„Neuroleptikum“ – Versionsunterschied

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== Vergleich zwischen typischen und atypischen Neuroleptika ==
== Vergleich zwischen typischen und atypischen Neuroleptika ==
Die neueren atypischen Neuroleptika werden von Herstellern als wirksamer, nebenwirkungsärmer und verträglicher als die älteren Präparate beworben. Die Unterschiede zwischen typischen und atypischen Präparaten wurden durch eine Vielzahl an vergleichenden Studien untersucht.<ref name="comp1">T Stargardt, S Weinbrenner, R Busse, G Juckel, CA. Gericke: ''Effectiveness and cost of atypical versus typical antipsychotic treatment for schizophrenia in routine care''. PMID 18509216</ref><ref name="comp2">John Geddes, Nick Freemantle, Paul Harrison, Paul Bebbington: ''Atypical antipsychotics in the treatment of schizophrenia: systematic overview and meta-regression analysis''. {{PMC|27538}}</ref><ref name="comp3">C Stanniland, D. Taylor: [http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/10738844 ''Tolerability of atypical antipsychotics''], Abgerufen am 26. Januar 2013</ref><ref name="comp4">B Luft, D Taylor: ''A review of atypical antipsychotic drugs versus conventional medication in schizophrenia''. PMID 16925501</ref><ref name="comp5">S Leucht, G Pitschel-Walz, D Abraham, W. Kissling: ''Efficacy and extrapyramidal side-effects of the new antipsychotics olanzapine, quetiapine, risperidone, and sertindole compared to conventional antipsychotics and placebo. A meta-analysis of randomized controlled trials.'' PMID 9988841</ref> Atypische Neuroleptika sind auf die Positivsymptome einer Schizophrenie ähnlich wirksam wie typische Neuroleptika, wirken zusätzlich aber auch auf die Negativsymptome. Sie verursachen in geringerem Maße extrapyramidalmotorische Störungen, besitzen insgesamt ein günstigeres Nebenwirkungsprofil und erwirken dadurch eine höhere [[Compliance (Medizin)|Compliance]]. Sie können allerdings andere, neue Nebenwirkungen wie starke Gewichtszunahme aufweisen. Im Jahre 2009 wurde eine deutschlandweite, durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte Studie ins Leben gerufen, die häufig verschriebene atypische Neuroleptika hinsichtlich Wirksamkeit und Nebenwirkungsprofil mit klassischen Neuroleptika vergleicht und bis heute andauert.<ref>[http://www.kksweb.uni-bremen.de/index.php?page=neSSy-projekt ''The Neuroleptic Strategy Study – NeSSy''.] Kompetenzzentrum für klinische Studien Bremen</ref>
Die neueren atypischen Neuroleptika werden von Herstellern als wirksamer, nebenwirkungsärmer und verträglicher als die älteren Präparate beworben. Die Unterschiede zwischen typischen und atypischen Präparaten wurden durch eine Vielzahl an vergleichenden Studien untersucht.<ref name="comp1">T Stargardt, S Weinbrenner, R Busse, G Juckel, CA. Gericke: ''Effectiveness and cost of atypical versus typical antipsychotic treatment for schizophrenia in routine care''. PMID 18509216</ref><ref name="comp2">John Geddes, Nick Freemantle, Paul Harrison, Paul Bebbington: ''Atypical antipsychotics in the treatment of schizophrenia: systematic overview and meta-regression analysis''. {{PMC|27538}}</ref><ref name="comp3">C Stanniland, D. Taylor: [http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/10738844 ''Tolerability of atypical antipsychotics''], Abgerufen am 26. Januar 2013</ref><ref name="comp4">B Luft, D Taylor: ''A review of atypical antipsychotic drugs versus conventional medication in schizophrenia''. PMID 16925501</ref><ref name="comp5">S Leucht, G Pitschel-Walz, D Abraham, W. Kissling: ''Efficacy and extrapyramidal side-effects of the new antipsychotics olanzapine, quetiapine, risperidone, and sertindole compared to conventional antipsychotics and placebo. A meta-analysis of randomized controlled trials.'' PMID 9988841</ref> Atypische Neuroleptika sind auf die Positivsymptome einer Schizophrenie ähnlich wirksam wie typische Neuroleptika und wirken häufig auch bei einer Therapieresistenz gegenüber den älteren Präparaten.<ref name="bandelow-236">{{Literatur | Autor = Borwin Bandelow, Oliver Gruber, Peter Falkai | Titel = Kurzlehrbuch Psychiatrie | Jahr = 2008 | Verlag = Steinkopff | Ort = [Berlin] | ISBN = 978-3-7985-1835-3 | Seiten = 236 }}</ref> Zusätzlich wirken sie besser auf die Negativsymptome.<ref name="bandelow-236" /> Sie verursachen in geringerem Maße extrapyramidalmotorische Störungen,<ref name="bandelow-236" /> besitzen insgesamt ein günstigeres Nebenwirkungsprofil und erwirken dadurch eine höhere [[Compliance (Medizin)|Compliance]]. Sie können allerdings andere, neue Nebenwirkungen wie starke Gewichtszunahme aufweisen. Im Jahre 2009 wurde eine deutschlandweite, durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte Studie ins Leben gerufen, die häufig verschriebene atypische Neuroleptika hinsichtlich Wirksamkeit und Nebenwirkungsprofil mit klassischen Neuroleptika vergleicht und bis heute andauert.<ref>[http://www.kksweb.uni-bremen.de/index.php?page=neSSy-projekt ''The Neuroleptic Strategy Study – NeSSy''.] Kompetenzzentrum für klinische Studien Bremen</ref>


