„Europäische Öffentlichkeit“ – Versionsunterschied

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'''Europäische Öffentlichkeit''' ist eine Erweiterung des [[Öffentlichkeit|Öffentlichkeitsbegriffs]], der im weitesten Sinne die Gesamtheit aller Umstände bezeichnet, die für die Bildung der [[Öffentliche Meinung|öffentlichen Meinung]] von Bedeutung sind. Als „europäische Öffentlichkeit“ ist eine massenmedial hergestellte Öffentlichkeit zu bezeichnen, die abgegrenzte (Sprach-)Räume in [[Europa]] überwindet und miteinander verbindet. Öffentlichkeit und damit Transparenz in öffentlichen Angelegenheiten und unter anderem politischen Entscheidungen sind eine wichtige Voraussetzung der öffentlichen Kontrolle politischer Macht durch den europäischen Bürger. Auch der Demokratiebegriff innerhalb der EU ist unweigerlich mit einer Vorstellung von einer europäischen Öffentlichkeit verbunden.
'''Europäische Öffentlichkeit''' ist eine Erweiterung des [[Öffentlichkeit|Öffentlichkeitsbegriffs]], der im weitesten Sinne die Gesamtheit aller Umstände bezeichnet, die für die Bildung der [[Öffentliche Meinung|öffentlichen Meinung]] von Bedeutung sind. Als „europäische Öffentlichkeit“ ist eine massenmedial hergestellte Öffentlichkeit zu bezeichnen, die abgegrenzte (Sprach-)Räume in [[Europa]] überwindet und miteinander verbindet. Öffentlichkeit und damit Transparenz in öffentlichen Angelegenheiten und unter anderem politischen Entscheidungen sind eine wichtige Voraussetzung der öffentlichen Kontrolle politischer Macht durch den europäischen Bürger. Auch der Demokratiebegriff innerhalb der EU ist unweigerlich mit einer Vorstellung von einer europäischen Öffentlichkeit verbunden.


Entscheidende Kriterien sind der allgemein freie Zugang zu allen relevanten Gegebenheiten sowie deren ungehinderte Diskutierbarkeit. Hierbei spielen Massenmedien eine wichtige Rolle, da sie aufgrund ihrer stabilen Infrastruktur Informationen und Meinungen zu einer Vielzahl von Themen an ein Massenpublikum vermitteln und Diskurse raumübergreifend abbilden können. Als europäische Öffentlichkeit wären demnach frei zugängliche und ungehindert diskutierbare grenzüberschreitende Kommunikationsprozesse zu bezeichnen.<ref>Vgl. http://www.springerlink.com/content/l017860853t86526/</ref> Aufgrund bestehender sprachlicher, kultureller und politischer Barrieren in Europa finden diese Prozesse jedoch nur selten statt. Dementsprechend ist auch keine europäische öffentliche Meinung vorhanden, die eine [[Transnational|transnationale]] europäische Meinungs- und Willensbildung erlauben würde.
Entscheidende Kriterien sind der allgemein freie Zugang zu allen relevanten Gegebenheiten sowie deren ungehinderte Diskutierbarkeit. Hierbei spielen Massenmedien eine wichtige Rolle, da sie aufgrund ihrer stabilen Infrastruktur Informationen und Meinungen zu einer Vielzahl von Themen an ein Massenpublikum vermitteln und Diskurse raumübergreifend abbilden können. Als europäische Öffentlichkeit wären demnach frei zugängliche und ungehindert diskutierbare grenzüberschreitende Kommunikationsprozesse zu bezeichnen.<ref name="springer-01786085386526">Vgl. Friedhelm Neidhardt: ''Europäische Öffentlichkeit als Prozess. Anmerkungen zum Forschungsstand.'' In: Wolfgang R. Langenbucher, Michael Latzer (Hrsg.): ''Europäische Öffentlichkeit und medialer Wandel.'' 2006, S.&nbsp;46-61. {{DOI|10.1007/978-3-531-90272-2_2}} ISBN 978-3-531-14597-6</ref> Aufgrund bestehender sprachlicher, kultureller und politischer Barrieren in Europa finden diese Prozesse jedoch nur selten statt. Dementsprechend ist auch keine europäische öffentliche Meinung vorhanden, die eine [[Transnational|transnationale]] europäische Meinungs- und Willensbildung erlauben würde.


In diesem Zusammenhang wird europäische Öffentlichkeit auch als Voraussetzung einer Legitimation der Politik der [[Europäische Union|Europäischen Union]] verstanden. Durch europaweite öffentliche Kommunikation soll EU-Politik transparenter werden. In diesem Fall ist europäische Öffentlichkeit eher als Kommunikationsprojekt und nicht -prozess zu verstehen. Zwar ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt eine etablierte europäische Öffentlichkeit nicht existent. Neben dem Verständnis einer Europäischen Öffentlichkeit als geteiltem massenmedialem Raum aller Europäer existiert jedoch die Vorstellung von sektoralen europäischen Fachöffentlichkeiten. Oftmals tritt in diesem Zusammenhang der Begriff eines [[Demokratiedefizit|Demokratiedefizits]] in der EU auf. Der [[Vertrag von Lissabon]] sieht daher erstmals als Instrument der politischen Teilhabe europäischer Bürgerinnen und Bürger eine [[Europäische Bürgerinitiative]] vor.
In diesem Zusammenhang wird europäische Öffentlichkeit auch als Voraussetzung einer Legitimation der Politik der [[Europäische Union|Europäischen Union]] verstanden. Durch europaweite öffentliche Kommunikation soll EU-Politik transparenter werden. In diesem Fall ist europäische Öffentlichkeit eher als Kommunikationsprojekt und nicht -prozess zu verstehen. Zwar ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt eine etablierte europäische Öffentlichkeit nicht existent. Neben dem Verständnis einer Europäischen Öffentlichkeit als geteiltem massenmedialem Raum aller Europäer existiert jedoch die Vorstellung von sektoralen europäischen Fachöffentlichkeiten. Oftmals tritt in diesem Zusammenhang der Begriff eines [[Demokratiedefizit|Demokratiedefizits]] in der EU auf. Der [[Vertrag von Lissabon]] sieht daher erstmals als Instrument der politischen Teilhabe europäischer Bürgerinnen und Bürger eine [[Europäische Bürgerinitiative]] vor.
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=== Theoretische Erklärungsmodelle ===
=== Theoretische Erklärungsmodelle ===
Als Forschungsgegenstand ist europäische Öffentlichkeit für mehrere Disziplinen interessant. Neben kommunikations- und medienwissenschaftlichen Ansätzen, die sich mit kulturellen Aspekten beschäftigen,<ref>Vgl. Cathleen Kantner: Kein modernes Babel: kommunikative Voraussetzungen europäischer Öffentlichkeit, VS Verlag für Sozialwissenschaften. Wiesbaden 2004</ref><ref>Vgl. Michael Brüggemann/Andreas Hepp/Katharina Kleinen-von Königslöw/Hartmut Wessler: Transnationale Öffentlichkeit in Europa: Forschungsstand und Perspektiven, in: Publizistik 54, 391–414. 2009</ref> wurden vor allem Beiträge von Politikwissenschaftlern vorgelegt, deren Fokus auf institutionellen Fragen liegt. Vereinzelt haben auch Europarechtler Aufsätze und Monographien erarbeitet.<ref>Vgl. Claudio Franzius/Ulrich K. Preuß: Europäische Öffentlichkeit, Nomos. Baden-Baden 2004</ref>
Als Forschungsgegenstand ist europäische Öffentlichkeit für mehrere Disziplinen interessant. Neben kommunikations- und medienwissenschaftlichen Ansätzen, die sich mit kulturellen Aspekten beschäftigen,<ref>Vgl. Cathleen Kantner: ''Kein modernes Babel: kommunikative Voraussetzungen europäischer Öffentlichkeit.'' VS Verlag für Sozialwissenschaften. Wiesbaden 2004.</ref><ref>Vgl. Michael Brüggemann, Andreas Hepp u. a.: ''Transnationale Öffentlichkeit in Europa: Forschungsstand und Perspektiven.'' In: ''Publizistik.'' Band 54, Nummer 3, 2009, S.&nbsp;391–414. {{DOI|10.1007/s11616-009-0059-4}}</ref> wurden vor allem Beiträge von Politikwissenschaftlern vorgelegt, deren Fokus auf institutionellen Fragen liegt. Vereinzelt haben auch Europarechtler Aufsätze und Monographien erarbeitet.<ref>Vgl. Claudio Franzius, Ulrich K. Preuß: ''Europäische Öffentlichkeit.'' Nomos. Baden-Baden 2004.</ref>


In der Forschung werden mindestens zwei Ansätze unterschieden, um die mögliche Entstehung einer allgemeinen Europäischen Öffentlichkeit zu erklären:
In der Forschung werden mindestens zwei Ansätze unterschieden, um die mögliche Entstehung einer allgemeinen Europäischen Öffentlichkeit zu erklären:
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2) '''Modell einer zunehmenden Europäisierung der Debatten und Bezugnahmen in nationalen Medien'''
2) '''Modell einer zunehmenden Europäisierung der Debatten und Bezugnahmen in nationalen Medien'''


