilometer hinter dem Bahnhof von Eschede. Der Triebfahrzeugführer gab später vor Gericht an, dass er vor Eschede nur einen plötzlichen Ruck verspürt und einen Leistungsabfall bemerkt habe. Nach dem Stillstand ging er daher zunächst von einem technischen Defekt aus und versuchte aus dem Führerstand heraus vergeblich, die ausgefallene Stromversorgung wiederherzustellen. Vom Unglück wurde er erst durch den Fahrdienstleiter des Bahnhofs Eschede informiert: „Du bist hier allein vorbeigefahren! Du bist entgleist!“. Nachdem er sah, was sich hinter ihm ereignet hatte, sank er in seinem Sitz zusammen und verließ erst nach zwei Stunden den Triebkopf. (Da er von einer Störung in der Stromversorgung ausgegangen war und bei einem Oberleitungsschaden der Triebkopf nicht verlassen werden darf, handelte er vorschriftsmäßig, als er den Triebkopf nicht verließ. Allerdings ist ein Schock als Grund wahrscheinlicher.)

Der Gegenzug aus Hamburg in Richtung Hannover hatte die Unfallstelle nur knappe zwei Minuten zuvor passiert. Der ICE 787 "Werdenfelser Land" fuhr an jenem 3. Juni eine Minute vor Plan durch Eschede; der ICE „Wilhelm Conrad Röntgen“ hatte dagegen eine Minute Verspätung. Wären beide Züge planmäßig gefahren, hätten sie sich möglicherweise auf Höhe der Brücke getroffen und das Ausmaß der Katastrophe hätte größer werden können.

Bewohner von Häusern nahe der Bahnstrecke trafen, durch den Lärm alarmiert, kurz nach dem Unfall an der Unglücksstelle ein und leisteten Hilfe. Die meisten Opfer waren aufgrund der abrupten Abbremsung von 200 auf 0 km/h sofort tot. Um 11:02 Uhr setzte die Polizei in Eschede einen Notruf ab. Um 11:07 Uhr wurde Großalarm ausgelöst, um 12.30 Uhr rief der Hauptverwaltungsbeamte des Landkreises Celle den Katastrophenfall aus.

Mehr als 1.000 Helfer vom Rettungsdienst, Feuerwehr, Technischem Hilfswerk, Polizei und Bundeswehr sowie 37 Unfallchirurgen, die auf einem Kongress im nahen Hannover versammelt waren, waren im Einsatz. Am 9. Juni wurde die Bahnstrecke zwischen Hannover und Hamburg wieder freigegeben. Tieflader transportierten den ersten Waggon des ICE zur RWTH Aachen, wo die Ursachenforschung fortgesetzt wurde. Nach einem Bericht der ZDF-Fernsehsendung Frontal wird am 23. Juni heftige Kritik an den Kontrollmethoden der Bahn geübt. Der Bericht hatte auf ein Fraunhofer-Gutachten von 1988 aufmerksam gemacht.

Die folgende Unfalluntersuchung wurde durch den Diplomingenieur Hans-Heinrich Grauf vom Eisenbahn-Bundesamt geführt. Am 17. Juni berichtete der damalige Verkehrsminister Matthias Wissmann im Verkehrsausschuss des Deutschen Bundestages über die vorläufigen Ergebnisse dieser Untersuchung.

Am 22. Juni fand in der Stadtkirche Celle der Staatsakt für die Opfer der Katastrophe mit mehr als 2000 Teilnehmern, darunter Bundespräsident Roman Herzog, Bundeskanzler Helmut Kohl und der Ministerpräsident des Landes Niedersachsen Gerhard Schröder, statt.

Ausmaße des Unglücks in Zahlen

Das Zugbegleitpersonal wurde bis auf einen Zugbegleiter und den Triebfahrzeugführer bei dem Unglück getötet. Der ICE war nur zu etwa einem Drittel ausgelastet.

