„Familienformen“ – Versionsunterschied

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Zur Navigation springen Zur Suche springen
[gesichtete Version][gesichtete Version]
Inhalt gelöscht Inhalt hinzugefügt
Änderung einer missverständlichen Formulierung: Die traditionelle Familie besteht nicht (nur) aus den Eltern, welche Kinder haben, sondern aus den Eltern und ihren Kindern.
Zahlreiche Rechtschreib- und Stilkorrekturen (z. B. Vereinheitlichung der bislang unvermittelt wechselnden Tempi); Quellen; Verlinkung; inhaltliche Ergänzung, Straffung und Strukturierung
Zeile 1: Zeile 1:
{{Belege fehlen}}
{{Belege fehlen}}


Historisch betrachtet gibt es in Europa eine ganze Reihe von '''Familienformen'''. Gegenstand der Betrachtung waren insbesondere das „Ganze Haus“ und die „Große Haushaltsfamilie“. Beide Formen werden auch als [[Großfamilie]] bezeichnet, wobei es erhebliche Variationen gibt, sowohl, was die Zahl der Mitglieder, die einbezogenen Generationen oder Seitenlinien, als auch, was den Einbezug Nicht-Blutsverwandter ([[Vormundschaft|Mündel]], [[Gesinde]], [[Sklaverei|Haussklaven]], [[Hauspersonal]], ''[[au pair]]'') angeht. Auch die Interpretation von „Abstammung“ unterscheidet sich (''vergleiche zum Beispiel'' die Institutionen der [[Adoption]] und [[Pflegekind]]ern/[[Pflegeeltern|-eltern]]).
Historisch betrachtet gibt es in Europa eine ganze Reihe von '''Familienformen'''. Gegenstand der Betrachtung waren insbesondere das „Ganze Haus“ und die „Große Haushaltsfamilie“. Beide Formen werden auch als [[Großfamilie]] bezeichnet, wobei es erhebliche Variationen gibt, sowohl, was die Zahl der Mitglieder, die einbezogenen Generationen oder Seitenlinien, als auch, was den Einbezug Nicht-Blutsverwandter ([[Vormundschaft|Mündel]], [[Gesinde]], [[Sklaverei|Haussklaven]], [[Hauspersonal]], ''[[au pair]]'') angeht. Auch die Interpretation von „Abstammung“ unterscheidet sich (''vergleiche zum Beispiel'' die Institutionen der [[Adoption]] und [[Pflegekind|Pflegekinder]]/[[Pflegeeltern|-eltern]]).


Zur Beschreibung der [[Familie]] benötigt die [[Familiensoziologie]] eine Reihe von Begriffen. Teilweise ist seit der [[Antike]] in [[Europa]] eine Entwicklung von der Groß- zur Kleinfamilie festzustellen. In der [[Soziologie]] ist das Gegenstück zur [[Großfamilie]] nicht die [[Kleinfamilie]], sondern die „[[Kernfamilie]]“. Sie ist als Gattenfamilie,<ref>https://link.springer.com/chapter/10.1007/978-3-663-19652-5_14</ref> die aus [[Elternschaft|Eltern]] (Vater, Mutter) und Kindern besteht, die Basis aller ''Familienformen''.
Zur Beschreibung der [[Familie]] benötigt die [[Familiensoziologie]] eine Reihe von Begriffen. Teilweise ist seit der [[Antike]] in [[Europa]] eine Entwicklung von der Groß- zur Kleinfamilie festzustellen. In der [[Soziologie]] ist das Gegenstück zur [[Großfamilie]] nicht die [[Kleinfamilie]], sondern die „[[Kernfamilie]]“. Sie ist als Gattenfamilie,<ref>https://link.springer.com/chapter/10.1007/978-3-663-19652-5_14</ref> die aus [[Elternschaft|Eltern]] (Vater, Mutter) und Kindern besteht, die Basis aller ''Familienformen''.


Dabei besteht das Problem, dass gleiche Begriffe zu ganz unterschiedlichen [[Zeitalter|Epochen]] ganz Unterschiedliches umfassten; so ist die Kernfamilie im [[Feudalismus]] zwar in der Form mit jener in der [[Moderne]] gleich, im Machtgefüge und im sozialen Ansehen bestehen jedoch gravierende Unterschiede, ähnliches zeigt sich durch die Epochen in der Großfamilie.
Dabei besteht das Problem, dass gleiche Begriffe zu ganz unterschiedlichen [[Zeitalter|Epochen]] ganz Unterschiedliches umfassten; so ist die Kernfamilie im [[Feudalismus]] zwar in der Form mit jener in der [[Moderne]] gleich, im Machtgefüge und im sozialen Ansehen bestehen jedoch gravierende Unterschiede, Ähnliches zeigt sich durch die Epochen in der Großfamilie.