Nationale Medien sind heute eigenständige Akteure im Europäisierungsprozess. Sie ordnen Themen in öffentlichen Debatten Relevanz zu<ref>Vgl. Benjamin Page: "The Mass Media as Political Actors." In: "Political Science and Politics",20-25.1996</ref> und können das europäische Integrationsprojekt sogar unterstützend vertreten.<ref>Vgl. Ruud Koopmans/Barbara Pfetsch: "Obstacles or motors of Europeanization? German media and the transnationalization of public debate." In: "Communications", 115-138.2006</ref> Es kann dabei festgestellt werden, dass eine erhöhte Kompetenz auf europäischer Ebene auch eine Zunahme an [[Europäisierung (Politikwissenschaft)|Europäisierung]] von Debatten, beispielsweise in der [[Agrarpolitik]], zur Folge hat.<ref>Vgl. Ruud Koopmans/Barbara Pfetsch: "Towards a Europeanised Public Sphere? Comparing Political Actors and the Media in Germany.", ARENA Working Paper, 23/2003</ref> Es besteht die Notwendigkeit einer zeitgleichen Begleitung öffentlicher [[Politische Kommunikation|politischer Kommunikation]] bei weiteren Integrationsschritten, da anderenfalls eine ausreichende Transparenz, Kontrolle und [[Politische Partizipation|Partizipation]] nicht gewährleistet werden kann. Nach Eder und Kantner entsteht eine europäische Öffentlichkeit außerdem durch die Synchronisierung europapolitischer Debatten. Wenn also die gleichen europäischen Themen unter gleichen Relevanzgesichtspunkten gleichzeitig in unterschiedlichen Ländern debattiert werden, dann kommt es zur Europäisierung nationaler Öffentlichkeiten. Koopmans und Pfetsch unterscheiden hier zwischen horizontaler und vertikaler Europäisierung. Eine transnationale Diffusion und ein Austausch von Themen und Akteuren zwischen nationalen Mediensystemen verbergen sich hinter der horizontalen Europäisierung.
Nationale Medien sind heute eigenständige Akteure im Europäisierungsprozess. Sie ordnen Themen in öffentlichen Debatten Relevanz zu<ref>Vgl. Benjamin Page: [http://journals.cambridge.org/action/displayAbstract?fromPage=online&aid=8784216&fileId=S1049096500044000 ''The Mass Media as Political Actors.''] In: ''Political Science and Politics'' Band 29, Nummer 1, 1996, S.&nbsp;20-24. {{DOI|10.2307/420185}}</ref> und können das europäische Integrationsprojekt sogar unterstützend vertreten.<ref>Vgl. Ruud Koopmans, Barbara Pfetsch: ''Obstacles or motors of Europeanization? German media and the transnationalization of public debate.'' In: ''Communications.'' Band 31, Heft 2, 2006, S.&nbsp;115-138. {{DOI|10.1515/COMMUN.2006.009}}</ref> Es kann dabei festgestellt werden, dass eine erhöhte Kompetenz auf europäischer Ebene auch eine Zunahme an [[Europäisierung (Politikwissenschaft)|Europäisierung]] von Debatten, beispielsweise in der [[Agrarpolitik]], zur Folge hat.<ref>Vgl. Ruud Koopmans, Barbara Pfetsch: [http://www.sv.uio.no/arena/english/research/publications/arena-publications/workingpapers/working-papers2003/wp03_23.pdf ''Towards a Europeanised Public Sphere? Comparing Political Actors and the Media in Germany.''] ARENA Working Paper, 23/2003.</ref> Es besteht die Notwendigkeit einer zeitgleichen Begleitung öffentlicher [[Politische Kommunikation|politischer Kommunikation]] bei weiteren Integrationsschritten, da anderenfalls eine ausreichende Transparenz, Kontrolle und [[Politische Partizipation|Partizipation]] nicht gewährleistet werden kann. Nach Eder und Kantner entsteht eine europäische Öffentlichkeit außerdem durch die Synchronisierung europapolitischer Debatten. Wenn also die gleichen europäischen Themen unter gleichen Relevanzgesichtspunkten gleichzeitig in unterschiedlichen Ländern debattiert werden, dann kommt es zur Europäisierung nationaler Öffentlichkeiten. Koopmans und Pfetsch unterscheiden hier zwischen horizontaler und vertikaler Europäisierung. Eine transnationale Diffusion und ein Austausch von Themen und Akteuren zwischen nationalen Mediensystemen verbergen sich hinter der horizontalen Europäisierung.


Dieser Prozess kann auch innerhalb abgegrenzter (Sprach-)Räume geschehen: Wenn die Zahl der europäischen Politikthemen und Akteure in den nationalen Medien wächst und diese Medien zunehmend aufeinander Bezug nehmen oder sich vernetzen, entsteht eine europäische Öffentlichkeit. Diese Ein- und Auswirkungen von EU-Themen und -Akteuren auf den nationalen politisch-medialen Diskurs werden unter den Begriff der vertikalen Europäisierung gefasst.
Dieser Prozess kann auch innerhalb abgegrenzter (Sprach-)Räume geschehen: Wenn die Zahl der europäischen Politikthemen und Akteure in den nationalen Medien wächst und diese Medien zunehmend aufeinander Bezug nehmen oder sich vernetzen, entsteht eine europäische Öffentlichkeit. Diese Ein- und Auswirkungen von EU-Themen und -Akteuren auf den nationalen politisch-medialen Diskurs werden unter den Begriff der vertikalen Europäisierung gefasst.


Als konkretes Beispiel aus dem Alltagsleben für ein Ergebnis dieser Art von Europäischer Öffentlichkeit kann das [[Rauchverbot]] in Restaurants gesehen werden, das nach und nach in den Mitgliedsstaaten umgesetzt wird. Auch während der [[HUS-Epidemie 2011|EHEC-Epidemie 2011]] wurden neben den nationalen Meldungen die Debatten in anderen Mitgliedsstaaten mitverfolgt.<ref>[http://www.euractiv.de/zukunft-und-reformen/artikel/keiner-sollte-angst-vor-der-europaisierung-deutschlands-haben-005305 Keine Angst vor der Europäisierung Deutschlands] [[Bernd Hüttemann]] im Interview mit EurActiv.de, 30. August 2011</ref>
Als konkretes Beispiel aus dem Alltagsleben für ein Ergebnis dieser Art von Europäischer Öffentlichkeit kann das [[Rauchverbot]] in Restaurants gesehen werden, das nach und nach in den Mitgliedsstaaten umgesetzt wird. Auch während der [[HUS-Epidemie 2011|EHEC-Epidemie 2011]] wurden neben den nationalen Meldungen die Debatten in anderen Mitgliedsstaaten mitverfolgt.<ref>{{Internetquelle|url=http://www.euractiv.de/zukunft-und-reformen/artikel/keiner-sollte-angst-vor-der-europaisierung-deutschlands-haben-005305 |titel=Keine Angst vor der Europäisierung Deutschlands [[Bernd Hüttemann]] im Interview mit EurActiv.de|datum = 30. August 2011|zugriff=2015-01-12}|offline=ja}.</ref>


=== Voraussetzungen und damit verbundene Probleme ===
=== Voraussetzungen und damit verbundene Probleme ===
Die Forschung zur Europäischen Öffentlichkeit verortet die Probleme, die mit ihrer Entstehung verbunden sind, vor allem bei politischen Akteuren, institutionellen Strukturen und Mediensystemen. Neben allgemeinen Bedingungen für Öffentlichkeitsbildung wird jedoch auch auf spezifische Probleme verwiesen, die sich aus dem Wesen der Europäischen Union ergeben.<ref>Vgl. Hans-Jörg Trenz: "Europäische Öffentlichkeit und die verspätete Politisierung der EU"</ref>
Die Forschung zur Europäischen Öffentlichkeit verortet die Probleme, die mit ihrer Entstehung verbunden sind, vor allem bei politischen Akteuren, institutionellen Strukturen und Mediensystemen. Neben allgemeinen Bedingungen für Öffentlichkeitsbildung wird jedoch auch auf spezifische Probleme verwiesen, die sich aus dem Wesen der Europäischen Union ergeben.<ref name="trenz">Vgl. Hans-Jörg Trenz: [http://www.fes.de/ipg/IPG1_2006/TRENZ.PDF ''Europäische Öffentlichkeit und die verspätete Politisierung der EU.''] IPG 1, 2006, S.&nbsp;117-133.</ref>