Gesamtzahl an Reisenden:
(ICE 1: max. 651)
287
Verstorbene: 101
Schwer Verletzte: 88
Unverletzte: 106

Aufgaben der Hilfskräfte

Der Aufgabenschwerpunkt der Hilfskräfte lag im Wesentlichen bei:

  • Verletzten- und Leichensuche
  • Retten, Versorgen und Transport Verletzter
  • Betreuung Unverletzter
  • Registrierung der Verletzten und Toten
  • Bergung der Toten und Leichenteile
  • Betreiben von Behandlungsplätzen
  • Registrierung der Vermissten nach Angaben der Angehörigen
  • Betreuen der Angehörigen
  • Einrichten und Betreiben einer Notunterkunft
  • Versorgung aller am Einsatz Beteiligten
  • Helferbetreuung durch Kriseninterventionsteams

Ein Notarzt nach seinem Einsatz: „Niemals hatte ich nur annähernd einen Überblick über die tatsächlichen Ausmaße des Unglücks oder die Bergungs- und Rettungsmaßnahmen; doch glaube ich, dass die anderen mit der direkten Menschenrettung tätigen Kolleginnen und Kollegen auch nur jeweils einen kleinen Ausschnitt des Unglücks erlebten.“ Helfer berichteten, dass sie Tote, aber auch abgetrennte Gliedmaßen sowie Kinder bergen und wegtragen mussten. Beispiellos war bis dahin das Zusammenwirken aller am Einsatz Beteiligten. So wurde besonders betont, dass ehrenamtlichen Helfern von hauptamtlich tätigen Rettungsassistenten hohe Anerkennung entgegengebracht wurde. Wurde doch die Arbeit bei bisherigen Unglücksfällen fast ausschließlich durch professionelle Kräfte getan, während Ehrenamtliche kaum zum Einsatz kamen. Diese Situation zeigte, dass ehrenamtliche Führungskräfte, Helferinnen und Helfer ein Bindeglied in der Rettungskette bei Großschadensereignissen sind.

Da anfangs Verbandmittel, Infusionen und Einwegmaterialien sehr schnell aufgebraucht waren, musste weiteres Material nachgeführt werden. Rund um die Uhr waren Helfer zum Teil sieben Tage im Einsatz. Regelmäßig wurden sie abgelöst, konnten sich für einige Stunden ausruhen. Ab dem dritten Tag wurde der Leichengeruch fast unerträglich, die Einsatzkräfte konnten nur noch mit Mundschutz arbeiten. In der hannoverschen Gerichtsmedizin hatte eine Spezialeinheit des Bundeskriminalamtes mit der Identifizierung der Leichen begonnen.

Unabhängig vom Katastrophenort wurde eine zentrale Auskunfts- und Vermisstenstelle unter einer einheitlichen Telefonnummer betrieben. Dabei kam GAST/EPIC (GAST=Gemeinsame Auskunftsstelle; EPIC=Emergency Procedures Information Centre) zum Einsatz.

Kommunikationsprobleme der Rettungskräfte

In der ersten Einsatzphase waren sowohl der BOS-Funk der Hilfsorganisationen, aber auch die kommerziellen Mobilfunknetze (D1, D2 und C-Netz) völlig überlastet. Eine Kommunikation war weder untereinander noch nach außen möglich. Durch Feldkabelbau sowie durch Abschaltung der Mobiltelefone, die ja ohnehin vergeblich auf Netzsuche waren, ließen sich die Probleme im weiteren Einsatzverlauf lösen.

Ursachen

Die im Folgenden aufgelisteten Hintergrundinformationen entsprechen dem heutigen Wissensstand und nicht dem damaligen Kenntnisstand der Beteiligten.