Kritisiert wird das Kosten-Nutzen-Verhältnis moderner atypischer Neuroleptika. Die neueren Präparate sind deutlich teurer als die Medikamente der ersten Generation, unter anderem deshalb, weil aufgrund des Patentschutzes noch keine Generika verfügbar sind. Atypische Neuroleptika machen derzeit in Deutschland etwa die Hälfte aller verschriebenen Neuroleptika aus, sind aber für 87 % der erzielten Umsätze verantwortlich.<ref name="Arzneiverordnungsreport 2011">Jürgen Fritze: [http://www.dgppn.de/fileadmin/user_upload/_medien/download/pdf/stellungnahmen/2012/Psychopharmaka-Verordnungen_Ergebnisse_und_Kommentare_zum_Arzneiverordnungsreport_2011_Fritze.pdf ''Psychopharmaka-Verordnungen: Ergebnisse und Kommentare zum Arzneiverordnungsreport 2011''.] (PDF; 3,6&nbsp;MB), abgerufen am 24. Januar 2013</ref> Laut einem von der [[Barmer GEK]] veröffentlichten Arzneimittelreport waren im Jahr 2011 unter den 20 am meisten Kosten verursachenden Präparaten mit [[Seroquel]] ([[Quetiapin]]) und [[Zyprexa]] ([[Olanzapin]]) zwei atypische Neuroleptika vertreten.<ref>[http://www.barmer-gek.de/barmer/web/Portale/Presseportal/Subportal/Presseinformationen/Archiv/2012/120626-Arzneimittelreport-2012/Infografiken_20zum_20Arzneimittelreport_202012,property=Data.pdf ''BARMER GEK Arzneimittelreport 2012''] (PDF; 377&nbsp;kB) Barmer GEK, Abgerufen am 25. Januar 2013</ref> Der [[Arzneiverordnungs-Report]] 2012 kritisiert unter anderem die Präparate ''Seroquel'', ''Zyprexa'' und ''Abilify'' und ist der Ansicht, dass für diese teuren Präparate ältere, ähnlich gut wirksame Alternativen zur Verfügung stehen, deren Verwendung deutliche Einsparungen ermöglichen würden.<ref>Markus Grill: [http://www.spiegel.de/wissenschaft/medizin/medikamente-ein-drittel-aller-neuen-pillen-ohne-zusatznutzen-a-858390.html ''Arzneiverordnungsreport 2012: Ein Drittel aller neuen Pillen ist überflüssig''.] [[Spiegel Online]], abgerufen 25. Januar 2013</ref>
Kritisiert wird das Kosten-Nutzen-Verhältnis moderner atypischer Neuroleptika.<ref name="theisen-162">{{Literatur | Autor=Frank Theisen, Helmut Remschmidt | Titel=Schizophrenie - Manuale psychischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen | ISBN=3540209468 | Seiten=162}}</ref><ref name="bandelow-236" /> Die neueren Präparate sind deutlich teurer als die Medikamente der ersten Generation, unter anderem deshalb, weil aufgrund des Patentschutzes noch keine Generika verfügbar sind. Atypische Neuroleptika machen derzeit in Deutschland etwa die Hälfte aller verschriebenen Neuroleptika aus, sind aber für 87 % der erzielten Umsätze verantwortlich.<ref name="Arzneiverordnungsreport 2011">Jürgen Fritze: [http://www.dgppn.de/fileadmin/user_upload/_medien/download/pdf/stellungnahmen/2012/Psychopharmaka-Verordnungen_Ergebnisse_und_Kommentare_zum_Arzneiverordnungsreport_2011_Fritze.pdf ''Psychopharmaka-Verordnungen: Ergebnisse und Kommentare zum Arzneiverordnungsreport 2011''.] (PDF; 3,6&nbsp;MB), abgerufen am 24. Januar 2013</ref> Laut einem von der [[Barmer GEK]] veröffentlichten Arzneimittelreport waren im Jahr 2011 unter den 20 am meisten Kosten verursachenden Präparaten mit [[Seroquel]] ([[Quetiapin]]) und [[Zyprexa]] ([[Olanzapin]]) zwei atypische Neuroleptika vertreten.<ref>[http://www.barmer-gek.de/barmer/web/Portale/Presseportal/Subportal/Presseinformationen/Archiv/2012/120626-Arzneimittelreport-2012/Infografiken_20zum_20Arzneimittelreport_202012,property=Data.pdf ''BARMER GEK Arzneimittelreport 2012''] (PDF; 377&nbsp;kB) Barmer GEK, Abgerufen am 25. Januar 2013</ref> Der [[Arzneiverordnungs-Report]] 2012 kritisiert unter anderem die Präparate ''Seroquel'', ''Zyprexa'' und ''Abilify'' und ist der Ansicht, dass für diese teuren Präparate ältere, ähnlich gut wirksame Alternativen zur Verfügung stehen, deren Verwendung deutliche Einsparungen ermöglichen würden.<ref>Markus Grill: [http://www.spiegel.de/wissenschaft/medizin/medikamente-ein-drittel-aller-neuen-pillen-ohne-zusatznutzen-a-858390.html ''Arzneiverordnungsreport 2012: Ein Drittel aller neuen Pillen ist überflüssig''.] [[Spiegel Online]], abgerufen 25. Januar 2013</ref>


== Chemie ==
== Chemie ==

Version vom 1. Juni 2013, 00:41 Uhr

Neuroleptika (etwa „Nervendämpfungsmittel“) oder Antipsychotika sind Arzneistoffe aus der Gruppe der Psychopharmaka, die eine sedierende und antipsychotische – den Realitätsverlust bekämpfende – Wirkung besitzen. Sie werden hauptsächlich zur Behandlung von Wahnvorstellungen und Halluzinationen eingesetzt, die bei psychischen Störungen wie etwa der Schizophrenie oder Manie auftreten können. Auch als Beruhigungsmittel werden sie verwendet,[1] etwa bei Unruhe, Ängsten, Erregungszuständen oder der Neuroleptanalgesie. In neuerer Zeit werden sie zunehmend bei weiteren psychiatrischen Krankheitsbildern eingesetzt, unter anderem bei Autismus,[2] dem Tourette-Syndrom,[3] Depressionen[4] und Zwangserkrankungen.[5]

Neuroleptika revolutionierten die Behandlung von psychotischen Störungen.[6] Das erste Neuroleptikum, Chlorpromazin, wurde Anfang der 1950er-Jahre durch einen Zufall entdeckt.[7] Seitdem wurden eine Vielzahl weiterer Substanzen entwickelt und auf den Markt gebracht. Heute sind Neuroleptika das Mittel der Wahl bei der Behandlung der Schizophrenie.[8]

Geschichte

Anfänge

Ausgangspunkt der Entwicklung von Neuroleptika war die deutsche Farbstoffindustrie Ende des 19. Jahrhunderts. Damals stellte die Firma BASF chemische Farbstoffe her, die bald auch in der Histologie Verwendung fanden. Bei bestimmten Farbstoffen stellte man eine antibiotische Wirksamkeit fest, beispielsweise wirkte der Stoff Methylenblau, ein Phenothiazin-Derivat, gegen Malaria. Bei Anwendung der Phenothiazinderivate wie Promethazin stellte man eine sedierende und antihistaminerge Wirkung fest. Dies sollte bei kriegsbedingten Schock- und Stressreaktionen und bei Operationen von Vorteil sein. Die zusätzlichen vegetativen (sympathico- und vagolytischen) Eigenschaften wurden als „künstlicher Winterschlaf“ bezeichnet und sollten bei größeren Operationen hilfreich sein. Zusammen mit Opiaten wurde damals von Neuroleptanästhesie gesprochen.