==== Gemeinsamer Erfahrungsraum ====
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==== Kollektive europäische Identität ====
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{{Hauptartikel|Europäische Identität}}
{{Hauptartikel|Europäische Identität}}
In der Debatte um die [[Konstitutionalisierung]] der EU wird immer wieder diskutiert, ob eine [[Europäertum#Versuche der Identitätsstiftung im Rahmen europäischer Politik|kollektive europäische Identität]] Voraussetzung oder Ergebnis der Entwicklung einer Europäischen Öffentlichkeit sei. Aus soziologischer Perspektive zählt beim „identity building“ der Prozess der politischen Selbstverständigung und kollektiven Identitätsfindung. Trenz ist der Meinung, dass sich die [[europäische Integration]] in diesem Prozess befindet. Ausgetragen werden diese identitätsstärkenden Aushandlungsprozesse im Verwaltungsalltag, zum Beispiel in der Regional-, Migrations- oder Kulturpolitik. Zudem engagierten sich die offizielle Rhetorik der EU und die Medien in einem Identitätsdiskurs. Daraus schließt Trenz, dass ein Öffentlichkeitsdefizit der EU nicht durch einen Mangel an Identitätskommunikation begründet werden kann.<ref>Vgl. Hans-Jörg Trenz: "Europäische Öffentlichkeit und die verspätete Politisierung der EU"</ref>
In der Debatte um die [[Konstitutionalisierung]] der EU wird immer wieder diskutiert, ob eine [[Europäertum#Versuche der Identitätsstiftung im Rahmen europäischer Politik|kollektive europäische Identität]] Voraussetzung oder Ergebnis der Entwicklung einer Europäischen Öffentlichkeit sei. Aus soziologischer Perspektive zählt beim „identity building“ der Prozess der politischen Selbstverständigung und kollektiven Identitätsfindung. Trenz ist der Meinung, dass sich die [[europäische Integration]] in diesem Prozess befindet. Ausgetragen werden diese identitätsstärkenden Aushandlungsprozesse im Verwaltungsalltag, zum Beispiel in der Regional-, Migrations- oder Kulturpolitik. Zudem engagierten sich die offizielle Rhetorik der EU und die Medien in einem Identitätsdiskurs. Daraus schließt Trenz, dass ein Öffentlichkeitsdefizit der EU nicht durch einen Mangel an Identitätskommunikation begründet werden kann.<ref name="trenz" />


==== Institutionelles Demokratie- und Öffentlichkeitsdefizit ====
==== Institutionelles Demokratie- und Öffentlichkeitsdefizit ====
Nach Thalmeier wird die Ausprägung einer [[Europäische Identität|europäischen Identität]] zudem durch ein [[Demokratiedefizit der Europäischen Union|Demokratiedefizit]] erschwert. Dieses bezieht sich nicht nur auf die europäischen Institutionen, sondern schließt auch strukturelle Mängel an intermediären Vermittlungsstrukturen wie Medien, Parteien und Verbänden mit ein. Eine geringe [[Europäisierung]] nationaler Teilöffentlichkeiten und eine noch schwächer ausgeprägte europäische Öffentlichkeit sind weitere Gründe für eine unzureichende Identifikation mit der EU. Die Andersartigkeit der EU gegenüber "herkömmlichen internationalen Organisationen" oder Nationalstaaten sowie das Beharrungsvermögen auf das nationale Prinzip trügen auch dazu bei.
Nach Thalmeier wird die Ausprägung einer [[Europäische Identität|europäischen Identität]] zudem durch ein [[Demokratiedefizit der Europäischen Union|Demokratiedefizit]] erschwert. Dieses bezieht sich nicht nur auf die europäischen Institutionen, sondern schließt auch strukturelle Mängel an intermediären Vermittlungsstrukturen wie Medien, Parteien und Verbänden mit ein. Eine geringe [[Europäisierung]] nationaler Teilöffentlichkeiten und eine noch schwächer ausgeprägte europäische Öffentlichkeit sind weitere Gründe für eine unzureichende Identifikation mit der EU. Die Andersartigkeit der EU gegenüber "herkömmlichen internationalen Organisationen" oder Nationalstaaten sowie das Beharrungsvermögen auf das nationale Prinzip trügen auch dazu bei.


Eng verbunden mit dem institutionellen Demokratiedefizit sei das Öffentlichkeitsdefizit der EU.<ref>Vgl. http://books.google.de/books?hl=de&lr=&id=TuX00BNB85cC&oi=fnd&pg=PA10&dq=forschungsstand+europäische+öffentlichkeit&ots=jb5vaTKuBu&sig=AE6ysy0ejdjIvzwHADX1sy9yHi0#v=onepage&q=forschungsstand%20europäische%20öffentlichkeit&f=false</ref> Die Bürger innerhalb der EU fühlen sich nach [[Eurobarometer]]-Umfragen von der EU übergangen und wünschen sich ein höheres Maß an Teilhabemöglichkeiten. Um dies zu erreichen, müssen eine Demokratisierung politischer Entscheidungsverfahren stattfinden und die Partizipationsmöglichkeiten auf europäischer Ebene wie zum Beispiel durch Konsultationen ausgeweitet werden. Die Ausbildung einer europäischen Identität hängt entscheidend von der Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit ab. Einen Zusammenhang zwischen europäischer Öffentlichkeit und einem Demokratiedefizit stellt auch das [[Bundesverfassungsgericht]] in seinem [[Lissabon-Urteil]] her.<ref>Vgl. RNr. 251, BVerfG, 2 BvE 2/08 vom 30.6.2009, Absatz-Nr. (1 - 421), http://www.bverfg.de/entscheidungen/es20090630_2bve000208.html.</ref>
Eng verbunden mit dem institutionellen Demokratiedefizit sei das Öffentlichkeitsdefizit der EU.<ref name="books-TuX00BNB85cC-10">Vgl.: Wolfgang R. Langenbucher: ''Europäische Öffentlichkeit und medialer Wandel.'' VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2006, ISBN 978-3-531-14597-6, S.&nbsp;10 ({{Google Buch|BuchID=TuX00BNB85cC|Seite=10}}).</ref> Die Bürger innerhalb der EU fühlen sich nach [[Eurobarometer]]-Umfragen von der EU übergangen und wünschen sich ein höheres Maß an Teilhabemöglichkeiten. Um dies zu erreichen, müssen eine Demokratisierung politischer Entscheidungsverfahren stattfinden und die Partizipationsmöglichkeiten auf europäischer Ebene wie zum Beispiel durch Konsultationen ausgeweitet werden. Die Ausbildung einer europäischen Identität hängt entscheidend von der Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit ab. Einen Zusammenhang zwischen europäischer Öffentlichkeit und einem Demokratiedefizit stellt auch das [[Bundesverfassungsgericht]] in seinem [[Lissabon-Urteil]] her.<ref>Vgl. RNr. 251, BVerfG, 2 BvE 2/08 vom 30.6.2009, Absatz-Nr. (1 - 421), {{Internetquelle|url=http://www.bverfg.de/entscheidungen/es20090630_2bve000208.html | titel= Leitsätze zum Urteil des Zweiten Senats vom 30. Juni 2009 | zugriff=2015-01-12}}</ref>


Eine bessere Teilhabe der Bevölkerungen an Entscheidungsprozessen der EU soll den öffentlichen europäischen Dialog fördern. Hierzu werden Vertragsänderungen gefordert.<ref>Einen entsprechenden Vorschlag macht der deutschen Bundesfinanzministers [[Wolfgang Schäuble]], der die Direktwahl des [[Präsident des Europäischen Rates|Präsidenten des Europäischen Rates]] durch die [[Unionsbürger]] forderte.{{Internetquelle|hrsg=[[EurActiv.de]]|titel=Schäuble für direkt gewählten EU-Präsidenten|url=http://www.euractiv.de/zukunft-und-reformen/artikel/schaueble-fr-direkt-gewahlten-eu-prasidenten-005165 |datum=2011-08-01|zugriff=2011-08-06}}. Die Idee ist hingegen von Schäuble schon 2009 vertreten worden {{Internetquelle|hrsg=[[Europäische Bewegung Deutschland]]|titel=Rede von Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble anlässlich des 60-jährigen Bestehens der Europäischen Bewegung Deutschland am 16. Juni 2009 in Berlin|url=http://europaeische-bewegung.de/fileadmin/files_ebd/PDF-Dateien/EBD_PRO_60_Jahre_Rede_Schaeuble.pdf|datum=2009-06-16|zugriff=2011-08-06|format=PDF; 69&nbsp;kB}}</ref>
Eine bessere Teilhabe der Bevölkerungen an Entscheidungsprozessen der EU soll den öffentlichen europäischen Dialog fördern. Hierzu werden Vertragsänderungen gefordert.<ref>Einen entsprechenden Vorschlag macht der deutschen Bundesfinanzministers [[Wolfgang Schäuble]], der die Direktwahl des [[Präsident des Europäischen Rates|Präsidenten des Europäischen Rates]] durch die [[Unionsbürger]] forderte.{{Internetquelle|hrsg=[[EurActiv.de]]|titel=Schäuble für direkt gewählten EU-Präsidenten|url=http://www.euractiv.de/zukunft-und-reformen/artikel/schaueble-fr-direkt-gewahlten-eu-prasidenten-005165 |datum=2011-08-01|zugriff=2011-08-06}}. Die Idee ist hingegen von Schäuble schon 2009 vertreten worden {{Internetquelle|hrsg=[[Europäische Bewegung Deutschland]]|titel=Rede von Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble anlässlich des 60-jährigen Bestehens der Europäischen Bewegung Deutschland am 16. Juni 2009 in Berlin|url=http://europaeische-bewegung.de/fileadmin/files_ebd/PDF-Dateien/EBD_PRO_60_Jahre_Rede_Schaeuble.pdf|datum=2009-06-16|zugriff=2011-08-06|format=PDF; 69&nbsp;kB}}</ref>
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=== Chancen durch institutionelle Reformen ===
=== Chancen durch institutionelle Reformen ===
Das größte Potenzial liegt laut Thalmeier bei den institutionellen Änderungen, die mit einer intensiveren [[Partizipation]] am europäischen Entscheidungsprozess verknüpft sind. Der [[Vertrag von Lissabon]] sieht eine Stärkung partizipativer Elemente vor. Mittels eines Ausbaus von Teilnahmemöglichkeiten würden auch Handlungsstrukturen politischer Öffentlichkeit und intermediäre Vermittlungsstrukturen ausgeweitet. Eine stärkere Politisierung europäischer Politik und der Aufbau einer europäischen Streitkommunikation seien nötig, um einen europäischen Kommunikationsraum zu schaffen. Die EU sei wie jedes demokratisch verfasste System auf Anerkennung und Legitimation angewiesen. Durch eine Identifikation der Bürger mit dem System wird die EU akzeptiert und legitimiert.<ref>Vgl. Bettina Thalmeier: "Möglichkeiten und Grenzen einer europäischen Identitätspolitik", CAP-Analyse Ausgabe 6. Bertelsmann Forschungsgruppe Politik 2006.</ref>
Das größte Potenzial liegt laut Thalmeier bei den institutionellen Änderungen, die mit einer intensiveren [[Partizipation]] am europäischen Entscheidungsprozess verknüpft sind. Der [[Vertrag von Lissabon]] sieht eine Stärkung partizipativer Elemente vor. Mittels eines Ausbaus von Teilnahmemöglichkeiten würden auch Handlungsstrukturen politischer Öffentlichkeit und intermediäre Vermittlungsstrukturen ausgeweitet. Eine stärkere Politisierung europäischer Politik und der Aufbau einer europäischen Streitkommunikation seien nötig, um einen europäischen Kommunikationsraum zu schaffen. Die EU sei wie jedes demokratisch verfasste System auf Anerkennung und Legitimation angewiesen. Durch eine Identifikation der Bürger mit dem System wird die EU akzeptiert und legitimiert.<ref name="betti">Vgl. Bettina Thalmeier: ''Möglichkeiten und Grenzen einer europäischen Identitätspolitik.'' CAP-Analyse, Ausgabe 6. Bertelsmann Forschungsgruppe Politik 2006.</ref>