Technische Ursachen

Nahaufnahme eines ICE-1-Drehgestells, seit dem Unglück wieder mit Monobloc-Rädern

Der ICE 1 war ursprünglich mit Vollrädern ausgestattet gewesen, so genannten Monobloc-Rädern, die in einem Stück gefertig werden. Im praktischen Betrieb stellte sich aber schnell heraus, dass es unter bestimmten Umständen auf Grund von ungleichmäßiger Abnutzung, Materialermüdung und Unwuchten zu Resonanz-Erscheinungen kommen konnte. Insbesondere im Speisewagen beklagten sich Reisende immer wieder über lautstarkes Vibrieren des Geschirrs und wandernde Gläser. Auf der Suche nach Abhilfe wurden Ideen entwickelt, entweder die Fahrbahn zu ändern, eine Luftfederung einzusetzen oder die Federung der Fahrgestelle durch gummigefederte Einringräder zu verbessern, wie sie schon bei der langsamsten Art des Schienenverkehrs, im Nahverkehr bei Straßenbahnen, erfolgreich im Einsatz waren. Aus Kostengründen entschied man sich für den günstigeren Umstieg auf Radreifen. Das Rad Bochum 84/BR 64 war eine vollkommene Neuentwicklung der DB. Mit ihm gehörte das rumpelnde Restaurant der Vergangenheit an. Das besondere bei diesen Rädern ist, dass zwischen dem außen liegenden Radreifen und dem Radkern eine 20 Millimeter starke Zwischenschicht aus Hartgummi eingebettet ist, so dass im Gegensatz zum klassisch ohne Spiel aufgesetzten Radreifen eine gedämpfte Bewegung zwischen Reifen und Rad möglich wird. Diese für den Hochgeschwindigkeitsverkehr neuartige Bauform wurde jedoch vor ihrem serienmäßigen Einsatz im ICE nicht in Simulatoren bei Geschwindigkeiten von über 200 Kilometer pro Stunde dauererprobt.

Da bis zu jener Zeit in Deutschland keine Anlage gebaut wurde, um die Bruchgrenze eines Rades praktisch zu messen, musste man sich bei der Dimensionierung und der Verschleißdauer auf theoretische Überlegungen beschränken. Vor und nach der Markteinführung wurden keine ausreichenden Labor- und Fahrversuche durchgeführt. Über mehrere Jahre hinweg bewiesen die Räder ihre grundsätzliche Praxistauglichkeit, ohne dass es Probleme gegeben hätte. Nach dem Unglück führte das für die Katastrophenanalyse beauftragte Fraunhofer-Institut (Darmstadt) einen Belastungstest durch, der die Verschleißzeit abschätzte. Schon 1992 hatte das Fraunhofer-Institut den Bahnvorstand vor Radreifenbrüchen gewarnt. Mehrere Monate vor dem Unglück hatte der hannoversche Verkehrsbetrieb üstra AG Radreifenbrüche bei seinen Straßenbahnen weit vor der erwarteten Verschleißzeit festgestellt und daraufhin die Austauschintervalle verkürzt. Gleichzeitig war an alle Benutzer baugleicher Reifenräder und die Deutsche Bahn AG eine Warnung vor verfrühten Ermüdungserscheinungen dieser Konstruktion verschickt worden. Da es jedoch im Detail erhebliche konstruktive Unterschiede zwischen den Nahverkehrsrädern und den Rädern des ICE gab, wurde ein systembedingter Zusammenhang seitens der Bahn nicht erkannt und aus der Warnung keine Konsequenzen für den Hochgeschwindigkeitsverkehr gezogen.

Wie sich später im Rahmen der Untersuchung herausstellte, wurde bei der statischen Berechnung der Radsätze nicht genügend auf dynamisch auftretende, wiederkehrende Kräfte geachtet, so dass die Räder und die maximal zulässige Abnutzung nicht mit ausreichendem Sicherheitsaufschlag dimensioniert waren. Hierbei spielen folgende Effekte eine Rolle (Aufzählung ohne qualitative Wertung):

  • Der Radreifen wird bei jeder Umdrehung durchgewalkt (beim ICE 500.000 Mal pro Tag), was das Material zusätzlich beansprucht.
  • Im Gegensatz zum Monobloc-Rad können sich beim Radreifen auch kleinste Risse auf der Innenseite bilden, die nur schwer zu diagnostizieren sind, im Radreifen aber zu Spannungsspitzen führen.
  • Je dünner ein Radreifen durch Verschleiß wird, desto mehr vergrößern sich die Spannungen und Risse im Reifen.
  • Flachstellen und Kerben erhöhen durch den unrunden Lauf des Rades die wirksamen Kräfte im Radreifen erheblich und verschleißen ihn noch schneller.

Probleme mit Radreifen haben eine lange Geschichte, die in die Anfänge des Eisenbahnverkehrs zurückreicht, wie das Beispiel der Entgleisung der „Amstetten“ zeigt.

Strukturelle Probleme

  • Die mechanischen Besonderheiten von Radreifen waren nicht ausreichend berücksichtigt und erläutert worden, daher galten die eingesetzten Räder bei den Beteiligten als dauerfest und bruchsicher, weswegen bahnintern Unrundheiten als wenig dringlich behandelt wurden.
  • Es war nicht ausreichend transparent, welche Vorgaben der Sicherheit und welche lediglich dem Komfort der Fahrgäste dienten.

Wartungsfehler

Insgesamt acht Mängelmeldungen über unruhigen Lauf oder Flachstellen wurden in den zwei Monaten vor dem Unglück von den Zugbegleitern über den später betroffenen Zugabschnitt abgegeben (im Bordcomputer gespeichert). Diese wurden aber nicht automatisch als Sicherheitsproblem bewertet und ausgewertet. Bei der letzten Inspektion des Zuges unmittelbar vor dem Unglückstag hatte der betreffende Radreifen eine zu große Höhenabweichung (0,7 bei maximal erlaubten 0,6 Millimetern), die auch festgestellt und protokolliert wurde. Trotzdem wurde der Radsatz entgegen den Instandsetzungsrichtlinien nicht ausgetauscht, da hier kein Sicherheitsrisiko vermutet wurde. Einen Tag vor dem Unglück betrug die Unwucht bereits 1,1 Millimeter.

Die zuständige Wartungsstelle in München hatte die Inspektionen der Räder der ICE-Züge lediglich mit Leuchtstofflampen durchgeführt. Diese traditionelle Inspektionsmethode deckt allenfalls grobe Beschädigungen auf und wurde bereits an langsameren Zügen angewandt. Feine Risse und Ermüdungserscheinungen kann man an Radreifen jedoch nur mit der ebenfalls verfügbaren und ursprünglich vorgeschriebenen Ultraschall-, Lichtprofil- und Messbalken-Prüfung (ULM) erkennen. Diese Methode wurde ab 1994 nicht mehr angewandt, weil die Ultraschall-Messgeräte sehr oft fälschlicherweise Defekte anzeigten, obwohl keine vorhanden waren. Experten der zerstörungsfreien Prüfung mit Ultraschall werfen der Bahn vor, den Einsatz hochwertigerer Ultraschallgeräte jahrelang versäumt zu haben, weil diese teurer waren als die ULM-Geräte.

Die für das Unglück verantwortlichen Räder wurden bei drei unabhängigen Messungen als schadhaft angezeigt und trotzdem nicht ausgewechselt. Nach dem Unglück wurden die Räder noch in Betrieb befindlicher ICE-Züge untersucht und dabei mindestens drei weitere Reifen mit Rissen entdeckt. Experten behaupten inzwischen, dass Innenrisse nicht von außen nach innen entstehen, sondern von innen her. Deshalb können sie nur durch Messungen aus dem Inneren des Rads frühzeitig festgestellt werden.

Der 1995 von Maschinenbaumeister Gottfried Birkl eingereichte Lösungsvorschlag einer mobilen Radreifenüberwachung durch Messfolien im Inneren der Radreifen war seinerzeit aus Kostengründen abgelehnt worden. Diese Messfühler hätten Risse oder zumindest eine Verdrehung des Radreifens während der Fahrt festgestellt und durch Zwangsbremsung schlimmere Folgen eines Bruchs verhindern können.

Messwerte und Vorgaben

Vor dem Unglück durfte ein Radreifen von 920 Millimetern (Neuzustand) bis auf 854 Millimeter abgefahren werden. Der gebrochene Radreifen hatte 1,789 Millionen Kilometer Laufleistung und eine Dicke von 862 Millimeter. Das Darmstädter Fraunhofer-Institut kam im Rahmen eines nach dem Unfall erstellten Gutachtens zur Erkenntnis, dass nur ein Radreifen mit 890 Millimeter und einer jährlichen Inspektion auf Innenrisse noch dauerfest ist. Im Jahre 1997 ergaben Prüfprotokolle anderer Räder bereits bei 60.000 Kilometern Laufleistung viele Fehler wie etwa Unrundheiten. Das für den Unfall verantwortliche Rad lief fast 30 Mal so lange.

Die zulässige Höhenabweichung eines Radreifens betrug nach damaligen Bahnvorgaben 0,6 Millimeter. Die zuletzt gemessene Abweichung am Rad betrug 1,1 Millimeter.

Menschliches Versagen

Nach dem Unglück kam auch die Frage auf, ob oder in wie weit menschliches Versagen zum Verlauf beigetragen hat. Ein Fahrgast aus dem Abteil in Wagen 1, in dem der abgesprungene Radreifen durch den Boden geschossen war, meldete den Vorfall zwar einem Zugbegleiter in Wagen 3, gab aber nur eine sehr ungenaue Schilderung ab. Sowohl der Zugbegleiter als auch der Fahrgast hätten das Unglück einfach durch Betätigung der Notbremse verhindern können, taten es aber nicht. Aus diesem Grund erstatteten Hinterbliebene gegen den Zugbegleiter Anzeige. Sein Handeln war aber vorschriftsgemäß, da er sich erst selbst vom Schaden überzeugen musste, weswegen an dieser Stelle kein menschliches Versagen vorliegt. Noch bevor beide Personen Wagen 1 erreichten, was (nach Aussage) bis zu einer Minute dauerte, war der Zug entgleist und die Katastrophe geschehen.

Konsequenzen

Juristisch

Im August 2002 erhob die Staatsanwaltschaft wegen fahrlässiger Tötung Anklage gegen zwei Beamte und einen Ingenieur der Deutschen Bahn (in Deutschland können nur natürliche Personen strafrechtlich belangt werden, keine Unternehmen wie die DB). Über 70 Hinterbliebene wurden durch einen Berliner Anwalt vertreten. Gutachter aus der ganzen Welt inklusive Japan wurden beauftragt, warfen sich aber gegenseitig im Laufe des Prozesses falsche Ansätze und Ergebnisse vor. Das Verfahren wurde nach 53 Verhandlungstagen im April 2003 gegen Zahlung einer Geldbuße von jeweils 10.000 € eingestellt.

Die DB schlug zuerst einen Betrag von 30.000 DM für jeden Getöteten vor, was von den Hinterbliebenden als „Witz“ empfunden wurde. Später gab das Unternehmen an, insgesamt 25 Mio. € gezahlt zu haben.

Technisch

Die Bahn hat innerhalb weniger Wochen alle gummigefederten Räder durch Vollstahlräder ausgetauscht und die gummigefederten Räder trotz ihrer technischen Vorteile bisher nicht wieder eingeführt. Außerdem wurde das gesamte Bahnnetz in Deutschland daraufhin untersucht, inwieweit es Weichen vor kritischen Engstellen gibt. Bei neu erstellten Schnellfahrstrecken wird darauf geachtet, vor Brücken und ähnlichen Objekten keine Weichen mehr einzubauen.

