Neocharismatische Bewegung

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Die Neocharismatische Bewegung[1][2] ist eine teilweise christlich-fundamentalistische[3][4] Strömung im Christentum, die mit der evangelikalen, pfingstlichen und charismatischen Richtung verwandt ist. Andere Bezeichnungen sind: Dritte Welle[2] des Heiligen Geistes, Gemeindeaufbau-Bewegung, Gemeindegründungs-Bewegung. Die im angelsächsischen Sprachraum übliche Bezeichnung neo-pentecostal (neu-pfingstlerisch) ist eigentlich sachlich zutreffender, aber im Deutschen weniger geläufig.

Geschichte[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die Neocharismatische Bewegung begann in den 1980er Jahren mit der Gemeindeaufbau-Bewegung. Forschungen bezüglich Gemeindewachstum hatten Personen wie C. Peter Wagner und John Wimber zu der Erkenntnis gebracht, dass pfingstliche und charismatische Gemeinschaften wesentlich stärker wüchsen als nichtcharismatische. Die Gemeindeaufbau-Bewegung forderte daher die Einbeziehung der charismatischen Gaben des Heiligen Geistes in das Gemeindeleben, ohne zugleich die gesamte Theologie der Pfingstbewegung zu übernehmen.[5]

Lehre[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Wie die Pfingstbewegung und die charismatische Bewegung gehört auch die Neocharismatische Bewegung eindeutig zum evangelikalen Christentum und ist bewusst bibeltreu ausgerichtet. Zwar weist auch hier die Bibelauslegung teils große Parallelen mit der historisch-kritischen Methode auf, doch sind die Ergebnisse durchweg von anderen Grundannahmen geprägt.[6][7] In der Praxis sind Prophezeiungen und Eingebungen des Heiligen Geistes sehr wichtig. Dabei wird versucht, diese mit der Bibel zu stützen.[8]

Die Neocharismatische Bewegung nimmt in der Lehre eine Mittelposition zwischen dem pietistischen Evangelikalismus und der Pfingstbewegung ein: einerseits vertreten ihre Anhänger die Überzeugung, dass Geistesgaben auch heute noch eine wichtige Funktion im Gemeindeleben haben, andererseits praktizieren einige die pfingstliche Lehre von der Geistestaufe nicht. In Lehrfragen, insbesondere Streitpunkten zwischen Evangelikalismus und Charismatik, bleiben sie bewusst offen.[9]

Bei den Geistesgaben werden nicht nur die auffälligen Gaben wie Zungenrede, Prophetie und Krankenheilung betont,[9] sondern ebenso die nüchterneren wie Lehre, Leitung oder Hirtendienst. Im Gegensatz zu den synodalen Strukturen der klassischen Pfingstbewegung herrschen in der Neocharismatischen Bewegung hierarchische Organisationsformen vor: an der Spitze ein „geistlicher Leiter“, darunter die von ihm berufenen „Ältesten.“[10]

Das charakteristische Merkmal der Neocharismatischen Bewegung ist ihre Betonung der Gründung von neuen Gemeinden. Gemeindegründung gilt als die effektivste Methode der Evangelisation: Jeder Mensch soll in seiner Nähe eine Gemeinde finden, die ihn auch sozial anspricht.[11][12]

Die Neocharismatische Bewegung ist von Anfang an offen gewesen gegenüber neuen Trends, die missionarische Erfolge versprechen. So wurde um 1990 in Teilen der Bewegung die Idee der geistlichen Kriegsführung aufgenommen, eine von den meisten nicht-charismatischen Christen abgelehnte Lehre, die davon ausgeht, dass die Erde von örtlich wirksamen Dämonen beherrscht wird, die durch Gebete, Märsche und Proklamationen der Herrschaft Christi vertrieben werden müssten.[13] In der Mitte der Neunzigerjahre wurde in vielen Neocharismatischen Gemeinden der Torontosegen praktiziert.[14] Aktuelle Trends sind das Konzept der Zellengemeinde und die Dienende Evangelisation.

Praxis[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Gemeinden, die aus der Neocharismatischen Bewegung entstehen, sind oft deutlich auf bestimmte Altersgruppen, Schichten oder Ethnien ausgerichtet und richten sich in der Gestaltung ihrer Gottesdienste und ihrer sonstigen gemeindlichen Praxis nach deren Bedürfnissen.

Organisation[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die Neocharismatische Bewegung ist nicht einheitlich organisiert. Es gibt eine Vielzahl unabhängiger, als eingetragene Vereine organisierte Gemeinden, daneben aus Spenden finanzierte Seelsorgewerke, Gebetshäuser, Heilungsräume, Missionswerke usw. Dem seit 1996 bestehenden Arbeitskreis pfingstlich-charismatischer Missionen (APCM), einem Dachverband, haben sich (Stand 2015) 61 Werke angeschlossen.[15]

D-Netz[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

In Deutschland sind viele charismatische Gemeinden, die keiner Organisation angehören, im sogenannten D-Netz, einer Dienstgemeinschaft für leitende Gemeindemitarbeiter, miteinander verbunden. Das D-Netz wird von einem Kreis von Pastoren geleitet. Ziel des Netzwerkes ist, Beziehungen zwischen einzelnen Gemeinden zu knüpfen und aufrechtzuerhalten. Die Möglichkeit dazu besteht auf zweimal jährlich veranstalteten Konferenzen, die in Berlin und Stuttgart stattfinden.

Eine schriftliche Mitgliedschaft von Gemeinden gibt es nicht, nach eigenen Angaben sind etwa 600 Einzelpersonen, Leiter charismatischer Gemeinden und Werke, im D-Netz miteinander verbunden. Dieses „apostolische Netzwerk“ wird von einem Team geleitet, zu dem (Stand 2020) u. a. Peter Wenz, Theo Ehemann und Andreas Herrmann gehören, Leiter neocharismatischer City-Kirchen.

Gemeinden und Gruppierungen in Deutschland (Auswahl)[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Konfessionen in Indien[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

In Vietnam gibt es die Montagnard Evangelical Church.

Ökumene[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die Neocharismatische Bewegung vertritt keine offizielle Haltung oder Abgrenzung gegenüber der Ökumene. Ihre Anhänger arbeiten häufig mit Christen anderer Konfessionen zusammen, insbesondere innerhalb der Evangelischen Allianz. Das Ökumenische Forum Kirchen und Charismatische Bewegungen findet seit 1994 in Bad Urach statt und dient dem Austausch von Mitgliedern der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen (ACK) und Mitgliedern neocharismatischer Gemeinden, um gegenseitiges Verständnis zu fördern. Eine Ökumene, die dem eigenen neocharismatischen Kirchenverständnis mehr entspricht, ist das Netzwerk „Miteinander in Europa“, dessen Verhältnis zu ACK und ÖRK noch ungeklärt ist.[17]

Kontroversen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Inhaltlich wird von Religionskritikern und liberalen Theologen die tendenziell konservative Lehre kritisiert. Von traditionellen Pietisten dagegen wird die in ihren Augen oberflächlich und unverbindlich wirkende Umsetzung kritisiert. Eine ausführliche Kritik der neocharismatischen Bewegung aus spezifisch orthodoxer Perspektive hat Seraphim Rose verfasst.[18]

Angebliche Wunderheilungen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Ein Gemeindesaal der neocharismatischen Pfingstkirche Deus é Amor in einem ehemaligen Kino in Montevideo, Uruguay. Die leeren Rollstühle sollen suggerieren, dass Gelähmte allein durch den Glauben wieder gehen gelernt haben.

Als Scharlatanerie kritisiert werden die oft gepriesenen „Wunderheilungen“, die von Geistlichen vorgenommen werden.

In sogenannten Heilungsgottesdiensten der Organisation Wort und Geist werden Besucher gelehrt, dass durch Gottes Kraft auch unheilbare Krankheiten, wie Krebs, geheilt werden könnten.[19] Auf die angeblichen Krebsheilungen angesprochen reagierte die Ärztin Karin Freund vom Gesundheitsamt Nürnberg mit den Worten: „So ein Unsinn! Da kann man so lange Hand auflegen, wie man will – der Krebs geht dadurch nicht weg“,[20] und forderte die „Heiler“ auf, einen wissenschaftlichen Nachweis ihrer Methoden zu liefern. Der Sekten- und Weltanschauungsbeauftragte im Bistum Regensburg, Thomas Rigl, sagte: „Menschen werden Dinge in Aussicht gestellt, die nicht eingelöst werden. Gesundheit, Erfolg und ein sorgenfreies Leben – alles leere Versprechen.“[19] Man kann das Heilungsversprechen von Wort und Geist als eine Verbindung des pfingstlich-charismatischen Impulses mit Positivem Denken interpretieren: Realität wird durch Vorstellungskraft und Aussprechen/Bekennen geschaffen. Wer also sagt, dass er leide, schaffe dadurch seine eigene Krankheit. Der Kranke ist schuld, wenn Heilung nicht stattfindet, oder (eine andere Möglichkeit) Blockierungen durch Dämonen verhindern den Erfolg des Heilers, sie seien die eigentlichen Ursachen von Krankheit.[21]

Mehrfach wurde in evangelikalen Medien über angebliche Wunderheilungen bei Veranstaltungen des Gospel Forums berichtet. Am Ende seines Vortrags bei der Holy Spirit Night im Oktober 2012 sagte der Gastredner Daniel Kolenda, ein amerikanischer Missionar, zu den 6.000 Besuchern, dass jemand in der Halle sei, der vor einer Herztransplantation stehe. Diese werde nicht mehr gebraucht, da Gott ihm ein neues Herz erschaffen habe.[22] Pastor Wenz selbst wird aus einem Gottesdienst mit den Worten zitiert: „Gott sprach gerade zu meinem Herzen, jemand wird jetzt geheilt an seiner Bauchspeicheldrüse.“[23]

Geistliche Kriegsführung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Von der Evangelisch-Lutherischen Kirche sowie der Deutschen Evangelischen Allianz wird die Praktik des „Spiritual Warfare“ einhellig abgelehnt: Die Vorstellung von Territorialgeistern und -mächten sei „unbiblisch“.[24][25] „Die aggressive Grundhaltung und die Anmaßung, mit oder gar anstelle von Christus den Kampf mit dem Bösen aufnehmen zu können, stehen im Widerspruch zum Geist des Evangeliums.“[26]

Religiöse Intoleranz[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

In einem Bericht des brasilianischen Komitees gegen religiöse Intoleranz (CCIR) für die UN, bestehend aus Vertretern von 18 religiösen Gemeinschaften und Menschenrechtsgruppen, wurden im Jahr 2009 15 Fälle von religiöser Intoleranz in vier brasilianischen Staaten dokumentiert. Von Vertretern der charismatischen Kirchen wie der Igreja Universal do Reino de Deus wurden verbale und physische Übergriffe auf Andersgläubige berichtet. Seitens evangelikaler Lehrer wurde afrobrasilianischen Schülern eingeprägt, dass Umbanda und „Candomblé eine Sache des Teufels“ seien. Des Weiteren wurden Juden als „Jesusmörder“, Katholiken als „Teufelsanbeter“, andere Protestanten als „falsche Christen“ und Muslime als „dämonisch“ porträtiert. Das Komitee fasste zusammen, dass „Faschismus und Nazismus auf diesem Wege angefangen haben, durch die Dämonisierung anderer Gruppen“.[27]

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Reinhard Hempelmann: Licht und Schatten des Erweckungschristentums: Ausprägungen und Herausforderungen pfingstlich-charismatischer Frömmigkeit. Quell, Stuttgart 1998, ISBN 3-7918-3441-X.
  • Matthias Pöhlmann, Christine Jahn (Hrsg.): Handbuch Weltanschauungen, religiöse Gemeinschaften, Freikirchen. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2015. S. 219–248.
  • Georg Schmid: Pfingstbewegung, Charismatik und Neocharismatik. In: Ders. (Hrsg.): Kirchen, Sekten, Religionen: religiöse Gemeinschaften, weltanschauliche Gruppierungen und Psycho-Organisationen im deutschen Sprachraum, ein Handbuch. 7., überarb. und erg. Auflage, TVZ Theologischer Verlag, Zürich 2003, ISBN 3-290-17215-5, S. 117–124.
  • Peter Zimmerling: Die charismatischen Bewegungen: Theologie, Spiritualität, Anstösse zum Gespräch. Vandenhoeck & Ruprecht, 2. Auflage Göttingen 2002.

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Georg Schmid, Georg Otto Schmid (Hrsg.): Kirchen, Sekten, Religionen: Religiöse Gemeinschaften, weltanschauliche Gruppierungen und Psycho-Organisationen im deutschen Sprachraum: Ein Handbuch. Begründet von Oswald Eggenberger. 7., überarb. und erg. Auflage. TVZ Theologischer Verlag, Zürich 2003, ISBN 3-290-17215-5, S. 122 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche [abgerufen am 9. Oktober 2016]).
  2. a b Jörg Haustein, Giovanni Maltese: Pfingstliche und charismatische Theologie: Eine Einführung. In: Ders. (Hrsg.): Handbuch pfingstliche und charismatische Theologie. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2014, ISBN 978-3-525-52201-1, S. 15–65, S. 26 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche [abgerufen am 9. Oktober 2016]).
  3. Dean Sherman: Geistliche Kampfführung – Wie Christen siegreich leben. Wuppertal 1991.
  4. William MacDonald: Achte auf den Unterschied. Dillenburg 1975, S. 54 ff.
  5. Georg Schmid: Pfingstbewegung, Charismatik und Neocharismatik, Zürich 2003, S. 122 f.
  6. Grant R. Osborne: Historical Criticism And The Evangelical. In: Journal of the Evangelical Theological Society. Band 42, Nr. 2, 1999, S. 193–210 (org.uk [abgerufen am 2. September 2020]).
  7. Committee to Study Third Wave Pentecostalism: Third Wave Pentecostalism Report. Christian Reformed Church, 2007, abgerufen am 1. September 2020 (englisch).
  8. Handbuch Weltanschauungen, religiöse Gemeinschaften, Freikirchen. Gütersloh 2015, S. 230.
  9. a b Handbuch Weltanschauungen, religiöse Gemeinschaften, Freikirchen. Gütersloh 2015, S. 227.
  10. Handbuch Weltanschauungen, religiöse Gemeinschaften, Freikirchen. Gütersloh 2015, S. 229.
  11. Peter Zimmerling: Die charismatischen Bewegungen: Theologie, Spiritualität, Anstösse zum Gespräch, Göttingen 2002, S. 392.
  12. Georg Schmid: Pfingstbewegung, Charismatik und Neocharismatik, Zürich 2003, S. 123 f.
  13. Handbuch Weltanschauungen, religiöse Gemeinschaften, Freikirchen. Gütersloh 2015, S. 231 f.
  14. Handbuch Weltanschauungen, religiöse Gemeinschaften, Freikirchen. Gütersloh 2015, S. 222.
  15. Handbuch Weltanschauungen, religiöse Gemeinschaften, Freikirchen. Gütersloh 2015, S. 237.
  16. CfaN: Die Geschichte von CfaN. Abgerufen am 16. März 2020.
  17. Handbuch Weltanschauungen, religiöse Gemeinschaften, Freikirchen. Gütersloh 2015, S. 238.
  18. Vgl. Seraphim Rose: Orthodoxie und die Religion der Zukunft, Straelen 2010, ISBN 978-3-937129-60-0, S. 157–237, 256–262.
  19. a b Nürnberger Nachrichten (Onlineportal): Wort und Geist: «Es geht nur um Macht und Geld» – Aussteiger der Psycho-Gruppe erzählen – «Führer der Nation»
  20. Alexander Brock: Psycho-Gemeinde dehnt sich aus – Gesundheitsamt warnt vor „Wunderheilern“ – Ekstase-Gottesdienst im Kinosaal (Nürnberger Nachrichten vom 18. März 2009, Lokalteil Seite 9); eine Abschrift ist online noch auf der Seite der Feuchter Zeitung Der Bote nachzulesen
  21. Oda Lambrecht, Christian Baars: Mission Gottesreich: Fundamentalistische Christen in Deutschland. 2. Auflage, Berlin 2009, S. 32 f.
  22. Holy Spirit Night: Gottesdienst mit umstrittener Botschaft In: Stuttgarter Nachrichten, 8. Oktober 2012. Abgerufen am 9. Oktober 2012
  23. Wolf Schmidt: Um Gottes willen! Hrsg.: Die Tageszeitung. 10. Januar 2009 (online [abgerufen am 4. Februar 2013]).
  24. Deutsche Evangelische Allianz steht kritisch zur Gebetsinitiative gegen die „Königin des Himmels“. Gegen territoriale Kampfführung im Gebet. In: Die Evangelische Allianz in Deutschland. 4. September 2001, archiviert vom Original (nicht mehr online verfügbar) am 19. Juli 2019; abgerufen am 18. Juli 2019.  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.ead.de
  25. Handbuch Weltanschauungen, religiöse Gemeinschaften, Freikirchen. Gütersloh 2015, S. 244.
  26. Handbuch Weltanschauungen, religiöse Gemeinschaften, Freikirchen. Gütersloh 2015, S. 243.
  27. Fabiana Frayssinet: Religion-Brazil: Intolerance Denounced At UN. Interpress Service, 3. Juli 2009;.