Nach Easton lassen sich zwei Formen tatsächlicher Anerkennung unterscheiden. Spezifisch unterstützt wird ein politisches System, wenn es Politikergebnisse hervorbringt, die den eigenen Interessen der Bürger entsprechen. Diffuse Unterstützung ist unabhängig von den gegenwärtigen oder zukünftigen Leistungen des Systems. Das System wird demnach unterstützt, auch wenn Politikergebnisse nicht die Interessen der Bürger widerspiegeln. Eine diffuse Unterstützung solle immer angestrebt werden, nur so könne ein grundsätzliches Vertrauen in die Institutionen und deren Handeln aufgebaut werden. So sollte also nicht nur die [[Legitimation (Politikwissenschaft)|Output-Legitimation]] der EU gestärkt werden, sondern insbesondere die [[Legitimation (Politikwissenschaft)|Input-Legitimation]], das heißt, an den Strukturen europäischer Politik muss angesetzt werden.<ref>Vgl. Bettina Thalmeier: "Möglichkeiten und Grenzen einer europäischen Identitätspolitik", CAP-Analyse Ausgabe 6. Bertelsmann Forschungsgruppe Politik 2006.</ref>
Nach Easton lassen sich zwei Formen tatsächlicher Anerkennung unterscheiden. Spezifisch unterstützt wird ein politisches System, wenn es Politikergebnisse hervorbringt, die den eigenen Interessen der Bürger entsprechen. Diffuse Unterstützung ist unabhängig von den gegenwärtigen oder zukünftigen Leistungen des Systems. Das System wird demnach unterstützt, auch wenn Politikergebnisse nicht die Interessen der Bürger widerspiegeln. Eine diffuse Unterstützung solle immer angestrebt werden, nur so könne ein grundsätzliches Vertrauen in die Institutionen und deren Handeln aufgebaut werden. So sollte also nicht nur die [[Legitimation (Politikwissenschaft)|Output-Legitimation]] der EU gestärkt werden, sondern insbesondere die [[Legitimation (Politikwissenschaft)|Input-Legitimation]], das heißt, an den Strukturen europäischer Politik muss angesetzt werden.<ref name="betti" />


Trenz stellt die These auf, dass die europäische Öffentlichkeit lange Zeit mit einem Zuwenig an Konflikt und Streit und einem Zuviel an Identitätsrhetorik ausgerüstet war. Die Etablierung einer Europäischen Öffentlichkeit sei über eine empathische Identitätsrhetorik, einen sogenannten permissiven Konsens, vorangetrieben worden, die öffentliche Austragung von Konflikten sei jedoch zu kurz gekommen.<ref>Vgl. Hans-Jörg Trenz: "Europäische Öffentlichkeit und die verspätete Politisierung der EU"</ref> Im [[Rat der Europäischen Union]] wird hauptsächlich im Sinne des [[Einstimmigkeitsprinzip|Einstimmigkeitsprinzips]] entschieden, im Gegensatz zur [[Konkurrenzdemokratie]], die Konflikte meist im Rahmen des Mehrheitsprinzips bewältigt. Im Rahmen des "institutionellen Gleichgewichts" sind die europäischen Organe zu Kompromissen gezwungen. Öffentlich ausgetragen werden nur die Diskussionen innerhalb des [[Europaparlament|Europäischen Parlaments]].<ref>Vgl. Bettina Thalmeier: "Möglichkeiten und Grenzen einer europäischen Identitätspolitik", CAP-Analyse Ausgabe 6. Bertelsmann Forschungsgruppe Politik 2006.</ref>
Trenz stellt die These auf, dass die europäische Öffentlichkeit lange Zeit mit einem Zuwenig an Konflikt und Streit und einem Zuviel an Identitätsrhetorik ausgerüstet war. Die Etablierung einer Europäischen Öffentlichkeit sei über eine empathische Identitätsrhetorik, einen sogenannten permissiven Konsens, vorangetrieben worden, die öffentliche Austragung von Konflikten sei jedoch zu kurz gekommen.<ref name="trenz" /> Im [[Rat der Europäischen Union]] wird hauptsächlich im Sinne des [[Einstimmigkeitsprinzip|Einstimmigkeitsprinzips]] entschieden, im Gegensatz zur [[Konkurrenzdemokratie]], die Konflikte meist im Rahmen des Mehrheitsprinzips bewältigt. Im Rahmen des "institutionellen Gleichgewichts" sind die europäischen Organe zu Kompromissen gezwungen. Öffentlich ausgetragen werden nur die Diskussionen innerhalb des [[Europaparlament|Europäischen Parlaments]].<ref name="betti" />
Auch Franzius sieht die Lösung zur Herstellung einer breiteren europäischen Öffentlichkeit im Bereich der Entscheidungsabläufe der [[Europäische Union|Europäischen Union]]. Durch mehr Transparenz sollten die Bürgerinnen und Bürger mehr Möglichkeiten bekommen an europäischer Politik Teil zu haben.<ref>Vgl.Claudio Franzius: "Auf dem Weg zur europäischen Öffentlichkeit?" In: "Humboldt Forum Recht", HFR 1/2004, Berlin, S.2</ref>
Auch Franzius sieht die Lösung zur Herstellung einer breiteren europäischen Öffentlichkeit im Bereich der Entscheidungsabläufe der [[Europäische Union|Europäischen Union]]. Durch mehr Transparenz sollten die Bürgerinnen und Bürger mehr Möglichkeiten bekommen an europäischer Politik Teil zu haben.<ref>Vgl. Claudio Franzius: ''Auf dem Weg zur europäischen Öffentlichkeit?'' In: ''Humboldt Forum Recht.'' HFR 1/2004, Berlin, S.&nbsp;2.</ref>