== Antike Familie ==
== Antike Familie ==
Familie bedeutete in der Antike eine umfassende Lebens- und Rechtsform zum Teil auch mehrerer [[Generation]]en – zum Beispiel Väter und Söhne – mit unter Umständen sehr vielen [[Sklave]]n in einem „Haus“. Basis der „Antiken Familie“ ist die [[Rechtsform]], die später als „Haus“ bezeichnet wird, in der der Hausvater (''[[Pater familias]]'') nach außen rechtlicher Vertreter und Schutzherr der Familie ist, nach innen als Patriarch Inhaber aller Machtbefugnis (bis hin zum Töten von Sklaven und vielem mehr).
Familie bedeutete in der Antike eine umfassende Lebens- und Rechtsform zum Teil auch mehrerer [[Generation]]en – zum Beispiel Väter und Söhne – mit unter Umständen sehr vielen [[Sklave]]n bzw. [[Knecht]]<nowiki/>en und [[Magd|Mägden]] in einem „Haus“. Basis der „Antiken Familie“ ist die [[Rechtsform]], die später als „Haus“ bezeichnet wird, in der der Hausvater (''[[Pater familias]]'') nach außen rechtlicher Vertreter und Schutzherr der Familie ist, nach innen als [[Patriarchat (Soziologie)|Patriarch]] Inhaber aller Machtbefugnis (bis hin zum Töten von Sklaven und vielem mehr).


== Große Haushaltsfamilie ==
== Große Haushaltsfamilie ==
Im Mittelalter entspricht dem die „Große Haushaltsfamilie“, in der mehrere Generationen, zum Teil auch parallele [[Ehe]]n (zum Beispiel von Brüdern) und gegebenenfalls Verwandte zusammen mit dem [[Gesinde]] eine Lebens- und [[Traditionelle Wirtschaftsform|Wirtschaftsform]] bilden. In der historischen Entwicklung ist die „Große Haushaltsfamilie“ eher in [[Nordeuropa]] zu finden.
Im Mittelalter entspricht dem die „Große Haushaltsfamilie“, in der mehrere Generationen, zum Teil auch parallele [[Ehe]]n (zum Beispiel von Brüdern) und gegebenenfalls Verwandte zusammen mit dem [[Gesinde]] eine Lebens- und [[Traditionelle Wirtschaftsform|Wirtschaftsform]] bilden. In der historischen Entwicklung ist die „Große Haushaltsfamilie“ eher in [[Osteuropa|Ost-]] und [[Nordeuropa]] zu finden, seltener hingegen in [[Westeuropa]].<ref>{{Literatur |Autor=Andrea Maihofer, Tomke Böhnisch, Anne Wolf |Titel=Wandel der Familie |Hrsg=Hans-Böckler-Stiftung |Sammelwerk=Arbeitspapier |Band=48 |Seiten=13 |Online=https://www.boeckler.de/pdf/p_arbp_048.pdf}}</ref>

Die „Große Haushaltfamilie“ bezeichnet Lebensformen, bei denen mehrere Generationen und unter Umständen mehrere parallele Ehen (z.&nbsp;B. von Brüdern) inklusive Gesinde unter einem Dach in einem Lebens- und Wirtschaftsverband lebten. Sie kam eher in Südosteuropa vor (von anderen Welt-Regionen abgesehen – ''vergleiche etwa'' den nordfriesischen [[Haubarg]]). Diese historischen Beispiele weisen darauf hin, dass die Familienbildung durchaus verschieden (auch nebeneinander) stattfinden kann: Geburt, Adoption, Scheidung, Verwitwung, Wiederheirat, [[Pflegschaft]].