Die auffälligste Veränderung an vielen ICE 1 ist die große Zahl zusätzlicher Notausstiegfenster, die nach dem Unglück von Eschede (seit der zweiten Jahreshälfte 2003) verstärkt in die Wagen eingebaut wurden; so ist nun beispielsweise auch in jedem Abteil ein solches Notausstiegfenster vorhanden (vorher nur im Großraumbereich). Diese sind von innen mit einem Nothammer an ihrer Sollbruchstelle (roter Punkt) zertrümmerbar und sollen Rettungskräften ermöglichen, von außen ohne schwere Äxte und Diamanttrennscheiben – wie zuvor noch notwendig – in die Wagen zu gelangen.

An der Unglücksstelle in Eschede wurde eine neue, stützenfreie Brücke gebaut. Die alte Brücke hatte Pfeiler außen, links und rechts von den Gleisen. Wäre die alte Brücke stützenfrei gewesen, hätte es eventuell weniger Opfer gegeben. Die Oberleitungen und Gleise wurden auf 1,5 Kilometer repariert. Das Ausweichgleis ist nach wie vor vorhanden und dementsprechend sind auch die drei Weichen an fast denselben Stellen wie zuvor.

Auswirkungen auf das Personal

Der Triebfahrzeugführer des ICE „Wilhelm Conrad Röntgen“ führte nach dem Unglück von Eschede nie wieder einen Zug und ist mittlerweile pensioniert.

Der einzige Überlebende des Zugbegleitpersonals im Zug ist ein (2002) 54 Jahre alter Zugbegleiter. Im Gerichtsprozess 2002 beschreibt er den Ablauf des Unglücks so: „Beim Aufprall wurde ich durch die Luft geschleudert und am Arm verletzt. [...] Danach habe ich noch Passagiere aus dem Zug geholt und den Verletzten geholfen. [...] Ich hielt mit meinem gesunden Arm noch die Infusionsflaschen.“ Nach dem Unglück versuchte er seine Arbeit wieder aufzunehmen, die Erinnerungen ließen ihn aber nicht los. Er kann seinen Beruf nicht mehr ausüben und ist Frühpensionär.

Einsatz Notfallseelsorge/Auswirkungen

Das Zugunglück von Eschede war das erste große Unglück, bei dem im großem Umfang Notfallseelsorge zum Einsatz kam. Zahlreiche Seelsorger waren in den Tagen nach dem Unglück vor Ort um Betroffene, Angehörige und Rettungskräfte zu unterstützen und zu begleiten. Durch diesen Einsatz ist die Notfallseelsorge einer breiteren Öffentlichkeit bekannt geworden. Federführend war hier das Kaiserslauterer Psychologenehepaar Jatzko, das auch schon nach dem Flugtagunglück von Ramstein tätig war.

Nach offiziellen Angaben gab es keine Suizide unter den Helfern.

Beeinträchtigungen des Bahnverkehrs

Nach dem Unglück kam es zu starken Beeinträchtigungen, da alle 59 verbleibenden ICE-Züge der ersten Generation durch die Untersuchungen oder die Umrüstung auf Monobloc-Räder ausfielen. Nachdem bei zehn Zügen keine Mängel festgestellt wurden, durften diese schon am Mittag des 5. Juni in den regulären Dienst zurückkehren und auch wieder ihre Höchstgeschwindigkeit von 280 km/h fahren. Das Servicepersonal, welches nach dem Unglück an vielen Bahnhöfen verstärkt wurde, stellte fest, dass die Reisenden trotz der vielen ausgefallenen Züge geduldig und verständnisvoll waren.