=== Chancen durch politische Kommunikation ===
=== Chancen durch politische Kommunikation ===
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==== Etablierung einer europäischen Streitkommunikation ====
==== Etablierung einer europäischen Streitkommunikation ====
Die fehlende Streitkommunikation muss laut Thalmeier mittels weiterer institutioneller Reformen entzündet werden. Dazu gehört ihrer Meinung nach die Direktwahl des Kommissionspräsidenten. Es genüge nicht, diese Kompetenz dem Europäischen Parlament zuzuweisen, die Bürger müssten direkt über dessen Wahl entscheiden können. Die Direktwahl des Kommissionspräsidenten würde zu einer stärkeren Personalisierung europäischer Politik führen. Weitere Vorschläge sind eine Europäisierung des Wahlsystems zum Europäischen Parlament, das durch die Einführung transnationaler Wahllisten umgesetzt werden könnte. Diese Forderung erhob auch [[Andrew Duff]] als Berichterstatter des Europäischen Parlaments zur Wahlreform. Der [[Ausschuss für konstitutionelle Fragen]] des Europäischen Parlaments legte im April 2011 einen konkreten Vorschlag für eine solche Wahlrechtsreform vor, durch die die nationalen Sitzkontingente zwar nicht abgeschafft, aber um weitere Sitze für gesamteuropäische Listen ergänzt werden sollen.<ref>[[EUobserver]], 19. April 2011: [http://euobserver.com/9/32212 Call for Europeans to elect 25 MEPs from EU-wide list] (englisch).</ref><ref>[http://www.europarl.europa.eu/de/headlines/content/20110415STO17908/html/Reform-des-Wahlrechts-Parlament-soll-europäischer-werden Reform des Wahlrechts: Parlament soll europäischer werden]</ref> Die für den 7. Juli 2011 geplante Abstimmung über den Vorschlag im Europäischen Parlament wurde kurzfristig verschoben, der Bericht an den Ausschuss zurückverwiesen. Umstritten ist vor allem, ob das Parlament um 25 zusätzliche Sitze erweitert werden soll, um die transnationalen EU-Abgeordneten aufzunehmen, oder ob die Plätze von den nationalen Listen abgezogen werden.<ref>[http://www.euractiv.de/druck-version/artikel/eu-wahlreform-verschoben-blamage-fr-das-parlament-005063 EurActiv.de: EU-Wahlreform verschoben: "Blamage für das Parlament"]</ref>
Die fehlende Streitkommunikation muss laut Thalmeier mittels weiterer institutioneller Reformen entzündet werden. Dazu gehört ihrer Meinung nach die Direktwahl des Kommissionspräsidenten. Es genüge nicht, diese Kompetenz dem Europäischen Parlament zuzuweisen, die Bürger müssten direkt über dessen Wahl entscheiden können. Die Direktwahl des Kommissionspräsidenten würde zu einer stärkeren Personalisierung europäischer Politik führen. Weitere Vorschläge sind eine Europäisierung des Wahlsystems zum Europäischen Parlament, das durch die Einführung transnationaler Wahllisten umgesetzt werden könnte. Diese Forderung erhob auch [[Andrew Duff]] als Berichterstatter des Europäischen Parlaments zur Wahlreform. Der [[Ausschuss für konstitutionelle Fragen]] des Europäischen Parlaments legte im April 2011 einen konkreten Vorschlag für eine solche Wahlrechtsreform vor, durch die die nationalen Sitzkontingente zwar nicht abgeschafft, aber um weitere Sitze für gesamteuropäische Listen ergänzt werden sollen.<ref>{{Internetquelle|url=http://euobserver.com/9/32212 |titel=Call for Europeans to elect 25 MEPs from EU-wide list |autor=Andrew Willis |werk=[[EUobserver|euobserver.com]] | sprache=en |datum=2011-04-19 |zugriff=2015-01-12}}</ref><ref>{{Internetquelle|url=http://www.europarl.europa.eu/news/de/news-room/content/20110415STO17908/html/Reform-des-Wahlrechts-Parlament-soll-europ%C3%A4ischer-werden |titel=Reform des Wahlrechts: Parlament soll europäischer werden |autor= |werk=europarl.europa.eu |datum=2011-04-19 |zugriff=2015-01-12}}</ref> Die für den 7. Juli 2011 geplante Abstimmung über den Vorschlag im Europäischen Parlament wurde kurzfristig verschoben, der Bericht an den Ausschuss zurückverwiesen. Umstritten ist vor allem, ob das Parlament um 25 zusätzliche Sitze erweitert werden soll, um die transnationalen EU-Abgeordneten aufzunehmen, oder ob die Plätze von den nationalen Listen abgezogen werden.<ref>{{Internetquelle|titel= EU-Wahlreform verschoben: "Blamage für das Parlament" | url=http://www.euractiv.de/druck-version/artikel/eu-wahlreform-verschoben-blamage-fr-das-parlament-005063|zugriff=2015-01-12 |offline=ja}} In: ''euractiv.de''</ref>


== Europäische Öffentlichkeit in der politischen Praxis ==
== Europäische Öffentlichkeit in der politischen Praxis ==
Wenn auch zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht von einer vorhandenen Europäischen Öffentlichkeit gesprochen werden kann, sind dennoch Schritte in diese Richtung und etablierte Teilöffentlichkeiten erkennbar. Franzius weist zudem darauf hin, dass Unterschiede dieser Teilöffentlichkeiten, sowie ihre Europäisierung erst die Basis einer europäischen Öffentlichkeit bilden. Ziel müsste es schließlich sein, die differierenden Teilöffentlichkeiten so zu verbinden, dass sie als ein demokratisches Element fungieren könnten. <ref>Vgl. Claudio Franzius: "Auf dem Weg zur europäischen Öffentlichkeit?" In: "Humboldt Forum Recht", HFR 1/2004, Berlin, S.3-4</ref>
Wenn auch zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht von einer vorhandenen Europäischen Öffentlichkeit gesprochen werden kann, sind dennoch Schritte in diese Richtung und etablierte Teilöffentlichkeiten erkennbar. Franzius weist zudem darauf hin, dass Unterschiede dieser Teilöffentlichkeiten, sowie ihre Europäisierung erst die Basis einer europäischen Öffentlichkeit bilden. Ziel müsste es schließlich sein, die differierenden Teilöffentlichkeiten so zu verbinden, dass sie als ein demokratisches Element fungieren könnten.<ref>Vgl. Claudio Franzius: ''Auf dem Weg zur europäischen Öffentlichkeit?'' In: ''Humboldt Forum Recht'', HFR 1/2004, Berlin, S.&nbsp;3–4.</ref>


=== Situation in der Europäischen Union ===
=== Situation in der Europäischen Union ===
Die Europäische Kommission hat zur Behebung des Öffentlichkeits- und Demokratiedefizits seit 2005 eine Reihe von Maßnahmen initiiert,<ref>[http://ec.europa.eu/dgs/communication/about/what_we_do/index_de.htm Generaldirektion Kommunikation der Europäischen Kommission: Was wir tun]</ref> darunter mit dem [[Plan D]] einen europaweiten Diskussionsprozess. Mit dem [[Weißbuch]] über eine europäische [[Kommunikationspolitik]] legte die Kommission Vorschläge für konkrete politische Schritte vor, wie durch europapolitische Öffentlichkeitsarbeit eine europäische Öffentlichkeit entstehen kann.<ref>[http://europa.eu/documents/comm/white_papers/pdf/com2006_35_de.pdf Europäische Kommission: Weißbuch über eine europäische Kommunikationspolitik] (PDF; 212&nbsp;kB)</ref>
Die Europäische Kommission hat zur Behebung des Öffentlichkeits- und Demokratiedefizits seit 2005 eine Reihe von Maßnahmen initiiert,<ref>[http://ec.europa.eu/dgs/communication/about/what_we_do/index_de.htm Generaldirektion Kommunikation der Europäischen Kommission: Was wir tun]</ref> darunter mit dem [[Plan D]] einen europaweiten Diskussionsprozess. Mit dem [[Weißbuch]] über eine europäische [[Kommunikationspolitik]] legte die Kommission Vorschläge für konkrete politische Schritte vor, wie durch europapolitische Öffentlichkeitsarbeit eine europäische Öffentlichkeit entstehen kann.<ref>[http://europa.eu/documents/comm/white_papers/pdf/com2006_35_de.pdf Europäische Kommission: Weißbuch über eine europäische Kommunikationspolitik] vom 1. Februar 2006 (PDF; 212&nbsp;kB)</ref>


Das Europäische Parlament versucht seinerseits eine massenmediale Öffentlichkeit zu etablieren, indem es mit [[EuroparlTV]] einen eigenen TV-Sender betreibt, der in fast allen [[Amtssprachen der Europäischen Union]] sendet.
Das Europäische Parlament versucht seinerseits eine massenmediale Öffentlichkeit zu etablieren, indem es mit [[EuroparlTV]] einen eigenen TV-Sender betreibt, der in fast allen [[Amtssprachen der Europäischen Union]] sendet.