== Anwesen ==
== Anwesen ==
Als eine besondere Form ist das (bäuerliche) „Anwesen“ bestimmter Regionen mit großbäuerlicher [[Landwirtschaft]] (zum Beispiel [[Nordwestdeutschland]]s) zu nennen, in dem auf einem (Bauern-)Hof einerseits eine „Kernfamilie“ plus Gesinde/Verwandte als „Erweiterter Haushalt“ den Haupthaushalt des Hausvaters stellt (siehe unten), andererseits aber weitere Haushalte einbezogen sein können, nämlich die von [[Inste]]n und [[Altenteiler]]n. Beide können wiederum „Erweiterte Haushalte“ sein. Während Inste zumeist Arbeitskräfte auf dem Hof waren, sind Altenteiler die früheren Hofhalter, üblicherweise Eltern, Großeltern eines Gatten des Haupthaushalts, seltener auch nicht mit jenen verwandt. Sie hatten zumindest Anteil an den [[Produkt (Wirtschaft)|Produkten]] des Hofes.
Das Zentrum der Familienlebens bildete vielfach das (bäuerliche) „Anwesen“, insbesondere in Regionen mit großbäuerlicher [[Landwirtschaft]] (zum Beispiel [[Nordwestdeutschland]]s; z. B. [[Haubarg]]). Hier lebte auf einem (Bauern-)Hof neben der „Kernfamilie“ auch das Gesinde bzw. Verwandte der Kernfamilie; alle gemeinsam bildeten einen „Erweiterten Haushalt“, dessen Oberhaupt der Hausvater war (siehe unten), andererseits aber weitere Haushalte einbezogen sein können, nämlich die von [[Inste|''Insten'']] und [[Altenteiler|''Altenteilern'']]. Beide können wiederum „Erweiterte Haushalte“ sein. Während ''Inste'' zumeist Arbeitskräfte auf dem Hof waren, waren ''Altenteiler'' die früheren Hofhalter, üblicherweise Eltern und ggf. Großeltern eines Gatten des Haupthaushalts, seltener auch andere, nicht mit den Eigentümern verwandte Personen. Sie hatten zumindest Anteil an den [[Produkt (Wirtschaft)|Produkten]] des Hofes.


== {{Anker|Ganzes Haus}} Haus / Ganzes Haus / Erweiterter Haushalt ==
== {{Anker|Ganzes Haus}} Begriffsdefinitionen: Haus / Ganzes Haus / Erweiterter Haushalt ==
* „Haus“ ist im [[Mittelalter]] –&nbsp;später als „Ganzes Haus“ oder „Erweiterter Haushalt“ benannt&nbsp;– basiert auf der oben genannten [[Rechtsform]] des „Hauses“ (Hausvater als rechtliche Vertretung und Schutzherr …) und wird in Abgrenzung zu den anderen Formen als aus nur einer „Kernfamilie“ plus Gesinde bestehend definiert.
* Das „Haus“ im [[Mittelalter]] –&nbsp;später als „Ganzes Haus“ oder „Erweiterter Haushalt“ benannt&nbsp;– basierte auf der oben genannten [[Rechtsform]] des „Hauses“ (Hausvater als rechtliche Vertretung und Schutzherr …) und wird in Abgrenzung zu den anderen Formen als aus nur einer „[[Kernfamilie]]“ plus Gesinde bestehend definiert.
* „Ganzes Haus“ bezeichnete den Haushalt als Rechts-, Sozial- und Wirtschaftseinheit. Der Soziologe [[Trutz von Trotha]] schreibt: {{"|Im so genannten ‚Ganzen Haus’ der vor- und frühneuzeitlichen Welt standen Haus, Hof, die Abfolge der Generationen, die Dauerhaftigkeit des väterlichen Namens, die Sicherung des Lebensunterhalts und der Schutz der Familie und manches Verwandten im Mittelpunkt des Lebens der Familie.}}<ref>{{Internetquelle |autor=Trutz von Trotha |url=http://www.berlin-institut.org/online-handbuchdemografie/bevoelkerungsdynamik/regionale-dynamik/deutschland/eltern-kind-beziehung.html |titel=Eltern-Kind-Beziehung: Frankreich und Deutschland |hrsg=Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung |datum=Januar 2008 |zugriff=2008-09-20 |archiv-url=https://web.archive.org/web/20081119035316/http://www.berlin-institut.org/online-handbuchdemografie/bevoelkerungsdynamik/regionale-dynamik/deutschland/eltern-kind-beziehung.html |archiv-datum=2008-11-19 |offline=ja |archiv-bot=2019-09-04 12:25:30 InternetArchiveBot }}</ref> Mit der Entwicklung der bürgerlichen und nachbürgerlichen Familie habe sich dies geändert. Das „Ganze Haus“ wird jedoch im 19./20.&nbsp;Jahrhundert beispielsweise durch [[Otto Brunner (Historiker)|Otto Brunner]] zum ideologisch eingefärbten Begriff, der eine idealisierte Harmonie von „Herr und Gesinde“ unter der Führung des Hausvaters betont. Als „Ganzes Haus“ wird nach [[Wilhelm Heinrich Riehl]] die vor allem in „Westeuropa“ entstandene Familienform der Bauern und Stadtbürger bezeichnet, die neben der Kernfamilie primär durch den Einbezug von Gesinde und unverheirateten Verwandten ausgezeichnet war. Wenn auch die Zahl dieser Haushalte nur etwa ein Drittel war, lebten in ihnen doch bis zu 50 % der sesshaften Menschen. Diese Familienform ging mit der Industrialisierung sehr stark zurück. Umstritten ist die „ideologische“ Bedeutung dieser Lebensform: Einerseits gilt sie als harmonischer Hort unterschiedlicher sozialer Stände, als vorbildhaftes Modell patriarchaler Lebensform, andererseits wird seine soziale Kluft zwischen Herrschaft und Gesinde betont und die Bedeutung des „Ganzen Hauses“ gegenüber der Kernfamilie relativiert – die zahlenmäßig immer überwiegt, aber in einer [[mittelalter]]lichen oder frühneuzeitlichen Gesellschaft kaum mit der heutigen Kernfamilie gleichgesetzt werden kann. Erst ab dem 18. Jh. liegen Quellen vor, die Haushalte mit allen in ihr lebenden Mitgliedern verzeichnen ([[Kameralistik]]; Steuer- und Zensuslisten); zuvor weisen Quellen oft ausschließlich Großfamilien der Oberschichten aus. [[René König]] hat darauf verwiesen, dass die Geschichtsschreibung deswegen oft die frühere Bedeutung von Kleinfamilien vernachlässigt habe.
* Das „Ganze Haus“ bezeichnete den Haushalt als Rechts-, Sozial- und Wirtschaftseinheit. Der Soziologe [[Trutz von Trotha]] schreibt: {{"|Im so genannten ‚Ganzen Haus’ der vor- und frühneuzeitlichen Welt standen Haus, Hof, die Abfolge der Generationen, die Dauerhaftigkeit des väterlichen Namens, die Sicherung des Lebensunterhalts und der Schutz der Familie und manches Verwandten im Mittelpunkt des Lebens der Familie.}}<ref>{{Literatur |Autor=Claudia Schlembach |Titel=Im Takt: Arbeit, Familie, Partnerschaft |Hrsg=Hans-Seidel-Stiftung |Sammelwerk=Politische Studien |Band=19 |Nummer=3 |Datum=2012-11 |ISSN=0032-3462 |Seiten=95-101}}</ref> Mit der Entwicklung der bürgerlichen und nachbürgerlichen Familie habe sich dies geändert. Das „Ganze Haus“ wurde jedoch im 19./20.&nbsp;Jahrhundert, beispielsweise durch [[Otto Brunner (Historiker)|Otto Brunner]], zum ideologisch eingefärbten Begriff, der eine idealisierte Harmonie von „Herr und Gesinde“ unter der Führung des Hausvaters betonte. Als „Ganzes Haus“ wird nach [[Wilhelm Heinrich Riehl]] die vor allem in „Westeuropa“ entstandene Familienform der Bauern und Stadtbürger bezeichnet, die neben der Kernfamilie primär durch den Einbezug von Gesinde und unverheirateten Verwandten ausgezeichnet war. Wenn auch der Anteil dieser Haushalte nur etwa ein Drittel aller ausmachte, lebten in ihnen doch bis zu 50 % der sesshaften Menschen. Mit der Industrialisierung ging diese Lebensform sehr stark zurück. Umstritten ist ihre „ideologische“ Bedeutung: Einerseits gilt sie als harmonischer Hort unterschiedlicher sozialer Stände, als vorbildhaftes Modell patriarchaler Lebensform, andererseits wird die soziale Kluft zwischen Herrschaft und Gesinde betont und die Bedeutung des „Ganzen Hauses“ gegenüber der Kernfamilie relativiert – die zahlenmäßig immer überwog, aber in einer [[mittelalter]]lichen oder frühneuzeitlichen Gesellschaft kaum mit der heutigen Kernfamilie gleichgesetzt werden kann. Erst ab dem 18. Jh. liegen Quellen vor, die Haushalte mit allen in ihr lebenden Mitgliedern verzeichnen ([[Kameralistik]]; