Jacques Rancière

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Jacques Rancière (* 10. Juni 1940 in Algier) ist ein französischer Philosoph, der vor allem für seine Arbeiten zur politischen Philosophie und zur Ästhetik bekannt ist. Von 1969 bis 2000 lehrte er an der Universität Paris VIII (Vincennes und Saint-Denis).

Jacques Rancière während einer Konferenz an der Universidad Internacional de Andalucía, in Sevilla, Spanien, 2006

Leben und Werk

Frühe Jahre

Jacques Rancière, 1940 in Algier geboren, hat von 1960 bis 1965 Philosophie an der Ecole Normale Supérieure studiert, wo er 1963 mit einer Arbeit über den jungen Marx das Diplôme d'études supérieures und 1964 die Aggregation erhält. Ab 1964 nimmt er an Louis Althussers Seminar über Das Kapital teil, woraus ein erster auch ins Deutsche übersetzter Beitrag hervorgeht: „Der Begriff der Kritik und die Kritik der politischen Ökonomie“. Nach einem Jahr als Philosophielehrer an einem Pariser Gymnasium beginnt Ranciére 1966 am CNRS mit einer Doktorarbeit über Feuerbach, die er jedoch 1968 abbricht. Ausgewählt von Michel Foucault wird Rancière 1968 zum Assistenten an der Universität Paris VIII (damals in Vincennes) ernannt. An dieser Universität, wo er 1972 Maître-Assistant, 1985 Maître de Conférence und 1990 Professor wird, hat Rancière, von einigen Gastprofessuren abgesehen, bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2000 gelehrt.

Nach dem Bruch mit Althusser 1968 war er vor allem als Aktivist einer maoistischen Gruppe tätig. 1972 zieht sich Rancière jedoch, unter dem Einfluss von Foucault, in die Archive zurück. Diese historische Recherche mündet 1980 in die Dissertation, die unter dem Titel „La Nuit des Prolétaires: Archives du rêve ouvrier“ veröffentlicht wurde.

Von 1986 bis 1992 fungiert Rancière zudem als Programmdirektor am Collège International de Philosophie.

La Mésentente/Das Unvernehmen

La Mésentente (1995), der bis heute wohl einflussreichste Text Rancières, stellt den Versuch dar, Politik als eine Kette von Subjektivierungen zu denken, als Praxis des Streits, die ihren Anfang bereits in der griechischen Polis nimmt. Der Kampf zwischen Arm und Reich, zwischen Mächtigen und von der Macht Ausgeschlossenen ist demnach nicht ein Problem, welches es qua Politik zu lösen gilt, sondern Politik selbst. Indem der gesellschaftliche Anteil der Anteillosen („la part des sans-part“) sich seiner Position bewusst wird und für seine Rechte eintritt, werden soziale Strukturen revidiert. Dies bedeutet u. a. auch eine Absage an den vordergründigen Konsens einer medialisierten Politik.

Wichtig ist auch der Begriff der Polizei, wie Rancière ihn definiert, nämlich als direkten Gegensatz zur Politik, als Festschreibung der Ungleichheit in der Verteilung der gesellschaftlichen Anteile: Dieser legt die Beziehungen der Subjekte zueinander fest, leugnet die Existenz der Anteillosen, die Existenz eines Unmessbaren. Politischer Streit ist der Bruch mit einer solchen Ordnung.

Arbeiten zur Ästhetik

Seit Beginn der 1990er-Jahre beschäftigt sich Rancière vor allem mit Fragen der Ästhetik; er schreibt u. a. Texte über Malerei und Filmtheorie. Sein Ansatzpunkt hierbei ist eine Kritik des Prinzips der Repräsentation, wie es auf AristotelesMimesis-Begriff fußt. Mit dem Entstehen einer modernen Literatur im 19. Jahrhundert, so Rancière, kam es auch zu einer Veränderung der Wahrnehmung, einer Emanzipation des geschriebenen Wortes von jedweder Abbildungsfunktion. In diesem Spannungsfeld verortet er das Aufkommen des Mediums Film, welches sowohl Repräsentation als auch enthierarchisierter Diskurs ist. Er kritisiert die Filmtheorie von Gilles Deleuze und hält dessen Trennung von Bewegungs- und Zeitbild für unhaltbar.[1]

Le destin des images (2003) unterstreicht die sinnliche Qualität von Bildern: Sie sind nicht nur Darstellung (Repräsentation), sondern auch unmittelbar erfahrbar, keiner Ordnung unterworfen. Gerade solche Überlegungen sind es, die Rancière zu einer Popularität in der Theater- und Medienwissenschaft verhelfen. So beruft sich Hans-Thies Lehmann als ein Theoretiker des postdramatischen Theaters in seinen Essays wiederholt auf Jacques Rancière.

Schriften

Monografien

  • Le concept de critique et la critique de l´économie politique dès 'Manuscripts' de 1844 au 'Capital.' Maspéro, Paris 1965
    • Deutsche Ausgaben: Der Begriff der Kritik und die Kritik der politischen Ökonomie. Merve, Berlin 1972
Louis Althusser et al.: Das Kapital lesen. Westfälisches Dampfboot, Münster 2015, ISBN 978-3-89691-952-6.
  • La leçon d’Althusser. Gallimard, Paris 1974
  • Wider den akademischen Marxismus. Merve, Berlin 1975, ISBN 3-920986-72-5.
  • La Nuit des prolétaires. Archives du rêve ouvrier. Fayard, Paris 1981, ISBN 2-213-00985-6.
    • Deutsche Ausgabe: Die Nacht der Proletarier. Archive des Arbeitertraums. Turia + Kant, Wien/Berlin 2013, ISBN 978-3-85132-699-4.
  • Le Philosophe et ses pauvres. Fayard, Paris 1983 u. Neuausgabe: Flammarion, Paris 2010, ISBN 2-08-123537-4.
  • Louis-Gabriel Gauny. Le philosophe plébéien. Presses Universitaires, Vincennes 1985.
  • Le Maître ignorant. Cinq leçons sur l’émancipation intellectuelle. Fayard, Paris 1987
    • Deutsche Ausgabe: Der unwissende Lehrmeister. Fünf Lektionen über die intellektuelle Emanzipation. 2. Auflage. Passagen Verlag, Wien 2009, ISBN 978-3-85165-885-9.
  • Aux bords du politique. Osiris, Paris 1990
  • Courts voyages au pays du peuple. Le Seuil, Paris 1990, ISBN 0-8047-3682-0.
  • Les Noms de l'histoire. Essai de poétique du savoir. Le Seuil, Paris 1992
    • Deutsche Ausgabe: Die Namen der Geschichte. Fischer, Frankfurt am Main 1994; Neuausgabe: Die Wörter der Geschichte, übers. v. Eva Moldenhauer, König, Walther 2015.
  • La Mésentente: Politique et philosophie. Galilée, Paris 1995
  • Mallarmé, la politique de la sirène. Hachette, Paris 1996.
  • zusammen mit Alain Badiou: Politik der Wahrheit. Turia + Kant, Wien 1996, 2. Aufl. 2013, ISBN 978-3-85132-489-1.
  • zusammen mit Jean-Louis Comolli: Arrêt sur histoire. Editions du Centre Pompidou, Paris 1997
  • La chair des mots: politiques de l`écriture. Galilée, Paris 1998
    • Deutsche Ausgabe: Das Fleisch der Worte. Politik(en) der Schrift. Diaphanes, Zürich/Berlin 2010, ISBN 978-3-03734-084-4.
  • La parôle muette. Essai sur les contradictions de la littérature. Hachette, Paris 1998
    • Deutsche Ausgabe: Die stumme Sprache. Essay über die Widersprüche der Literatur. Diaphanes, Zürich/Berlin 2010, ISBN 978-3-03734-111-7.
  • Le Partage du sensible: Esthétique et politique. La Fabrique, Paris 2000
    • Deutsche Ausgabe: Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien. b_books, Berlin 2006, ISBN 3-933557-67-4.
  • L'inconscient esthétique. Galilée, Paris 2001
    • Deutsche Ausgabe: Das ästhetische Unbewusste. Diaphanes, Zürich 2006, ISBN 3-935300-89-1.
  • La fable cinématographique. Le Seuil, Paris 2001
  • Les scénes du peuple. Horlieu, Lyon 2003
  • Le destin des images..La Fabrique, Paris 2003.
  • Malaise dans l’esthétique. Galilée, Paris 2004
    • Deutsche Ausgabe: Das Unbehagen in der Ästhetik. 2. Auflage. Passagen Verlag, Wien 2008, ISBN 978-3-85165-873-6.
  • Si l’art résiste à quelque chose? 2004
  • La haine de la démocratie. La Fabrique, Paris 2005
    • Deutsche Ausgabe: Der Hass der Demokratie. August, Berlin 2011
  • Chronique des temps consensuels.. Le Seuil, Paris 2005
  • Politique de la littérature. Galilée, Paris 2007
  • La parole ouvrière. Neuauflage. La Fabrique, Paris 2007
  • Zehn Thesen zur Politik. Diaphanes, Zürich/Berlin 2008, ISBN 978-3-03734-031-8.
  • Le spectateur émancipé. La Fabrique, Paris 2008, ISBN 2-913372-80-5
  • Et tant pis pour les gens fatigués. Entretiens, Editions Amsterdam, Amsterdam 2009, ISBN 2-35480-056-8.
    • Deutsche Ausgaben:
  1. Und die Müden haben Pech gehabt. Interviews 1976−1999. Passagen, Wien 2012, ISBN 978-3-7092-0021-6.
  2. Die Wörter des Dissenses. Interviews 2000−2002. Passagen, Wien 2012, ISBN 978-3-7092-0055-1.
  3. Das Volk und seine Fiktionen. Interviews 2003−2005. Passagen, Wien 2013, ISBN 978-3-7092-0073-5.
  4. Die Erfindung des Möglichen. Interviews 2006−2009. Passagen, Wien 2014, ISBN 978-3-7092-0120-6.

