Neue Normalität

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Zur Navigation springen Zur Suche springen
„Neue Normalität“: privates Waschbecken mit Handdesinfektionsmittel (2020)

Neue Normalität“ wurde 2018 durch den österreichischen Sprachphilosophen und Politikwissenschaftler Paul Sailer-Wlasits begrifflich geprägt[1] und im deutschsprachigen Raum in den gesellschaftspolitischen Diskurs eingeführt. In seinen Publikationen kontextualisierte Sailer-Wlasits die Bezeichnung u. a. mit politischem Populismus und mit der 45. US-Administration unter Donald Trump als neuer globaler Normalität.[2][3]

Der deutsche Ökonom und Essayist Hans Martin Esser hat in seinem Essay Die große Klammer – eine Theorie der Normalität 2019 neue Normalität als durch Konsens zu findendes Ergebnis beschrieben, das sich nicht durch exogene Schocks als Krisennormalität konservieren lässt, da Normalität auf menschliche Bequemlichkeit baue.[4]

Jörn Ahrens, Lehrstuhlinhaber für Kultursoziologie der Justus-Liebig-Universität Gießen, veröffentlichte im März 2022 seine Abhandlung Neue Normalität: über eine Leitkategorie in Zeiten der Pandemie. Hierin belegte er, dass der Begriff von Esser definiert und erläutert wurde[5].

Im Zuge der COVID-19-Pandemie wurde der Ausdruck im Frühjahr 2020 zu einem politischen Schlagwort, nachdem deutsche und österreichische Politiker wiederholt konkret eine „neue Normalität“ angekündigt hatten. Gegen diese sprachliche Einordnung gab es vielfachen Widerspruch. Unter anderem kritisierte die ehemalige deutsche Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, es handele sich dabei um eine irreführende Begriffswahl, da ein „Krisenzustand nicht definitorisch zum Normalzustand“ erklärt werden dürfe.[6]

In Österreich hat Bundeskanzler Sebastian Kurz den Ausdruck ab Mitte April 2020 in seine typischerweise auf wenigen eingängigen Schlagworten basierenden Rhetorik aufgenommen und als neues politisches Schlagwort etabliert.[7][8] Die österreichischen Medien reagierten hierauf kritisch und fragten, ob so eine dauerhafte Aushöhlung der Bürgerrechte vermittelt werden solle.[9][10]

Der ehemalige deutsche Finanzminister Olaf Scholz und sein Kabinettskollege Gesundheitsminister Jens Spahn verwendeten den Ausdruck nahezu zeitgleich mit Kurz in zahlreichen Reden. Die vermeintliche „neue Normalität“ wurde dabei der alten Normalität vor der Pandemie gegenübergestellt, als Synonym für eine neue Wirklichkeit, auf die man sich einstellen müsse.[11][12][13][14]

Der Psychiater und Autor Jan Kalbitzer sah in der prolongierten Krise, bezugnehmend auf die Liedzeile „Wenn die Nacht am tiefsten ist, ist der Tag am nächsten“ der Band Ton Steine Scherben[15], auch eine Chance „neu auf die Welt zu blicken“ und damit bisheriges Verhalten und bestehende Gewohnheiten neu zu beurteilen und „zukünftige Herausforderungen endlich mutiger anzugehen“. Als konkretes Beispiel nannte er die globale Erwärmung – in der Hoffnung, dass wir den Tiefpunkt der Coronakrise bereits erreicht hatten und wir „über die Dämmerung des neuen Tages“ die Erfahrung nicht vergessen, was während dieser Krise innerhalb kürzester Zeit alles möglich war, das zuvor undenkbar war oder schien.[16]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. David Pesendorfer, Interview mit Paul Sailer-Wlasits in News: Der Erfinder der "Neuen Normalität". Abgerufen am 2. März 2023.
  2. Paul Sailer-Wlasits: The New Normal: Woran wir uns gewöhnen müssen. 7. September 2018, abgerufen am 25. April 2020.
  3. Paul Sailer-Wlasits, Interview in Telepolis: Die neue Normalität: "Gewöhnt Euch dran". 10. Mai 2020, abgerufen am 23. April 2021.
  4. webdecker.de: Die große Klammer - Kulturverlag Kadmos Berlin. Abgerufen am 31. Mai 2022.
  5. Velbrück Wissenschaft. Abgerufen am 2. März 2023.
  6. Gisela Zifonun: Zwischenruf zu „neue Normalität“ (2020), S. 1.
  7. Peter Münch: Österreich: Kurz will zu "neuer Normalität" finden. Abgerufen am 24. April 2020.
  8. Welche Worte sind in der Coronakrise passend? Abgerufen am 24. April 2020.
  9. kurz neue normalität - Google-Suche. Abgerufen am 24. April 2020.
  10. ORF at/Agenturen red: Nationalrat: Debatte über Schlagwort „neue Normalität“. 22. April 2020, abgerufen am 24. April 2020.
  11. Scholz: "Wir brauchen für lange Zeit eine neue Normalität". 18. April 2020, abgerufen am 24. April 2020.
  12. Saarbrücker Zeitung: Öffentliches Leben: Regierung erwartet „für lange Zeit eine neue Normalität“. In: Saarbrücker Zeitung. 18. April 2020, archiviert vom Original am 6. Mai 2020;.
  13. PNP.de: Regierung erwartet "für lange Zeit eine neue Normalität". Abgerufen am 24. April 2020.
  14. Spahn: "Wird neue Normalität sein". Abgerufen am 24. April 2020.
  15. „Wenn die Nacht am tiefsten ist, ist der Tag am nächsten“, aus: Wenn die Nacht am tiefsten …
  16. Alltag im neuen Shutdown. Wann wird unser Leben endlich wieder normal? Spiegel Online am 17. Dezember 2020, abgerufen am 18. Dezember 2020.