=== Situation in Deutschland ===
=== Situation in Deutschland ===
In Deutschland ist eine europäische Öffentlichkeit nur fragmentarisch vorhanden. Durch politische Akteure wird sie als Nebenprodukt der europapolitischen Öffentlichkeitsarbeit geschaffen. Für allgemeine und ressortübergreifende europapolitische Öffentlichkeitsarbeit sind das [[Presse- und Informationsamt der Bundesregierung]] und das [[Auswärtiges Amt|Auswärtige Amt]], für die europäische Ebene die [[Vertretung der Europäischen Kommission in Deutschland|Vertretung der Europäischen Kommission]] und das [[Informationsbüro des Europäischen Parlaments in Deutschland|Informationsbüro des Europäischen Parlaments]] zuständig. Die deutschen Länder koordinieren die europapolitische Öffentlichkeitsarbeit in einer Unterarbeitsgruppe der [[Europaministerkonferenz]] (derzeitiger Vorsitz: Berlin). Außerdem verfügt die Vertretung der [[Europäische Kommission|Europäischen Kommission]] über eine eigene Kommunikationsabteilung.<ref>[http://www.europaeische-bewegung.de/europapolitik/europa-kommunikation-in-deutschland/ Netzwerk Europäische Bewegung Deutschland: Europa-Kommunikation in Deutschland]</ref>
In Deutschland ist eine europäische Öffentlichkeit nur fragmentarisch vorhanden. Durch politische Akteure wird sie als Nebenprodukt der europapolitischen Öffentlichkeitsarbeit geschaffen. Für allgemeine und ressortübergreifende europapolitische Öffentlichkeitsarbeit sind das [[Presse- und Informationsamt der Bundesregierung]] und das [[Auswärtiges Amt|Auswärtige Amt]], für die europäische Ebene die [[Vertretung der Europäischen Kommission in Deutschland|Vertretung der Europäischen Kommission]] und das [[Informationsbüro des Europäischen Parlaments in Deutschland|Informationsbüro des Europäischen Parlaments]] zuständig. Die deutschen Länder koordinieren die europapolitische Öffentlichkeitsarbeit in einer Unterarbeitsgruppe der [[Europaministerkonferenz]] (derzeitiger Vorsitz: Berlin). Außerdem verfügt die Vertretung der [[Europäische Kommission|Europäischen Kommission]] über eine eigene Kommunikationsabteilung.<ref>[http://www.europaeische-bewegung.de/europapolitik/europa-kommunikation-in-deutschland/ Europa-Kommunikation in Deutschland: Agenda gemeinsam gestalten, Reibungsverluste vermeiden]</ref>


Neben der staatlich organisierten Europa-Kommunikation versuchen Verbände, Stiftungen und viele weitere Akteure der Zivilgesellschaft mit Bürgerinnen und Bürgern in den europapolitischen Dialog zu treten und die deutsche nationale Öffentlichkeit zu europäisieren.
Neben der staatlich organisierten Europa-Kommunikation versuchen Verbände, Stiftungen und viele weitere Akteure der Zivilgesellschaft mit Bürgerinnen und Bürgern in den europapolitischen Dialog zu treten und die deutsche nationale Öffentlichkeit zu europäisieren.

Version vom 12. Januar 2015, 23:25 Uhr

Europäische Öffentlichkeit ist eine Erweiterung des Öffentlichkeitsbegriffs, der im weitesten Sinne die Gesamtheit aller Umstände bezeichnet, die für die Bildung der öffentlichen Meinung von Bedeutung sind. Als „europäische Öffentlichkeit“ ist eine massenmedial hergestellte Öffentlichkeit zu bezeichnen, die abgegrenzte (Sprach-)Räume in Europa überwindet und miteinander verbindet. Öffentlichkeit und damit Transparenz in öffentlichen Angelegenheiten und unter anderem politischen Entscheidungen sind eine wichtige Voraussetzung der öffentlichen Kontrolle politischer Macht durch den europäischen Bürger. Auch der Demokratiebegriff innerhalb der EU ist unweigerlich mit einer Vorstellung von einer europäischen Öffentlichkeit verbunden.

Entscheidende Kriterien sind der allgemein freie Zugang zu allen relevanten Gegebenheiten sowie deren ungehinderte Diskutierbarkeit. Hierbei spielen Massenmedien eine wichtige Rolle, da sie aufgrund ihrer stabilen Infrastruktur Informationen und Meinungen zu einer Vielzahl von Themen an ein Massenpublikum vermitteln und Diskurse raumübergreifend abbilden können. Als europäische Öffentlichkeit wären demnach frei zugängliche und ungehindert diskutierbare grenzüberschreitende Kommunikationsprozesse zu bezeichnen.[1] Aufgrund bestehender sprachlicher, kultureller und politischer Barrieren in Europa finden diese Prozesse jedoch nur selten statt. Dementsprechend ist auch keine europäische öffentliche Meinung vorhanden, die eine transnationale europäische Meinungs- und Willensbildung erlauben würde.

In diesem Zusammenhang wird europäische Öffentlichkeit auch als Voraussetzung einer Legitimation der Politik der Europäischen Union verstanden. Durch europaweite öffentliche Kommunikation soll EU-Politik transparenter werden. In diesem Fall ist europäische Öffentlichkeit eher als Kommunikationsprojekt und nicht -prozess zu verstehen. Zwar ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt eine etablierte europäische Öffentlichkeit nicht existent. Neben dem Verständnis einer Europäischen Öffentlichkeit als geteiltem massenmedialem Raum aller Europäer existiert jedoch die Vorstellung von sektoralen europäischen Fachöffentlichkeiten. Oftmals tritt in diesem Zusammenhang der Begriff eines Demokratiedefizits in der EU auf. Der Vertrag von Lissabon sieht daher erstmals als Instrument der politischen Teilhabe europäischer Bürgerinnen und Bürger eine Europäische Bürgerinitiative vor.

Entstehungsbedingungen für europäische Öffentlichkeit

Theoretische Erklärungsmodelle

Als Forschungsgegenstand ist europäische Öffentlichkeit für mehrere Disziplinen interessant. Neben kommunikations- und medienwissenschaftlichen Ansätzen, die sich mit kulturellen Aspekten beschäftigen,[2][3] wurden vor allem Beiträge von Politikwissenschaftlern vorgelegt, deren Fokus auf institutionellen Fragen liegt. Vereinzelt haben auch Europarechtler Aufsätze und Monographien erarbeitet.[4]

In der Forschung werden mindestens zwei Ansätze unterschieden, um die mögliche Entstehung einer allgemeinen Europäischen Öffentlichkeit zu erklären:

1) Modell der Zunahme von transnationalen, paneuropäischen Medien

Von einer transnationalen Europäischen Öffentlichkeit kann demnach gesprochen werden, wenn ein Kommunikationsraum entsteht, der durch europäische Medien hergestellt wird. Dieser Zustand ist aufgrund der Sprachenvielfalt, der kulturellen Identitäten sowie der Medienpolitik und des politischen Systems der EU, das die Entwicklung einer breiten gesamteuropäischen Medieninfrastruktur behindert, bisher nicht eingetreten.

2) Modell einer zunehmenden Europäisierung der Debatten und Bezugnahmen in nationalen Medien

Nationale Medien sind heute eigenständige Akteure im Europäisierungsprozess. Sie ordnen Themen in öffentlichen Debatten Relevanz zu[5] und können das europäische Integrationsprojekt sogar unterstützend vertreten.[6] Es kann dabei festgestellt werden, dass eine erhöhte Kompetenz auf europäischer Ebene auch eine Zunahme an Europäisierung von Debatten, beispielsweise in der Agrarpolitik, zur Folge hat.[7] Es besteht die Notwendigkeit einer zeitgleichen Begleitung öffentlicher politischer Kommunikation bei weiteren Integrationsschritten, da anderenfalls eine ausreichende Transparenz, Kontrolle und Partizipation nicht gewährleistet werden kann. Nach Eder und Kantner entsteht eine europäische Öffentlichkeit außerdem durch die Synchronisierung europapolitischer Debatten. Wenn also die gleichen europäischen Themen unter gleichen Relevanzgesichtspunkten gleichzeitig in unterschiedlichen Ländern debattiert werden, dann kommt es zur Europäisierung nationaler Öffentlichkeiten. Koopmans und Pfetsch unterscheiden hier zwischen horizontaler und vertikaler Europäisierung. Eine transnationale Diffusion und ein Austausch von Themen und Akteuren zwischen nationalen Mediensystemen verbergen sich hinter der horizontalen Europäisierung.

Dieser Prozess kann auch innerhalb abgegrenzter (Sprach-)Räume geschehen: Wenn die Zahl der europäischen Politikthemen und Akteure in den nationalen Medien wächst und diese Medien zunehmend aufeinander Bezug nehmen oder sich vernetzen, entsteht eine europäische Öffentlichkeit. Diese Ein- und Auswirkungen von EU-Themen und -Akteuren auf den nationalen politisch-medialen Diskurs werden unter den Begriff der vertikalen Europäisierung gefasst.

Als konkretes Beispiel aus dem Alltagsleben für ein Ergebnis dieser Art von Europäischer Öffentlichkeit kann das Rauchverbot in Restaurants gesehen werden, das nach und nach in den Mitgliedsstaaten umgesetzt wird. Auch während der EHEC-Epidemie 2011 wurden neben den nationalen Meldungen die Debatten in anderen Mitgliedsstaaten mitverfolgt.[8]

Voraussetzungen und damit verbundene Probleme

Die Forschung zur Europäischen Öffentlichkeit verortet die Probleme, die mit ihrer Entstehung verbunden sind, vor allem bei politischen Akteuren, institutionellen Strukturen und Mediensystemen. Neben allgemeinen Bedingungen für Öffentlichkeitsbildung wird jedoch auch auf spezifische Probleme verwiesen, die sich aus dem Wesen der Europäischen Union ergeben.[9]

Gemeinsamer Erfahrungsraum

Ein gemeinsamer Erfahrungs- und Identitätsraum entsteht prinzipiell durch gemeinsame wechselnde Problem- und Sachlagen, durch die Erfahrung geteilter politischer Herrschaft sowie geteilte Traditionen, Semantiken und Wertbezüge. Diese Eigenschaften müssen öffentlich und kollektiv verfügbar sein, jeweils aktuell abgerufen werden und auch auf eine vielfältige Bezugsgruppe anwendbar sein. Um den gemeinsamen Erfahrungsraum zu etablieren, wird von Seiten der Forschung auf die Medien verwiesen. Es liege in ihrer Verantwortung, die Informationen, die zu europäischen Themen zur Verfügung stehen, aufzuarbeiten und für ein breites Publikum verständlich zuzuschneiden. Größtes Problem sei deren Verständlichkeit. Entweder seien die Sachverhalte zu komplex, es werde ein zu detailliertes Wissen vorausgesetzt bzw. sei der Anteil an Fachjargon zu hoch.