Am Samstag, dem 6. Juni, hielt der Zugführer den ICE 91 „Prinz Eugen“ nachmittags auf seiner Fahrt von Wien nach Hamburg in Seubersdorf an, nachdem er laute Rattergeräusche bemerkt hatte. Nach einer Sichtkontrolle durch den Lokführer eines entgegenkommenden Zuges fuhr der Zug nahezu im Schritt-Tempo weiter nach Neumarkt in der Oberpfalz. Dort wurden die Fahrgäste gebeten, auszusteigen und die Fahrt mit anderen Zügen fortzusetzen. Der ICE wurde leer nach Nürnberg überführt. Laut anschließender Untersuchung lag aber nur ein Schaden am Triebkopf vor. Gleiches passierte wenige Tage später beim ICE 682 „Amalienburg“, dessen Fahrgäste in einen nachfolgenden InterRegio umstiegen. Nach einer erneuten Untersuchung des Zuges wurde wieder ein Triebwerksschaden vermutet.

Nach zunächst deutlichen Einbußen im Fernverkehr liegt am 20. August 1998 der Umsatz der DB AG wieder über dem Vorjahresniveau.

Verbleib und Wiedereinsatz der Wagen

Nach dem ICE-Unglück vergab die Deutsche Bahn den Namen „Wilhelm Conrad Röntgen“ oder die Nummer 884 nicht erneut sondern ging nach dem Unglück dazu über, ihre ICE-Züge im Rahmen von ICE-Städtepartnerschaften auf Namen deutscher Städte (beispielsweise ICE „Hannover“) zu taufen.

Der Wiedereinsatz von Wagen oder Triebköpfen des Unglücks-ICEs ist nicht eindeutig geklärt, da sich darüber widersprüchliche Angaben finden. Da die zwei Triebköpfe (401 051-8 und 401 551-7) des Triebzuges 51 (Tz 51) sowie der Mittelwagen 2 (802 609-8) relativ unbeschädigt blieben, können sie durchaus noch im normalen Dienst sein. 401 051-8 wird als Reservetriebkopf eingesetzt und verkehrt im Wechsel in anderen Triebzügen. Da der Triebkopf 401 020-3 in Offenbach am Main ausbrannte ergibt sich hierdurch wieder eine runde Stückzahl. Eine genaue Zuordnung zu einem Triebzug ist schwer vorzunehmen, da durch die Modernisierung der ICE die Triebköpfe sehr oft durchgetauscht werden.Im Moment (Stand 24.05.07) ist er im TZ 04 verbaut. Der zweite Triebkopf (401 551-7) diente bis zur Ausmusterung am 1. November 2001 als Ersatzteilspender. Er ist (Stand: April 2006) auf dem Gelände des Ausbesserungswerks Nürnberg der Deutschen Bahn abgestellt.

Die beschädigten bis komplett zerstörten Mittelwagen wurden am 30. Juni 1998 (mit Ausnahme von Wagen 1) aus den Bestandslisten gestrichen. Wagen 1 (802 808-6) wurde erst Ende 2005, nach Abschluss der Gerichtsverfahren und Untersuchungen, für die Presse freigegeben (Zustand: kaum beschädigt, innen wie 1998). Er verbleibt in der THW Bundesschule Hoya und dient zukünftig Ausbildungszwecken. Der Rest, die Wagen 3 (802 311-1), 4 (802 374-9), 5 (802 340-0), 6 (802 373-1), 7 (802 037-2), der Servicewagen (803 008-2), das BordRestaurant (804 010-7), Wagen 11 (801 009-2), 12 (801 014-2) und 14 (801 806-1) sind beim Unglück größtenteils zerstört worden oder wurden nach Abschluss der Gerichtsverfahren und Untersuchungen verschrottet.

