Zellengefängnis Lehrter Straße

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Zellengefängnis um 1855

Das Zellengefängnis Lehrter Straße war eine Haftanstalt an der Lehrter Straße 1–5 im heutigen Ortsteil Moabit des Bezirks Mitte von Berlin. Der Bau wurde in den 1840er Jahren unter Friedrich Wilhelm IV. als „Preußisches Mustergefängnis Moabit“ errichtet und galt damals als besonders modernes Gefängnis, weil die Gefangenen in Einzelzellen an Stelle der bis dahin üblichen Gemeinschaftszellen untergebracht wurden.

In den Jahren 1957/1958 wurde das Zellengefängnis Lehrter Straße abgerissen.

Lage

Zellengefängnis Lehrter Straße, 1848
Zellengefängnis auf einem Luftbild, Juli 1886
Lageplan von 1896

Das rund sechs Hektar große ehemalige Gefängnisgelände liegt auf dem östlichen Areal der Lehrter Straße an der Einmündung in die Invalidenstraße in unmittelbarer Nähe des heutigen Berliner Hauptbahnhofs. Zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus wurde auf der Verkehrsinsel Seydlitz- Ecke Lehrter Straße ein Gedenkstein aufgestellt, der jetzt in den Eingangsbereich des Gedenkparks versetzt wurde.

Nicht zu verwechseln mit dem Zellengefängnis ist das noch heute als Außenstelle (Haus 3) der Justizvollzugsanstalt Plötzensee genutzte ehemalige Wehrmachtgefängnis in der Lehrter Straße 60. In der Lehrter Straße 61 befindet sich außerdem eine Außenstelle des Amtsgerichts Tiergarten.

Geschichte

Der Planung zum Bau eines Mustergefängnisses war eine Gefängnisreform König Friedrich Wilhelms IV. kurz nach seiner Thronbesteigung vorausgegangen. In der Kabinettsorder vom 26. März 1842 billigt er den Bau des Gefängnisses nach Plänen von Carl Ferdinand Busse als Kopie der britischen Strafanstalt Pentonville bei London. Im Jahr 1849 waren die Arbeiten beendet. Die fünf sternförmig angeordneten Flügel, die jeweils zentral überwachbare Einzelzellen enthielten, eine Kirche, diverse Beamtenwohntürme und ein Gefängnisfriedhof gehörten zu der Anlage.

Bereits vor Fertigstellung des Gesamtbaus wurde 1847 der sogenannte „Polenprozess“ gegen 256 polnische Separatisten geführt, darunter Ludwik Mierosławski. Als Gerichtssaal diente der Kirchenraum. Die im Dezember verkündeten Todes- und Freiheitsstrafen wurden nie vollstreckt und die ersten Häftlinge des Mustergefängnisses nach zwei Monaten entlassen.

Zwischen 1856 und 1860 war der deutsche Jurist Carl Eduard Schück (1804–1873), ein erklärter Anhänger der Einzelhaft nach pennsylvanischem Vorbild, Direktor des Gefängnisses.[1]

Nationalsozialismus und Gestapo-Sonderabteilung

Teile des Zellengefängnisses nutzten ab 1940 sowohl die Wehrmacht als auch die Polizei und seit dem Attentat vom 20. Juli 1944 auch die Gestapo als Untersuchungshaftanstalt.[2] Verdächtige Beteiligte am Widerstand gegen den Nationalsozialismus wurden hier inhaftiert, so zum Beispiel der spätere Bischof Hanns Lilje.

Unmittelbar nach dem Attentat gründete am 21. Juli 1944 der Leiter des Amts IV des Reichssicherheitshauptamts Heinrich Müller die „Sonderkommission 20. Juli“. Von den etwa 400 Mitarbeitern dieser Gestapo-Sonderabteilung waren einige Dutzend im Zellengefängnis Lehrter Straße abgestellt. Die zunächst als Provisorium gedachte Aktion blieb bis Kriegsende als fester Teil des Gefängnisses erhalten. Die Gestapo sorgte unter anderem für verschärfte Haftbedingungen für Sympathisanten des Attentats und erledigte den Transfer der Gefangenen zwischen anderen Gefängnissen und Konzentrationslagern sowie zu den häufig mit Folter verbundenen Verhören im „Hausgefängnis“ der Gestapo in der Prinz-Albrecht-Straße 8. Zahlreiche im Volksgerichtshof zu hohen Haftstrafen oder zum Tod verurteilte direkt oder indirekt am Umsturzversuch beteiligte Männer verbrachten Zeit im Zellengefängnis.

Zu den von der Sonderabteilung durchgeführten Haftverschärfungsmaßnahmen gehörte das Fesseln der Hände vor dem Bauch tagsüber und hinter dem Rücken über Nacht. Zudem wurden die Beine der Gefangenen nachts mit Ketten an der Wand neben dem Bett fixiert. Nachts blieb eine Lampe an. Sie wurde nur bei Fliegeralarm mit einem Tuch abgedeckt. Dies traf auch auf die Zellen mit Häftlingen zu, die nicht mit dem Attentat in Verbindung standen. Diese durften beim Schlafen die Hände nicht unter die Decke nehmen; die Wärter wollten damit Selbstmordversuche vermeiden. Die Ernährung aller Gefangener in dieser Zeit war katastrophal; manche nahmen innerhalb weniger Monate Haft bis zu 30 Kilogramm ab. Auch die medizinische Versorgung war nicht gewährleistet. Zahlreiche Insassen erkrankten schwer. Der am 20. Juli konspirativ beteiligte Prälat Otto Müller erlitt im Zellengefängnis einen Durchbruch eines Magengeschwürs und verstarb am 12. Oktober 1944 im nahegelegenen Polizeikrankenhaus.

Viele Häftlinge überlebten die Haft nur durch Geschenke von Verwandten und Bekannten. Um die Gefangenen herum bildeten sich Netzwerke von vor allem Frauen, die versuchten, meist über die Bestechung des Wachpersonals, Nahrungsmittel, Medikamente und Bücher zu überbringen.[3]

Unter den im Zellengefängnis Inhaftierten befanden sich mehrere Geistliche aus dem Widerstand wie der Jesuit Augustin Rösch. Eingeliefert am 13. Januar 1945 richtete er, von den Wärtern unentdeckt, Beichten und täglich heilige Messen ein. Die in der Haftanstalt tätigen Kalfaktoren[4] deckten die illegalen katholischen Aktionen. Die Hostien für die Kommunion wurden von zwei Frauen in eigens dafür geschneiderten Leinentäschchen in das Gefängnis geschmuggelt.

Die meisten Sympathisanten des Widerstands warteten im Zellengefängnis auf ihren Prozess vor dem sogenannten Volksgerichtshof, sie hatten also den Status von Untersuchungshäftlingen und wurden zu ihren vermeintlichen Verbrechen vernommen. Dafür waren zwei Räume in der Nähe des Eingangs vorgesehen, jedoch selten genutzt, denn man transportierte die Häftlinge zur Vernehmung fast immer in das drei Kilometer entfernte Gestapo-Gefängnis. Dort war Folter die Regel, meist durch Schläge, Auspeitschungen, aber auch das Ziehen von Zähnen und Fingernägeln. Der ehemalige Polizeidirektor Paul Hahn berichtete über seine Rückkehr ins Zellengefängnis nach Stunden der Folter durch unter anderem Kriminalrat Herbert Lange:

„Ich wurde per Auto, natürlich gefesselt und unter Bedeckung von zwei SD-Schergen nach der Lehrter Straße gebracht. Als ich dort ankam, sah ich aus den Mienen der mich in Empfang nehmenden Beamten, daß mein Aussehen auffallend war. Mein Gesicht war geschwollen und blutbeschmiert, meine Lippen blutrünstig und aufgeschlagen. Nach der Fesselung für die Nacht, Hände auf dem Rücken, Füße an die Wand angeschlossen, sank ich auf die Pritsche.“[5]

In der Nacht vom 22. zum 23. April 1945 wurden 16 Häftlinge unter dem Vorwand der Freilassung auf das nahegelegene ULAP-Gelände geführt und auf Anordnung von Heinrich Müller ermordet. Die Exekutionen wurden durch 30 SS-Männer unter dem Kommando von Kurt Stawizki per Genickschuss durchgeführt.[6] Unter den Ermordeten befanden sich Klaus Bonhoeffer und Albrecht Haushofer, bei dessen Leiche die im Gefängnis entstandenen Moabiter Sonette gefunden wurden. Der junge Kommunist Herbert Kosney überlebte die Hinrichtung schwer verletzt und konnte später als Augenzeuge berichten. Diese Exekutionen, ähnlich wie die „Politik der verbrannten Erde“ beim Rückzug der Wehrmacht, werden als Kriegsendphasenverbrechen bezeichnet.

Im Zweiten Weltkrieg wurden die Kirche sowie Teile eines Zellenflügels bei einem britischen Luftangriff in der Nacht des 22. auf den 23. November 1943 ausgebombt. Schwerwiegend waren die Plünderungen der Inneneinrichtung kurz vor Kriegsende am 26. April 1945, einen Tag nach Entlassung der letzten Justizgefangenen. Zwei Tage später erlitt der Gefängnisdirektor, Regierungsrat Oskar Berg, beim Verlassen des Luftschutzkellers einen Herzinfarkt. Der Gebäudekomplex wurde von Oktober 1945 bis März 1955 durch die Alliierten als Haftanstalt genutzt. Ende 1946 wurde die einzige Hinrichtungsstelle der Westsektoren eingerichtet. Zwischen Januar 1947 und Mai 1949 fanden dort insgesamt zwölf Hinrichtungen statt. Die letzte Hinrichtung fand am 11. Februar 1949 an Berthold Wehmeyer statt.

Nach dem Abriss Ende der 1950er Jahre blieben lediglich Teile der Gefängnismauer und drei Beamtenwohnhäuser erhalten, die heute unter Denkmalschutz stehen. Der Friedhof wurde entwidmet, die Abteilung der Vollzugsbeamten blieb umzäunt erhalten. Der ehemalige Friedhofsteil für die Gefangenen jedoch wurde für eine Kleingartenanlage genutzt. Das Grundstück des Gefängnisses wurde planiert und als Parkplatz für das Poststadion genutzt. Der östliche Teil des Parkplatzes ging 1962 an das Tiefbauamt Tiergarten über, das diesen als Lagerplatz nutzte. Im Jahr 2003 begannen die Arbeiten für den 3,1 Millionen Euro teuren Geschichtspark Ehemaliges Zellengefängnis Moabit. Am 26. Oktober 2006 wurde der Park der Presse präsentiert und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Am 17. Februar 2007 erhielt das Projekt des Berliner Landschaftsarchitekenbüros Glaßer und Dagenbach einen von zwei ersten Preisen im Bundeswettbewerb des Bundes Deutscher Landschaftsarchitekten für die intensive Auseinandersetzung mit der Geschichte des Ortes, die Zusammenarbeit mit den Anwohnern und die gelungene Gestaltung der Details.[7]

Prominente Inhaftierte

Siehe auch

Literatur

Weblinks

Commons: Zellengefängnis Lehrter Straße – Album mit Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. Carl Eduard Schück: Die Einzelhaft und ihre Vollstreckung in Bruchsal und Moabit. Barth, Leipzig 1862.
  2. Ernst Haiger: Die letzten Gestapo-Häftlinge im Zellengefängnis. In: Bernd Hildebrandt/Ernst Haiger: Kriegsende in Tiergarten. Die Geschichte des Kriegsgräberfriedhofs Wilsnacker Straße. Berlin 2009, ISBN 978-3-86541-312-3, S. 50–53
  3. Johannes Tuchel, S. 35 ff
  4. Die Kalfaktoren waren inhaftierte, aber nicht offiziell abgeurteilte Gefängnishilfskräfte, vornehmlich Zeugen Jehovas, die wegen ihrer Kriegsdienstverweigerung mit dem Nationalsozialismus in Konflikt geraten waren. Sie spielten im Zellengefängnis eine für die Häftlinge wichtige Rolle, etwa beim Übermitteln von Nachrichten oder Kassibern.
  5. zitiert nach Tuchel, S. 148. Originalquelle: Erinnerungsberichte von Paul Hahn im Hauptstaatsarchiv Stuttgart, M 660/156 Bü 43
  6. Sven Felix Kellerhoff: Staatspolizeilich erledigt. In: Die Welt, 21. April 2010
  7. Bund Deutscher Landschaftsarchitekten: Deutscher Landschaftsarchitektur-Preis 2007. (Memento vom 15. November 2010 im Internet Archive)

Koordinaten: 52° 31′ 36″ N, 13° 21′ 58″ O