Chlorpromazin, das erste Neuroleptikum

Der französische Militärarzt und Chirurg Henri Marie Laborit entdeckte als erstes die psychotrope Wirkung von Chlorpromazin und ebnete damit den Weg für die Einführung der Neuroleptika

Der erste Wirkstoff, der als antipsychotisch wirksames Medikament vermarktet wurde, ist das Chlorpromazin. Es wurde allerdings nicht durch systematische Forschung entdeckt, sondern durch einen Zufall.[7][6] Im Jahre 1950 wurde es erstmals in Frankreich bei Forschungen zu antihistaminisch wirksamen Substanzen vom Chemiker Paul Charpentier bei der Firma Rhône-Poulenc synthetisiert. Seine antipsychotische Wirkung wurde zu diesem Zeitpunkt allerdings noch nicht erkannt.

Im Jahre 1952 erprobte der französische Chirurg Henri Marie Laborit auf der Suche nach einem wirksamen Anästhetikum mehrere Antihistaminika. Er bemerkte, dass diese Stoffe eine sedierende und angstlösende Wirkung zu haben schienen, allen zuvor das Chlorpromazin. Zwischen April 1951 und März 1952 wurden 4000 Proben an über 100 Forscher in 9 Länder verschickt. Am 13. Oktober 1951 erschien der erste Artikel, in dem Chlorpromazin öffentlich erwähnt wurde. Laborit berichtete über seine Erfolge mit der neuen Substanz bei der Anästhesie. Die beiden französischen Psychiater Jean Delay und Pierre Deniker gaben am 26. Mai 1952 bekannt, dass sie eine beruhigende Wirkung bei Patienten mit Manie gesehen hätten. Während Chlorpromazin am Anfang noch gegen viele verschiedene Störungen eingesetzt wurde, zeigte sich später als wichtigste Indikation eine spezifische Wirkung gegen psychomotorische Unruhe, vor allem bei der Schizophrenie.

Ab 1953 wurde das Chlorpromazin als Megaphen (Deutschland 1. Juli 1953) oder Largactil in Europa vermarktet, 1955 kam es in den USA unter dem Namen Thorazine auf den Markt. Die heute gebräuchliche Bezeichnung „Neuroleptikum“ wurde erst ab 1955 verwendet. Das neue Medikament wurde in den USA als „chemische Lobotomie“ beworben. Die Lobotomie war zu dieser Zeit eine verbreitete Gehirnoperationsmethode zur Behandlung einer Reihe von psychischen Krankheiten und Verhaltensstörungen. Die Verwendung von Chlorpromazin versprach eine vergleichbare Wirkung mit dem Vorteil, dass eine rein medikamentöse Behandlung nicht-invasiv und reversibel ist.

Die neurophysiologische Wirkung des Chlorpromazin wurde erforscht, davon ausgehend wurden zahlreiche weitere antipsychotisch wirksame Stoffe entdeckt. Die Forschungen führten 1957 zur zufälligen Entdeckung der modernen Antidepressiva sowie weiteren Wirkstoffen wie Anxiolytika.

Einfluss auf die Behandlung psychisch Kranker

Anzeige aus den 60er-Jahren für das Chlorpromazin-Präparat Thorazine in den USA. Der Text links bedeutet übersetzt: Wenn der Patient auf „sie“ einschlägt, setzt Thorazine seinem Gewaltausbruch ein schnelles Ende. Gemeint sind imaginäre Angreifer, die der Patient im Rahmen einer halluzinatorischen Psychose vor sich sieht.

Neuroleptika revolutionierten die Behandlung von psychotischen Störungen.[6] Vor Einführung der Neuroleptika stand Menschen, die an einer akuten Psychose litten, keine symptomatische Behandlungsmethode zur Verfügung. Früher wurden diese Menschen mit kalten Duschen übergossen oder angekettet[7], im Mittelalter auch ausgepeitscht oder gar auf dem Scheiterhaufen verbrannt.[9] Aber auch bis hinein in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts stand vielen keine adäquate Behandlungsmöglichkeit zur Verfügung. Oft mussten erkrankte aufgrund fehlender Selbständigkeit oder drohender Eigen- und Fremdgefährdung in eine psychiatrische Klinik eingeliefert und solange dort behalten werden, bis die Symptome mit der Zeit abklangen. Als Behandlungsmöglichkeiten standen dort lediglich Schutzmaßnahmen wie Freiheitsentzug oder medikamentöse Sedierung zur Verfügung, um die Patienten daran zu hindern, sich selbst oder Dritte in ihrem wahnhaften Zustand zu schädigen. In den USA war Mitte des 20. Jahrhunderts eine Gehirnoperationsmethode namens Lobotomie gebräuchlich, um Erkrankte ruhigzustellen.

Mit Einführung der Neuroleptika konnten die Symptome der Patienten erstmals gezielt bekämpft werden, was die Dauer des krankhaften Zustandes und damit auch die nötige Aufenthaltsdauer in den Kliniken reduzierte. Die Verwendung von Neuroleptika setzte sich vor allem in Europa schnell durch. In den USA waren noch längere Zeit andere Behandlungsmethoden wie Lobotomie und Psychoanalyse gebräuchlich. Heute ist die Gabe von Neuroleptika in den Industrieländern die Standardmethode bei behandlungsbedürftigen Psychosen.[8]

Einführung der atypischen Neuroleptika

Die Einführung der Neuroleptika stellte zwar einen Durchbruch dar, bei 30–40% der Patienten waren sie jedoch unwirksam.[6] Außerdem verursachten sie neben der erwünschten antipsychotischen Wirkung eine Reihe von Nebenwirkungen, darunter das sogenannte extrapyramidale Syndrom. Dabei handelt es sich um Störungen der Bewegungsabläufe, die sich beispielsweise in Form einer Sitzunruhe oder einer Muskelstarrheit ähnlich wie bei Parkinson-Erkrankten äußern. Je stärker ein Medikament antipsychotisch wirkte, desto stärker waren auch diese Nebenwirkungen.

Mit der Einführung des Clozapin im Jahre 1971 kamen neuartige Medikamente auf den Markt, bei denen dieser Zusammenhang nicht mehr bestand. Sie versprachen eine vergleichbare antipsychotische Wirkung bei geringen oder fehlenden extrapyramidalmotorischen Nebenwirkungen,[10] zudem wirkten sie auch auf die sogenannten Negativsymptome der Schizophrenie.[6] Sie lösten die älteren Medikamente als Mittel der ersten Wahl ab[11] und wirkten häufig auch bei Patienten, die auf die bisherigen Medikamente nicht ansprachen.[10][6] Zur Abgrenzung gegen die bisherigen Neuroleptika wurden diese neuen Wirkstoffe als atypische Neuroleptika oder Neuroleptika der zweiten Generation bezeichnet, die alten Wirkstoffe hingegen als typische, konventionelle oder klassische Neuroleptika.[12] Seitdem wurden eine Reihe weiterer atypische Neuroleptika erforscht und auf den Markt gebracht.[10]

Pharmakologie

Wirkmechanismus

Neuroleptika hemmen die Übertragung des körpereigenen Botenstoffs Dopamin. Ein erhöhter Dopaminspiegel im Gehirn kann zu Halluzinationen und Wahnvorstellungen führen, die im Rahmen einer Psychose auftreten können.

Als gesichert gilt heute, dass der Wirkungsmechanismus von Neuroleptika auf einem Eingreifen in die synaptische Erregungsübertragung innerhalb des Gehirns beruht, wobei alle derzeitigen Neuroleptika die Übertragung des Neurotransmitters Dopamin hemmen. Zusätzlich können Neuroleptika mit Rezeptoren für Serotonin, Acetylcholin, Histamin und Noradrenalin interagieren.

Neuroleptika wirken symptomatisch, können also psychische Krankheiten nicht im eigentlichen Sinne heilen. Symptome wie Halluzinationen, Wahn oder Erregungszustände können aber zumindest für die Dauer der medikamentösen Behandlung unterdrückt werden. Dies ermöglicht dem Patienten eine Distanzierung von der Erkrankung, sodass er seinen eigenen Zustand als krankhaft erkennen kann.

Neuroleptika haben sowohl eine antipsychotische als auch eine sedierende Wirkkomponente, die je nach Wirkstoff unterschiedlich stark ausgeprägt ist. Bei den typischen Neuroleptika stehen diese Wirkungen dabei in direktem Verhältnis zueinander. So wirken Stoffe mit einer hohen neuroleptischen Potenz hauptsächlich antipsychotisch und kaum sedierend. Sie eignen sich daher besonders zur Behandlung von sogenannten Positivsymptomen wie Wahn und Halluzinationen. Bei Stoffen mit einer niedrigen neuroleptischen Potenz ist es umgekehrt, sie wirken hauptsächlich sedierend und kaum antipsychotisch. Daher werden sie bei Symptomen wie Unruhe, Angst, Schlafstörungen und Erregungszuständen verabreicht. Der zu verabreichende Wirkstoff kann dementsprechend je nach Behandlungsziel ausgewählt werden.[1]

Auch eine kombinierte Einnahme ist möglich. Häufig bei der Behandlung einer akuten Psychose ist beispielsweise die tägliche Gabe eines antipsychotisch wirksamen Stoffes, während ein sedierendes Präparat bei Bedarf zusätzlich eingenommen werden kann.

Unerwünschte Wirkungen

Die möglichen unerwünschten Wirkungen hängen stark vom jeweiligen Wirkstoff und der Dosierung ab.

Bei den unerwünschten Wirkungen sind solche vegetativer Art (hormonelle und sexuelle Störungen, Muskel- und Bewegungsstörungen, Schwangerschaftsschäden, Körpertemperaturstörungen etc.) und solche psychischer Art (sedierende Wirkungen, Depressionen, Antriebslosigkeit, emotionale Verarmung, Verwirrtheit, andere Wirkungen auf das Zentralnervensystem etc.) zu unterscheiden.

Störung von Bewegungsabläufen

Neuroleptika können Bewegungsstörungen verursachen, die in ihrem Erscheinungsbild der Parkinson-Krankheit ähneln
Typische Bewegungsstörungen wie „Trippeln“ und motorische Unruhe einer an Akathisie leidenden Patientin (man beachte den Drang, im Stehen statt im Sitzen zu essen).

Eine Folge der hemmenden Wirkung auf den Überträgerstoff Dopamin ist die Störung von körperlichen Bewegungsabläufen, da Dopamin daran wesentlich beteiligt ist. Da diese Störungen das extrapyramidalmotorische System betreffen, werden sie häufig unter den synonymen Begriffen extrapyramidalmotorische Symptome,[6] extrapyramidalmotorische Störungen[10] oder extrapyramidales Syndrom[13] zusammengefasst (abgekürzt EPS oder EPMS). Die EPMS lassen sich weiter unterteilen in folgende Symptome:

  • Akathisie: Bewegungsunruhe, die den Betroffenen dazu bringt, ständig umher zu laufen oder sinnlos erscheinende Bewegungen wie auf der Stelle treten oder Wippen mit dem Knie zu vollziehen.
  • Frühdyskinesien: Unwillkürliche Bewegungen bis hin zu krampfartigen Anspannungen von Muskeln und Muskelgruppen. Möglich sind auch Zungen- und Schlundkrämpfe.
  • Parkinsonoid: Bewegungsstörungen, die in ihrem Erscheinungsbild der Parkinson-Krankheit ähneln. Häufig ist dabei eine Muskelstarre (Rigor), die die Bewegungen des Betroffenen ungelenk und roboterartig erscheinen lässt. Für Außenstehende auffällig ist oft ein kleinschrittiger, langsamer, schlurfender Gang. Dieses Phänomen wird in den USA umgangssprachlich als „thorazine shuffle“ bezeichnet (englisch to shuffle = schlurfen, Thorazine ist der Handelsname eines Neuroleptikums).[14][15] Auch dystone Störungen wie zum Beispiel ein Schiefhals kommen vor. Zur Früherkennung solcher Störungen kann der auf Handschriftenbeobachtung beruhende Haase-Schwellen-Test (HST) genutzt werden.
  • Spätdyskinesien: Bei Langzeitbehandlungen treten in bis zu 20 % aller Fälle Spätdyskinesien, auch tardive Dyskinesien genannt, auf. Dabei handelt es sich um Bewegungsstörungen im Gesichtsbereich (Zuckungen, Schmatz- und Kaubewegungen) oder Hyperkinesen (unwillkürliche Bewegungsabläufe) der Extremitäten. Die Schwere dieser Störungen hängt von Dosierung und Dauer der neuroleptischen Behandlung ab. Spätdyskinesien bilden sich in einigen Fällen auch nach Absetzen des Neuroleptikums nicht zurück und bleiben ein Leben lang. Das Absetzen des Neuroleptikums kann die Beschwerden vorübergehend verstärken, verhindert aber langfristig das weitere Fortschreiten.

Ein Anticholinergikum wie Biperiden kann diesen Symptomen entgegenwirken und daher ergänzend verabreicht werden.[16] Spätdyskinesien sprechen darauf allerdings nicht an.

Schädigung des Gehirns

Die Behandlung mit Neuroleptika führt zu einem dosis- und zeitabhängigen Umbau der Struktur des Gehirns mit einer Verschiebung der Verhältnisses von grauer zu weißer Substanz und einer Verringerung des Volumens verschiedener seiner Strukturen[17]. Eine an Affen durchgeführte Studie ergab, dass deren Hirnvolumen und -gewicht um etwa 10 % sank, nachdem diese über einen längeren Zeitraum hinweg Neuroleptika in bei der Behandlung von Schizophreniekranken üblichen Dosen erhielten.[18]

Weitere unerwünschte Wirkungen

Weitere mögliche unerwünschte Wirkungen sind Leber- oder Nierenfunktionsstörungen, Herzrhythmusstörungen, Funktionsstörung der Bauchspeicheldrüse, Einschränkungen von Sexualität und Libido, Gewichtszunahme, Hormonstörungen (u. a. bei Frauen: Störungen der Regelblutung). Fallkontrollstudien zeigten auch ein um etwa ein Drittel erhöhtes Risiko für eine Thromboembolie.[19]

Bei Vorliegen einer entsprechenden Disposition können Neuroleptika der Auslöser für sog. Gelegenheitsanfälle sein.

Seltene (bis zu 0,4 %), aber unter Umständen lebensgefährliche Nebenwirkungen sind das Maligne Neuroleptische Syndrom mit Fieber, Muskelsteifigkeit und Bewegungsstarre, Bewusstseinsstörungen, starkem Schwitzen und beschleunigter Atmung sowie Störungen der Bildung weißer Blutkörperchen (Agranulozytose).

Bestimmte Neuroleptika dürfen unter anderem nicht eingenommen werden bei einigen Blutbildveränderungen (z. B. Clozapin), Hirnerkrankungen, akuten Vergiftungen, bestimmten Herzerkrankungen sowie bei schweren Leber- und Nierenschäden. Die Einnahme von Neuroleptika zusammen mit Alkohol oder Beruhigungsmitteln kann zu einer gefährlichen Wirkungsverstärkung führen. Tee, Kaffee und andere koffeinhaltige Getränke können die Wirkung von Neuroleptika verringern. Durch Neuroleptika kann es zu einer Beeinträchtigung des Reaktionsvermögens kommen. Die Fahrtüchtigkeit kann eingeschränkt sein, und es kann zu einer Gefährdung am Arbeitsplatz (zum Beispiel beim Bedienen von Maschinen) kommen.

Antipsychotika schränken Problemlösen[20] und Lernen[21] ein. Sie werden mit der Entstehung von Hypophysentumoren in Verbindung gebracht[22] und können im Alter zu Stürzen führen.

Darreichungsformen

Depotpräparat Risperdal Consta zur intramuskulären Injektion

Neuroleptika werden in verschiedenen Darreichungsformen angeboten. Am häufigsten ist dabei die orale Einnahme in Tablettenform, seltener in flüssiger Form als Tropfen oder Saft. Flüssige Präparate sind zumeist teurer, haben aber den Vorteil einer besseren Resorption im Magen-Darm-Trakt, auch kann bei unkooperativen Patienten die Einnahme besser kontrolliert werden. In psychiatrischen Kliniken werden auch intravenös injizierbare Präparate verabreicht.[23]

Später wurden so genannte Depotpräparate entwickelt, die mit einer Spritze intramuskulär verabreicht werden. Die Bezeichnung „Depot“ kommt daher, dass der injizierte Wirkstoff im Muskelgewebe gespeichert bleibt und von dort langsam in den Blutkreislauf abgegeben wird. Eine Auffrischung der Dosis ist erst nach mehreren Wochen nötig, wenn das Depot erschöpft ist. Dadurch erhöht sich die tendenziell geringe Compliance von Neuroleptika-Patienten, da ein Vergessen oder eigenmächtiges Absetzen der Medikation für diesen Zeitraum ausgeschlossen wird. Sie besitzen im Vergleich zur oralen und intravenösen Verabreichung auch pharmakokinetische Vorteile wie eine bessere Verfügbarkeit und durch die langsame, kontinuierliche Freisetzung des Wirkstoffes im Blut einen stabileren Plasmaspiegel, wodurch Nebenwirkungen verringert werden können.[24]

Im Rahmen einer Zwangsbehandlung können Neuroleptika in psychiatrischen Kliniken unter bestimmten Voraussetzungen auch gegen den Willen des Patienten verabreicht werden. Hierbei kommen häufig injizierbare Präparate zum Einsatz, da zur oralen Einnahme bestimmte Präparate von unkooperativen Patienten ausgespuckt oder im Mund versteckt werden können.

Neuroleptische Schwelle und neuroleptische Potenz

Nach Einführung der Neuroleptika stellte der Pionierforscher und renommierte Psychiater[7] Hans-Joachim Haase fest, dass eine Substanz umso stärker antipsychotisch wirkte, je größer ihre extrapyramidalmotorischen Nebenwirkungen waren. Er führte 1961 die Begriffe neuroleptische Schwelle und neuroleptische Potenz ein.[25]

Die neuroleptische Schwelle definierte Haase als die minimale Dosis eines Wirkstoffes, bei der messbare extrapyramidalmotorische Nebenwirkungen auftreten. Entsprechend Haases früherer Beobachtung ist sie gleichzeitig die minimale antipsychotisch wirksame Dosis.[25][12]

Die neuroleptische Potenz ist ein Maß für die Wirksamkeit einer Substanz. Je höher die neuroleptische Potenz, desto geringer ist die Dosis, die zum Erreichen der neuroleptischen Schwelle nötig ist.[25]

Für die neueren atypischen Neuroleptika verloren diese Konzepte ihre Gültigkeit, da bei diesen Wirkstoffen kein direkter Zusammenhang zwischen der antipsychotischen Wirkung und dem Auftreten von extrapyramidalmotorischen Nebenwirkungen besteht.[25][12]

Äquivalenzdosen

Um verschiedene Neuroleptika hinsichtlich ihrer Wirksamkeit vergleichen zu können, wurde das Konzept der Äquivalenzdosen erdacht. Dabei handelt es sich um eine Maßeinheit, die als Faktor Chlorpromazin-Äquivalent (CPZ) angegeben wird. Als Referenzwert von 1 wurde die Wirkstärke von Chlorpromazin festgelegt, dem ersten als Neuroleptikum verwendeten Wirkstoff. Ein Wirkstoff mit einem CPZ von 2 ist bei gleicher Dosierung doppelt so stark antipsychotisch wirksam wie Chlorpromazin.[12] Das Konzept der Äquivalenzdosis ist vor allem im Zusammenhang mit den typischen Neuroleptika von Bedeutung, da sich diese hinsichtlich ihrer Wirkungsweise ähneln und vorrangig durch ihre neuroleptische Potenz unterscheiden. Die atypischen Neuroleptika unterscheiden sich wesentlich stärker hinsichtlich ihrer Wirkungsweise, Nebenwirkungen und Einsatzgebiete, wodurch ein direkter Vergleich mittels einer Äquivalenzdosis an Bedeutung verliert.[26]

Je nach der Potenz werden klassische Neuroleptika in drei Klassen unterteilt:

  • niederpotente Neuroleptika (CPZi ≤ 1,0)
Beispiele: Promethazin, Levomepromazin, Thioridazin, Promazin
  • mittelpotente Neuroleptika (CPZi = 1,0–10,0)
Beispiele: Chlorpromazin, Perazin, Zuclopenthixol
  • hochpotente Neuroleptika (CPZi > 10,0)
Beispiele: Perphenazin, Fluphenazin, Haloperidol, Benperidol
Neuroleptikum
(Arzneistoff)
Stoffklasse CPZ-
Äquivalent X
mittlere (-max.) Dosis
je Tag in mg
Hochpotente N.:
Benperidol Butyrophenon 75 1,5–20 (–40)
Haloperidol Butyrophenon 50 1,5–20 (–100)
Bromperidol Butyrophenon 50 5–20 (–50)
Flupentixol Thioxanthen 50 3–20 (–60)
Fluspirilen DPBP 50 1,5–10 mg/Wo. (max.)
Olanzapin Thienobenzodiazepin 50 5–20 (max.)
Pimozid DPBP 50 1–4 (–16)
Risperidon Benzisoxazolderivat 50 2–8 (–16)
Fluphenazin Phenothiazin 40 2,5–20 (–40)
Trifluoperazin Phenothiazin 25 1–6 (–20)
Perphenazin Phenothiazin 15 4–24 (–48)
Mittelpotente N.:
Zuclopenthixol Thioxanthen 5 20–40 (–80)
Clopenthixol Thioxanthen 2,5 25–150 (–300)
Chlorpromazin Phenothiazin 1 25–400 (–800)
Clozapin Dibenzodiazepin 1 12,5–450 (–900)
Melperon Butyrophenon 1 25–300 (–600)
Perazin Phenothiazin 1 75–600 (–800)
Quetiapin Dibenzothiazepin 1 150–750 (max.)
Thioridazin Phenothiazin 1 25–300 (–600)
Niedrigpotente N.:
Pipamperon Butyrophenon 0,8 40–360 (max.)
Triflupromazin Phenothiazin 0,8 10–150 (–600)
Chlorprothixen Thioxanthen 0,8 100–420 (–800)
Prothipendyl Azaphenothiazin 0,7 40–320 (max.)
Levomepromazin Phenothiazin 0,5 25–300 (–600)
Promazin Phenothiazin 0,5 25–150 (–1.000)
Promethazin Phenothiazin 0,5 50–300 (–1.200)
Amisulprid Benzamid 0,2 50–1.200 (max.)
Sulpirid Benzamid 0,2 200–1.600 (–3.200)

(Modifiziert nach Möller 2001, S. 243)

Vergleich zwischen typischen und atypischen Neuroleptika

Die neueren atypischen Neuroleptika werden von Herstellern als wirksamer, nebenwirkungsärmer und verträglicher als die älteren Präparate beworben. Die Unterschiede zwischen typischen und atypischen Präparaten wurden durch eine Vielzahl an vergleichenden Studien untersucht.[27][28][29][30][31] Atypische Neuroleptika sind auf die Positivsymptome einer Schizophrenie ähnlich wirksam wie typische Neuroleptika und wirken häufig auch bei einer Therapieresistenz gegenüber den älteren Präparaten.[32] Zusätzlich wirken sie besser auf die Negativsymptome.[32] Sie verursachen in geringerem Maße extrapyramidalmotorische Störungen,[32] besitzen insgesamt ein günstigeres Nebenwirkungsprofil und erwirken dadurch eine höhere Compliance. Sie können allerdings andere, neue Nebenwirkungen wie starke Gewichtszunahme aufweisen. Im Jahre 2009 wurde eine deutschlandweite, durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte Studie ins Leben gerufen, die häufig verschriebene atypische Neuroleptika hinsichtlich Wirksamkeit und Nebenwirkungsprofil mit klassischen Neuroleptika vergleicht und bis heute andauert.[33]

Kritisiert wird das Kosten-Nutzen-Verhältnis moderner atypischer Neuroleptika.[34][32] Die neueren Präparate sind deutlich teurer als die Medikamente der ersten Generation, unter anderem deshalb, weil aufgrund des Patentschutzes noch keine Generika verfügbar sind. Atypische Neuroleptika machen derzeit in Deutschland etwa die Hälfte aller verschriebenen Neuroleptika aus, sind aber für 87 % der erzielten Umsätze verantwortlich.[35] Laut einem von der Barmer GEK veröffentlichten Arzneimittelreport waren im Jahr 2011 unter den 20 am meisten Kosten verursachenden Präparaten mit Seroquel (Quetiapin) und Zyprexa (Olanzapin) zwei atypische Neuroleptika vertreten.[36] Der Arzneiverordnungs-Report 2012 kritisiert unter anderem die Präparate Seroquel, Zyprexa und Abilify und ist der Ansicht, dass für diese teuren Präparate ältere, ähnlich gut wirksame Alternativen zur Verfügung stehen, deren Verwendung deutliche Einsparungen ermöglichen würden.[37]

Chemie

Trizyklische Neuroleptika (Phenothiazine und Thioxanthene)

Chlorpromazin – ein Phenothiazin

Seit den 1950er-Jahren finden die trizyklischen Neuroleptika therapeutische Anwendung. Sie besitzen ein trizyklisches Phenothiazin- (Phenothiazine: zum Beispiel Chlorpromazin, Fluphenazin, Levomepromazin, Prothipendyl, Perazin, Promazin, Thioridazin und Triflupromazin) oder Thioxanthenringsystem (Thioxanthene: zum Beispiel Chlorprothixen und Flupentixol). Das trizyklische Promethazin war zudem das erste therapeutisch genutzte Antihistaminikum. Strukturell ähneln trizyklische Neuroleptika weitgehend den trizyklischen Antidepressiva. Unterschiede in der pharmakologischen Wirkung zwischen beiden Substanzklassen werden mit einer voneinander abweichenden dreidimensionalen Konformation des trizyklischen Ringsystems in Verbindung gebracht.

Dibenzepine

Quetiapin, ein Dibenzepin

Von den älteren trizyklischen Neuroleptika sind die neueren trizyklischen Dibenzepine (zum Beispiel Clozapin, Olanzapin, Quetiapin und Zotepin) abzugrenzen. Sie verfügen über ein Dibenzothiepin- (Zotepin), Dibenzodiazepin- (Clozapin), Thienobenzodiazepin- (Olanzapin) oder ein Dibenzothiazepin-Ringsystem (Quetiapin), welche eine von den klassischen trizyklischen Neuroleptika abweichende dreidimensionale Anordnung besitzen und somit für deren abweichende (atypische) pharmakologische Wirkung verantwortlich sind.

Butyrophenone und Diphenylbutylpiperidine

Haloperidol, ein Butyrophenon

Die Butyrophenone (z. B. Haloperidol, Melperon, Bromperidol und Pipamperon) zeichnen sich chemisch durch einen 1-Phenyl-1-butanon-Baustein aus. Ausgehend vom Haloperidol wurden zahlreiche weitere Neuroleptika entwickelt, etwa das Spiperon mit klar erkennbarer Strukturverwandtschaft zu den Butyrophenonen. Therapeutische Anwendung finden auch die abgeleiteten Diphenylbutylpiperidine Fluspirilen und Pimozid.

Benzamide

Eine Sonderstellung nehmen die Benzamide (Wirkstoffe Sulpirid und Amisulprid) ein, die außer einem neuroleptischen noch einen gewissen stimmungsaufhellenden, aktivierenden Effekt haben.

Benzisoxazol-Derivate, andere Stoffe

Zwischen den „AtypikaRisperidon und Ziprasidon bestehen ebenfalls Strukturparallelen, sie können als entfernt mit Haloperidol verwandt betrachtet werden. Das neuere Aripiprazol weist einige Gemeinsamkeiten mit den älteren Substanzen auf. Während Risperidon besonders stark antipsychotisch wirkt, zeigt Ziprasidon noch einen Noradrenalin-spezifischen Effekt. Aripiprazol ist ein Partialagonist an Dopamin-Rezeptoren und in diesem Punkt von sämtlichen übrigen Neuroleptika verschieden.

Alkaloide

Das pentazyklische Rauvolfia-Alkaloid Reserpin hat in der Therapie der Schizophrenie nur noch historische Bedeutung.

Präventivbehandlung

Bisherigen Studienergebnissen zufolge verringert eine präventive Langzeitbehandlung mit Neuroleptika bei Schizophreniekranken die Wahrscheinlichkeit, einen Rückfall zu erleiden.[38] Einer anderen Studie zufolge können jedoch Schizophreniekranke, die nicht mit Neuroleptika behandelt werden, unter Umständen weniger psychotische Rezidive erleiden als solche, die regelmäßig Neuroleptika einnehmen. Personeninterne Faktoren beeinflussen die Wahrscheinlichkeit, ein Rezidiv zu erleiden, möglicherweise stärker als die Verlässlichkeit der Medikamenteneinnahme.[39]

Literatur

Weblinks

Commons: Neuroleptika – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. a b Peter Riederer, Gerd Laux, Walter Pöldinger: Neuro-Psychopharmaka – Ein Therapie-Handbuch - Band 4: Neuroleptika. 2. Auflage. ISBN 3-211-82943-1, S. 28.
  2. David J. Posey, Kimberly A. Stigler, Craig A. Erickson, Christopher J. McDougle: Antipsychotics in the treatment of autism. PMC 2171144 (freier Volltext)
  3. T. Pringsheim, M. Pearce: Complications of antipsychotic therapy in children with tourette syndrome. PMID 20682197
  4. J Chen, K Gao, DE. Kemp: Second-generation antipsychotics in major depressive disorder: update and clinical perspective. PMID 21088586
  5. K Komossa, AM Depping, M Meyer, W Kissling, S. Leucht: Second-generation antipsychotics for obsessive compulsive disorder. PMID 21154394
  6. a b c d e f g Frank Theisen, Helmut Remschmidt: Schizophrenie - Manuale psychischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen. ISBN 3-540-20946-8, S. 150.
  7. a b c d Christoph Lanzendorfer, Joachim Scholz: Psychopharmaka. Springer Berlin Heidelberg, Berlin, Heidelberg 1995, ISBN 978-3-642-57779-6, S. 118.
  8. a b Wolfgang Gaebel, Peter Falkai: Behandlungsleitlinie Schizophrenie. ISBN 3-7985-1493-3, S. 195.
  9. Elisabeth Höwler: Gerontopsychiatrische Pflege. Schlütersche, Hannover 2004, ISBN 3-89993-411-3, S. 15.
  10. a b c d Harald Schmidt, Claus-Jürgen Estler: Pharmakologie und Toxikologie. Schattauer, Stuttgart 2007, ISBN 978-3-7945-2295-8, S. 229.
  11. Frank Theisen, Helmut Remschmidt: Schizophrenie - Manuale psychischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen. ISBN 3-540-20946-8, S. 165.
  12. a b c d Wolfgang Gaebel, Peter Falkai: Behandlungsleitlinie Schizophrenie. ISBN 3-7985-1493-3, S. 46.
  13. NeuroIntensiv / Stefan Schwab ... (Hrsg.). Springer-Medizin-Verl., Heidelberg 2012, ISBN 978-3-642-16910-6, S. 286.
  14. Deborah Kent: Snake Pits, Talking Cures, & Magic Bullets: A History of Mental Illness. 2003, ISBN 0-7613-2704-5, S. 108.
  15. Sharon Packer: Cinema's Sinister Psychiatrists: From Caligari to Hannibal. ISBN 0-7864-6390-2, S. 18.
  16. Hans-Jürgen Möller: Therapie psychischer Erkrankungen. ISBN 3-13-117663-6, S. 231.
  17. Puri BK.: Brain tissue changes and antipsychotic medication. In: Expert Rev Neurother. 2011, PMID 21721911.
  18. K-A Dorph-Petersen, J Pierri, J Perel, Z Sun, A-R Sampson, D Lewis: The Influence of Chronic Exposure to Antipsychotic Medications on Brain Size before and after Tissue Fixation: A Comparison of Haloperidol and Olanzapine in Macaque Monkeys. In: Neuropsychopharmacology, 2005, 30, S. 1649–1661
  19. C. Parker, C. Coupland, J. Hippisley-Cox: Antipsychotic drugs and risk of venous thromboembolism: nested case-control study. In: BMJ (British Medical Journal). 341. Jahrgang, 2010, S. c4245, PMID 20858909.
  20. Wasserman JI, Barry RJ, Bradford L, Delva NJ, Beninger RJ.: Probabilistic classification and gambling in patients with schizophrenia receiving medication: comparison of risperidone, olanzapine, clozapine and typical antipsychotics. In: Psychopharmacology (Berl). 2012, PMID 22237855.
  21. Harris MS, Wiseman CL, Reilly JL, Keshavan MS, Sweeney JA.: Effects of risperidone on procedural learning in antipsychotic-naive first-episode schizophrenia. In: Neuropsychopharmacology. 2009, PMID 18536701.
  22. Wasserman JI, Barry RJ, Bradford L, Delva NJ, Beninger RJ.: Atypical antipsychotics and pituitary tumors: a pharmacovigilance study. In: Pharmacotherapy. 2006, PMID 16716128.
  23. Peter Riederer, Gerd Laux, Walter Pöldinger: Neuro-Psychopharmaka: Ein Therapie-Handbuch / Band 4: Neuroleptika. 2. Auflage. Springer Vienna, Vienna 1998, ISBN 3-211-82943-1, S. 209.
  24. Peter Riederer, Gerd Laux, Walter Pöldinger: Neuro-Psychopharmaka: Ein Therapie-Handbuch / Band 4: Neuroleptika. 2. Auflage. Springer Vienna, Vienna 1998, ISBN 978-3-7091-6458-7, S. 233.
  25. a b c d Ulrich Hegerl: Neurophysiologische Untersuchungen in der Psychiatrie. ISBN 3-211-83171-1, S. 183.
  26. Wolfgang Gaebel, Peter Falkai: Behandlungsleitlinie Schizophrenie. ISBN 3-7985-1493-3, S. 48.
  27. T Stargardt, S Weinbrenner, R Busse, G Juckel, CA. Gericke: Effectiveness and cost of atypical versus typical antipsychotic treatment for schizophrenia in routine care. PMID 18509216
  28. John Geddes, Nick Freemantle, Paul Harrison, Paul Bebbington: Atypical antipsychotics in the treatment of schizophrenia: systematic overview and meta-regression analysis. PMC 27538 (freier Volltext)
  29. C Stanniland, D. Taylor: Tolerability of atypical antipsychotics, Abgerufen am 26. Januar 2013
  30. B Luft, D Taylor: A review of atypical antipsychotic drugs versus conventional medication in schizophrenia. PMID 16925501
  31. S Leucht, G Pitschel-Walz, D Abraham, W. Kissling: Efficacy and extrapyramidal side-effects of the new antipsychotics olanzapine, quetiapine, risperidone, and sertindole compared to conventional antipsychotics and placebo. A meta-analysis of randomized controlled trials. PMID 9988841
  32. a b c d Borwin Bandelow, Oliver Gruber, Peter Falkai: Kurzlehrbuch Psychiatrie. Steinkopff, [Berlin] 2008, ISBN 978-3-7985-1835-3, S. 236.
  33. The Neuroleptic Strategy Study – NeSSy. Kompetenzzentrum für klinische Studien Bremen
  34. Frank Theisen, Helmut Remschmidt: Schizophrenie - Manuale psychischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen. ISBN 3-540-20946-8, S. 162.
  35. Jürgen Fritze: Psychopharmaka-Verordnungen: Ergebnisse und Kommentare zum Arzneiverordnungsreport 2011. (PDF; 3,6 MB), abgerufen am 24. Januar 2013
  36. BARMER GEK Arzneimittelreport 2012 (PDF; 377 kB) Barmer GEK, Abgerufen am 25. Januar 2013
  37. Markus Grill: Arzneiverordnungsreport 2012: Ein Drittel aller neuen Pillen ist überflüssig. Spiegel Online, abgerufen 25. Januar 2013
  38. Peter Riederer, Gerd Laux, Walter Pöldinger: Neuro-Psychopharmaka – Ein Therapie-Handbuch - Band 4: Neuroleptika. 2. Auflage. ISBN 3-211-82943-1, S. 211.
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