Gedenkstätte Eschede

Am Ort des Unglücks wurde am 11. Mai 2001 in Anwesenheit von rund 400 Angehörigen, Ehrengästen sowie zahlreichen Helfern und vielen Bürgern von Eschede eine Gedenkstätte eingeweiht. 101 Kirschbäume wurden neben den Gleisen vor der Brücke gepflanzt. Eine Treppe führt von dort nach oben zur Straße. Der Weg führt oben durch ein Tor, über die Straße und wird auf der anderen Seite in einigen Treppenstufen, die ins Nichts aufsteigen, fortgesetzt. Eine Gedenktafel mit allen Namen der Opfer befindet sich in der Mitte zwischen den Bäumen.

Gedenkstätte von oben
Gedenktafel mit allen Namen
Inschrift im Tor:
Am 3. Juni 1998 um 10.58 Uhr zerschellte
an dieser Stelle der ICE 884 "Wilhelm-
Conrad-Röntgen". 101 Menschen verloren
ihr Leben, ganze Familien wurden zerstört;
mehr als hundert Reisende wurden schwer
verletzt, viele tragen lebenslang an den
Folgen. Das Unglück hat die menschliche
Zerbrechlichkeit, Vergänglichkeit und
Unzulänglichkeit gezeigt. Beispielhaft und
aufopfernd haben Retter, Helfer und
Bürger des Ortes selbstlos eine schwere
Aufgabe angenommen, haben geholfen
und getröstet. Durch ihren Einsatz ist
Eschede auch ein Ort der Solidarität und
gelebter Mitmenschlichkeit geworden.


Inschrift auf der Gedenktafel:
Der Lebensweg dieser 101 Menschen
endete in der Zugkatastrophe von
Eschede.
Auf unergründliche Weise kreuzten und
vollendeten sich hier ihre Schicksale.
In das Leid und die Trauer um die
geliebten Menschen mischt sich
Dankbarkeit, ihnen im Leben nahe
gewesen zu sein.
Trost ist die Hoffnung:
Sie ruhen in Gottes Hand.


Literatur

  • Ewald Hüls (Hrsg.), Hans-Jörg Oestern (Hrsg.): Die ICE-Katastrophe von Eschede. Erfahrungen und Lehren. Eine interdisziplinäre Analyse. Springer, Berlin 1999, ISBN 3-540-65807-6
  • Christian Brauner, Willi Stadler (Hrsg.): Bewältigung größerer Schadensereignisse – Das ICE-Unglück Eschede. Villingen-Schwenningen 2002, ISBN 3-931778-28-2
  • Jan-Erik Hegemann: Die ICE-Katastrophe von Eschede – Der Einsatz. In: FeuerwehrMagazin. 1998, Nr. 9, Kortlepel, S. 32 ff., ISSN 0943-027X
  • Jutta Helmerichs, Jürgen Bengel, Kay Leonhardt, Matthias Stalmann, Regina Zingiser: Nachsorge für Einsatzkräfte bei ICE-Unglück in Eschede. In: Trauma-Opfer oder Helden. Hrsg. Knud Eike Buchmann und Max Hermanutz. Tagungsband Nr. 27 der Fachhochschule Villingen Schwenningen, Hochschule der Polizei
  • Jürgen Hörstel, Hans-Joachim Ritzau u. a.: Fehler im System. Eisenbahnunfälle als Symptom einer Bahnkrise. Ritzau Verlag Zeit und Eisenbahn, Pürgen 2000 (Schatten der Eisenbahngeschichte, Bd. 5), ISBN 3-921304-33-4
  • Erich Preuß: Eschede, 10 Uhr 59. Die Geschichte einer Eisenbahn-Katastrophe. GeraNova Zeitschriftenverlag, 2002, ISBN 3-932785-21-5
  • Markus Reiter: Eschede und danach. Erfahrungen aus der Arbeit des Ombudsmannes der Deutschen Bahn. Schäffer-Poeschel, Stuttgart 2005, ISBN 3-7910-2406-X

Quellen


Vorlage:Koordinate Artikel