Kollektive europäische Identität

In der Debatte um die Konstitutionalisierung der EU wird immer wieder diskutiert, ob eine kollektive europäische Identität Voraussetzung oder Ergebnis der Entwicklung einer Europäischen Öffentlichkeit sei. Aus soziologischer Perspektive zählt beim „identity building“ der Prozess der politischen Selbstverständigung und kollektiven Identitätsfindung. Trenz ist der Meinung, dass sich die europäische Integration in diesem Prozess befindet. Ausgetragen werden diese identitätsstärkenden Aushandlungsprozesse im Verwaltungsalltag, zum Beispiel in der Regional-, Migrations- oder Kulturpolitik. Zudem engagierten sich die offizielle Rhetorik der EU und die Medien in einem Identitätsdiskurs. Daraus schließt Trenz, dass ein Öffentlichkeitsdefizit der EU nicht durch einen Mangel an Identitätskommunikation begründet werden kann.[9]

Institutionelles Demokratie- und Öffentlichkeitsdefizit

Nach Thalmeier wird die Ausprägung einer europäischen Identität zudem durch ein Demokratiedefizit erschwert. Dieses bezieht sich nicht nur auf die europäischen Institutionen, sondern schließt auch strukturelle Mängel an intermediären Vermittlungsstrukturen wie Medien, Parteien und Verbänden mit ein. Eine geringe Europäisierung nationaler Teilöffentlichkeiten und eine noch schwächer ausgeprägte europäische Öffentlichkeit sind weitere Gründe für eine unzureichende Identifikation mit der EU. Die Andersartigkeit der EU gegenüber "herkömmlichen internationalen Organisationen" oder Nationalstaaten sowie das Beharrungsvermögen auf das nationale Prinzip trügen auch dazu bei.

Eng verbunden mit dem institutionellen Demokratiedefizit sei das Öffentlichkeitsdefizit der EU.[10] Die Bürger innerhalb der EU fühlen sich nach Eurobarometer-Umfragen von der EU übergangen und wünschen sich ein höheres Maß an Teilhabemöglichkeiten. Um dies zu erreichen, müssen eine Demokratisierung politischer Entscheidungsverfahren stattfinden und die Partizipationsmöglichkeiten auf europäischer Ebene wie zum Beispiel durch Konsultationen ausgeweitet werden. Die Ausbildung einer europäischen Identität hängt entscheidend von der Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit ab. Einen Zusammenhang zwischen europäischer Öffentlichkeit und einem Demokratiedefizit stellt auch das Bundesverfassungsgericht in seinem Lissabon-Urteil her.[11]

Eine bessere Teilhabe der Bevölkerungen an Entscheidungsprozessen der EU soll den öffentlichen europäischen Dialog fördern. Hierzu werden Vertragsänderungen gefordert.[12]

Beharrungsvermögen auf das nationalstaatliche Prinzip

Ein Problem bei der Entwicklung einer europäischen Identität ist die Zuständigkeit der EU für sogenannte low politics, nicht für high politics wie die Sozial- und Arbeitsmarktpolitik (liegen im nationalen Zuständigkeitsbereich), die aufgrund der dabei auftretenden Verteilungsfragen und Wertekonflikte „politischer“ sind und somit eher Identität generieren können. Identität wird meist über Erziehungs- und Bildungspolitik vermittelt, was auch unter die Zuständigkeit der Mitgliedsstaaten fällt.

Problematisiert wird das Fehlen eines überzeugenden Narrativs für die EU nach der Vereinigung Europas. Integrationsziele wie die Versöhnung Europas oder Mobilität seien mittlerweile Realität und Selbstverständlichkeit. Eine Identitätserweiterung müsse in Richtung Europa stattfinden, die neben der nationalen Identität koexistieren soll. Hier müsse auf nationalstaatlicher Ebene EU-Bildung vorangetrieben werden.

Chancen durch institutionelle Reformen

Das größte Potenzial liegt laut Thalmeier bei den institutionellen Änderungen, die mit einer intensiveren Partizipation am europäischen Entscheidungsprozess verknüpft sind. Der Vertrag von Lissabon sieht eine Stärkung partizipativer Elemente vor. Mittels eines Ausbaus von Teilnahmemöglichkeiten würden auch Handlungsstrukturen politischer Öffentlichkeit und intermediäre Vermittlungsstrukturen ausgeweitet. Eine stärkere Politisierung europäischer Politik und der Aufbau einer europäischen Streitkommunikation seien nötig, um einen europäischen Kommunikationsraum zu schaffen. Die EU sei wie jedes demokratisch verfasste System auf Anerkennung und Legitimation angewiesen. Durch eine Identifikation der Bürger mit dem System wird die EU akzeptiert und legitimiert.[13]

Nach Easton lassen sich zwei Formen tatsächlicher Anerkennung unterscheiden. Spezifisch unterstützt wird ein politisches System, wenn es Politikergebnisse hervorbringt, die den eigenen Interessen der Bürger entsprechen. Diffuse Unterstützung ist unabhängig von den gegenwärtigen oder zukünftigen Leistungen des Systems. Das System wird demnach unterstützt, auch wenn Politikergebnisse nicht die Interessen der Bürger widerspiegeln. Eine diffuse Unterstützung solle immer angestrebt werden, nur so könne ein grundsätzliches Vertrauen in die Institutionen und deren Handeln aufgebaut werden. So sollte also nicht nur die Output-Legitimation der EU gestärkt werden, sondern insbesondere die Input-Legitimation, das heißt, an den Strukturen europäischer Politik muss angesetzt werden.[13]

Trenz stellt die These auf, dass die europäische Öffentlichkeit lange Zeit mit einem Zuwenig an Konflikt und Streit und einem Zuviel an Identitätsrhetorik ausgerüstet war. Die Etablierung einer Europäischen Öffentlichkeit sei über eine empathische Identitätsrhetorik, einen sogenannten permissiven Konsens, vorangetrieben worden, die öffentliche Austragung von Konflikten sei jedoch zu kurz gekommen.[9] Im Rat der Europäischen Union wird hauptsächlich im Sinne des Einstimmigkeitsprinzips entschieden, im Gegensatz zur Konkurrenzdemokratie, die Konflikte meist im Rahmen des Mehrheitsprinzips bewältigt. Im Rahmen des "institutionellen Gleichgewichts" sind die europäischen Organe zu Kompromissen gezwungen. Öffentlich ausgetragen werden nur die Diskussionen innerhalb des Europäischen Parlaments.[13] Auch Franzius sieht die Lösung zur Herstellung einer breiteren europäischen Öffentlichkeit im Bereich der Entscheidungsabläufe der Europäischen Union. Durch mehr Transparenz sollten die Bürgerinnen und Bürger mehr Möglichkeiten bekommen an europäischer Politik Teil zu haben.[14]

Chancen durch politische Kommunikation

Als Beispiel für ein hohes Maß an positiver und bestätigender Identitätsrhetorik bei geringer Streitkommunikation nennt Trenz die Debatte um die Erweiterung der EU und den Lissabon-Vertrag. Die Medien hätten zwar auch über die Reibereien zwischen den Regierungen berichtet, dabei aber immer vorausgesetzt, dass eine Vertiefung und Erweiterung der EU unumstritten und notwendig sei. Verwunderlich sei diese Art von positiver Berichterstattung, da es der Logik des Journalismus widerstrebe. Diese Konsens-Berichterstattung könnte zu einem Desinteresse auf Seiten der Leser führen, vermutet Trenz.