5. Die Methode der Gleichheit. Gespräch mit Laurent Jeanpierre und Dork Zabunyan" Passagen, Wien 2014,ISBN 978-3-7092-0141-1

  • Moments politiques, Interventionen 1977−2009. Diaphanes, Zürich 2011, ISBN 978-3-03734-146-9.
  • Les écarts du cinéma. La Fabrique, Paris 2011
  • Aisthesis. Scènes du régime esthétique de l'art. Galilée, Paris 2011, ISBN 978-2-7186-0852-5.
  • Der verlorene Faden. Essays zur modernen Fiktion. Übersetzt von Richard Steurer-Boulard. Passagen, Wien 2015, ISBN 978-3-7092-0160-2.
  • Modern Times - Essays on Temporality in Arts and Politics. Multimedijalni institut, Zagreb 2017,  ISBN 978-953-7372-31-6

Herausgeber

  • zusammen mit Alain Faure: La parole ouvrière, 1830/1851. Paris 1976
  • L’empire du sociologue. La Découverte, Paris 1984
  • Esthétiques du peuple. La Découverte, Paris 1985

Aufsätze

  • Who Is the Subject of the Rights of Man? In: South Atlantic Quarterly 103 (2004), Nr. 2/3, S. 297–310
    • Deutsche Ausgabe: Wer ist das Subjekt der Menschenrechte? In: Raimondi Menke (Hrsg.): Die Revolution der Menschenrechte. Suhrkamp, Berlin 2011, ISBN 978-3-518-29588-5.
  • Le concept d’anachronisme et la verité de l’historien In: L’inactuel, Nr. 6, Herbst 1996, S. 53–68.
    • Deutsche Ausgabe: Der Begriff des Anachronismus und die Wahrheit des Historikers. In: Eva Kernbauer (Hg.): Kunstgeschichtlichkeit. Historizität und Anachronie in der Gegenwartskunst. Fink, Paderborn 2015, S. 33–50.

Interviews

Literatur

  • Aristotelis Agridopoulos: Philosophische Reflexionen zur Postdemokratie mit Jacques Rancière. In: Politische Bildung in der Postdemokratie. Zeitschrift Politik Unterrichten, Jg. 30, Heft 1, DVPB Niedersachsen 2015, S. 5–10.
  • Friedrich Balke, Harun Maye, Leander Scholz (Hrsg.): Ästhetische Regime um 1800. Wilhelm Fink, München 2009, ISBN 978-3-7705-4743-2.
  • Antonia Birnbaum: Die unbestimmte Gleichheit. Jacques Rancières Entwurf einer Ästhetik der Politik. In: Joseph Jurt (Hrsg.): Von Michel Serres bis Julia Kristeva. Freiburg im Breisgau 1999 (S. 193–209).
  • Oliver Davis: Jacques Rancière. Eine Einführung. Turia + Kant, Wien/Berlin 2014, ISBN 978-3-85132-737-3.
  • Peter Engelmann (Hrsg.): Philosophien: Gespräche mit Foucault, Derrida, Lyotard, Ricoeur, Lévinas, Descombes, Axelos, Glucksmann, Rancière, Serres. Edition Passagen, Wien 1985.
  • Oliver Davis (Hg.): Jacques Rancière. Polity Press, Cambridge 2010, ISBN 978-0-7456-4654-1.
  • Oliver Davis: Rancière now. Current perspectives on Jacques Rancière. Polity Press, Cambridge 2013, ISBN 978-0-7456-6257-2.
  • Roberto De Gaetano (Hrsg.): Politica delle immagini. Su Jacques Rancière. Pellegrini, Cosenza 2011, ISBN 978-88-8101-740-9.
  • Uwe Hebekus/Jan Völker: Neue Philosophien des Politischen zur Einführung. Junius, Hamburg 2012, ISBN 978-3-88506-663-7.
  • Nick Hewitt Badiou, Balibar, Rancière: Re-thinking Emancipation. Continuum, London 2007, ISBN 978-0-8264-9861-8.
  • Andreas Hetzel: Der Anteil der Anteilslosen. Jacques Rancières Versuch einer Neubestimmung der politischen Philosophie. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Heft 2 (S. 322–326), 2004.
  • Jens Kastner, Ruth Sonderegger (Hg.): Pierre Bourdieu und Jacques Rancière. Emanzipatorische Praxis denken. Turia + Kant, Wien/Berlin 2014, ISBN 978-3-85132-754-0.
  • Charlotte Nordmann: Bourdieu/Rancière. La politique entre sociologie et philosophie. Editions Amsterdam, Paris 2006, ISBN 2-915547-23-8.
  • Drehli Robnik, Thomas Hübel, Siegfried Mattl (Hg.): Das Streit-Bild. Zu Film, Geschichte und Politik bei Jacques Rancière. Mit zwei Texten von Jacques Rancière ("Die Geschichtlichkeit des Films" und "Die neuen Fiktionen des Bösen"). Turia + Kant, Wien/Berlin 2010, ISBN 978-3-85132-589-8.
  • Drehli Robnik: Film ohne Grund. Filmtheorie, Postpolitik und Dissens bei Jacques Rancière. Turia + Kant, Wien/Berlin 2010, ISBN 978-3-85132-618-5.
  • Mark Robson (Hrsg.): Jacques Rancière: Aesthetics, Politics, Philosophy. Edinburgh University Press, Edinburgh 2004 (= Paragraph 28:1.) ISSN 0264-8334
  • Christian Ruby: L’interruption. Jacques Rancière et la politique. La Fabrique, Paris 2009.
  • Leander Scholz: Ästhetik und Vernunft. Jacques Rancières politische Philosophie, in: Dietmar Kammerer (Hg.): Vom Publicum. Das Öffentliche in der Kunst, Bielefeld: Transcript 2012 (=Image; Bd. 19), S. 197–221.
  • Nora Sternfeld: Das pädagogische Unverhältnis. Lehren und lernen bei Rancière, Gramsci und Foucault. Turia + Kant, Wien 2009 ISBN 978-3-85132-530-0.
  • Wetzel, Dietmar J./Claviez, Thomas: Zur Aktualität von Jacques Rancière. Einleitung in sein Werk. Springer Vs, Wiesbaden 2016. ISBN 978-3-531-16700-8.

Siehe auch

Weblinks

Commons: Jacques Rancière – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. Katharine Wolfe: From Aesthetics to Politics: Rancière, Kant and Deleuze, abgerufen am 11. Juni 2016.