Etablierung einer europäischen Streitkommunikation

Die fehlende Streitkommunikation muss laut Thalmeier mittels weiterer institutioneller Reformen entzündet werden. Dazu gehört ihrer Meinung nach die Direktwahl des Kommissionspräsidenten. Es genüge nicht, diese Kompetenz dem Europäischen Parlament zuzuweisen, die Bürger müssten direkt über dessen Wahl entscheiden können. Die Direktwahl des Kommissionspräsidenten würde zu einer stärkeren Personalisierung europäischer Politik führen. Weitere Vorschläge sind eine Europäisierung des Wahlsystems zum Europäischen Parlament, das durch die Einführung transnationaler Wahllisten umgesetzt werden könnte. Diese Forderung erhob auch Andrew Duff als Berichterstatter des Europäischen Parlaments zur Wahlreform. Der Ausschuss für konstitutionelle Fragen des Europäischen Parlaments legte im April 2011 einen konkreten Vorschlag für eine solche Wahlrechtsreform vor, durch die die nationalen Sitzkontingente zwar nicht abgeschafft, aber um weitere Sitze für gesamteuropäische Listen ergänzt werden sollen.[15][16] Die für den 7. Juli 2011 geplante Abstimmung über den Vorschlag im Europäischen Parlament wurde kurzfristig verschoben, der Bericht an den Ausschuss zurückverwiesen. Umstritten ist vor allem, ob das Parlament um 25 zusätzliche Sitze erweitert werden soll, um die transnationalen EU-Abgeordneten aufzunehmen, oder ob die Plätze von den nationalen Listen abgezogen werden.[17]

Europäische Öffentlichkeit in der politischen Praxis

Wenn auch zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht von einer vorhandenen Europäischen Öffentlichkeit gesprochen werden kann, sind dennoch Schritte in diese Richtung und etablierte Teilöffentlichkeiten erkennbar. Franzius weist zudem darauf hin, dass Unterschiede dieser Teilöffentlichkeiten, sowie ihre Europäisierung erst die Basis einer europäischen Öffentlichkeit bilden. Ziel müsste es schließlich sein, die differierenden Teilöffentlichkeiten so zu verbinden, dass sie als ein demokratisches Element fungieren könnten.[18]

Situation in der Europäischen Union

Die Europäische Kommission hat zur Behebung des Öffentlichkeits- und Demokratiedefizits seit 2005 eine Reihe von Maßnahmen initiiert,[19] darunter mit dem Plan D einen europaweiten Diskussionsprozess. Mit dem Weißbuch über eine europäische Kommunikationspolitik legte die Kommission Vorschläge für konkrete politische Schritte vor, wie durch europapolitische Öffentlichkeitsarbeit eine europäische Öffentlichkeit entstehen kann.[20]

Das Europäische Parlament versucht seinerseits eine massenmediale Öffentlichkeit zu etablieren, indem es mit EuroparlTV einen eigenen TV-Sender betreibt, der in fast allen Amtssprachen der Europäischen Union sendet.

Situation in Deutschland

In Deutschland ist eine europäische Öffentlichkeit nur fragmentarisch vorhanden. Durch politische Akteure wird sie als Nebenprodukt der europapolitischen Öffentlichkeitsarbeit geschaffen. Für allgemeine und ressortübergreifende europapolitische Öffentlichkeitsarbeit sind das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung und das Auswärtige Amt, für die europäische Ebene die Vertretung der Europäischen Kommission und das Informationsbüro des Europäischen Parlaments zuständig. Die deutschen Länder koordinieren die europapolitische Öffentlichkeitsarbeit in einer Unterarbeitsgruppe der Europaministerkonferenz (derzeitiger Vorsitz: Berlin). Außerdem verfügt die Vertretung der Europäischen Kommission über eine eigene Kommunikationsabteilung.[21]

Neben der staatlich organisierten Europa-Kommunikation versuchen Verbände, Stiftungen und viele weitere Akteure der Zivilgesellschaft mit Bürgerinnen und Bürgern in den europapolitischen Dialog zu treten und die deutsche nationale Öffentlichkeit zu europäisieren.

Literatur

  • Katharina Benderoth: Europäisierungstendenzen der medialen Öffentlichkeit in der Bundesrepublik Deutschland. Kassel 2010.
  • Cathleen Kanther (Hrsg.): Berliner Debatte Initial 13 (2002) 5/6: Europäische Öffentlichkeit. Berlin 2002.
  • Claudio Franzius (Hrsg.): Europäische Öffentlichkeit. Nomos, Baden-Baden 2004.
  • Hans-Jörg Trenz: Europäische Öffentlichkeit und die verspätete Polisierung der EU, Verlag=Zeitschrift Internationale Politik und Gesellschaft. 2006.
  • Bettina Thalmeier: Möglichkeiten und Grenzen einer europäischen Identitätspolitik, CAP-Analyse. Bertelsmann Forschungsgruppe Politik, 2006.
  • Michael Brüggemann/Andreas Hepp/Katharina Kleinen-von Königslöw/Hartmut Wessler: Transnationale Öffentlichkeit in Europa: Forschungsstand und Perspektiven, in: Publizistik 54, 391–414.
  • Bernd Hüttemann, Monika Wulf-Mathies: Der deutsche Patient im Lazarett Europa: Zur Europa-Koordinierung und -Kommunikation in Deutschland. (PDF; 235 kB) In: EU-in-Brief. Europäische Bewegung Deutschland, 22. September 2005, abgerufen am 9. August 2011.

Einzelnachweise

  1. Vgl. Friedhelm Neidhardt: Europäische Öffentlichkeit als Prozess. Anmerkungen zum Forschungsstand. In: Wolfgang R. Langenbucher, Michael Latzer (Hrsg.): Europäische Öffentlichkeit und medialer Wandel. 2006, S. 46-61. doi:10.1007/978-3-531-90272-2_2 ISBN 978-3-531-14597-6
  2. Vgl. Cathleen Kantner: Kein modernes Babel: kommunikative Voraussetzungen europäischer Öffentlichkeit. VS Verlag für Sozialwissenschaften. Wiesbaden 2004.
  3. Vgl. Michael Brüggemann, Andreas Hepp u. a.: Transnationale Öffentlichkeit in Europa: Forschungsstand und Perspektiven. In: Publizistik. Band 54, Nummer 3, 2009, S. 391–414. doi:10.1007/s11616-009-0059-4
  4. Vgl. Claudio Franzius, Ulrich K. Preuß: Europäische Öffentlichkeit. Nomos. Baden-Baden 2004.
  5. Vgl. Benjamin Page: The Mass Media as Political Actors. In: Political Science and Politics Band 29, Nummer 1, 1996, S. 20-24. doi:10.2307/420185
  6. Vgl. Ruud Koopmans, Barbara Pfetsch: Obstacles or motors of Europeanization? German media and the transnationalization of public debate. In: Communications. Band 31, Heft 2, 2006, S. 115-138. doi:10.1515/COMMUN.2006.009
  7. Vgl. Ruud Koopmans, Barbara Pfetsch: Towards a Europeanised Public Sphere? Comparing Political Actors and the Media in Germany. ARENA Working Paper, 23/2003.
  8. {{Internetquelle|url=http://www.euractiv.de/zukunft-und-reformen/artikel/keiner-sollte-angst-vor-der-europaisierung-deutschlands-haben-005305 |titel=Keine Angst vor der Europäisierung Deutschlands Bernd Hüttemann im Interview mit EurActiv.de|datum = 30. August 2011|zugriff=2015-01-12}|offline=ja}.
  9. a b c Vgl. Hans-Jörg Trenz: Europäische Öffentlichkeit und die verspätete Politisierung der EU. IPG 1, 2006, S. 117-133.
  10. Vgl.: Wolfgang R. Langenbucher: Europäische Öffentlichkeit und medialer Wandel. VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2006, ISBN 978-3-531-14597-6, S. 10 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
  11. Vgl. RNr. 251, BVerfG, 2 BvE 2/08 vom 30.6.2009, Absatz-Nr. (1 - 421), Leitsätze zum Urteil des Zweiten Senats vom 30. Juni 2009. Abgerufen am 12. Januar 2015.
  12. Einen entsprechenden Vorschlag macht der deutschen Bundesfinanzministers Wolfgang Schäuble, der die Direktwahl des Präsidenten des Europäischen Rates durch die Unionsbürger forderte.Schäuble für direkt gewählten EU-Präsidenten. EurActiv.de, 1. August 2011, abgerufen am 6. August 2011.. Die Idee ist hingegen von Schäuble schon 2009 vertreten worden Rede von Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble anlässlich des 60-jährigen Bestehens der Europäischen Bewegung Deutschland am 16. Juni 2009 in Berlin. (PDF; 69 kB) Europäische Bewegung Deutschland, 16. Juni 2009, abgerufen am 6. August 2011.
  13. a b c Vgl. Bettina Thalmeier: Möglichkeiten und Grenzen einer europäischen Identitätspolitik. CAP-Analyse, Ausgabe 6. Bertelsmann Forschungsgruppe Politik 2006.
  14. Vgl. Claudio Franzius: Auf dem Weg zur europäischen Öffentlichkeit? In: Humboldt Forum Recht. HFR 1/2004, Berlin, S. 2.
  15. Andrew Willis: Call for Europeans to elect 25 MEPs from EU-wide list. In: euobserver.com. 19. April 2011, abgerufen am 12. Januar 2015 (englisch).
  16. Reform des Wahlrechts: Parlament soll europäischer werden. In: europarl.europa.eu. 19. April 2011, abgerufen am 12. Januar 2015.
  17. EU-Wahlreform verschoben: "Blamage für das Parlament". Ehemals im Original (nicht mehr online verfügbar); abgerufen am 12. Januar 2015.@1@2Vorlage:Toter Link/www.euractiv.de (Seite nicht mehr abrufbar. Suche in Webarchiven) In: euractiv.de
  18. Vgl. Claudio Franzius: Auf dem Weg zur europäischen Öffentlichkeit? In: Humboldt Forum Recht, HFR 1/2004, Berlin, S. 3–4.
  19. Generaldirektion Kommunikation der Europäischen Kommission: Was wir tun
  20. Europäische Kommission: Weißbuch über eine europäische Kommunikationspolitik vom 1. Februar 2006 (PDF; 212 kB)
  21. Europa-Kommunikation in Deutschland: Agenda gemeinsam gestalten, Reibungsverluste vermeiden

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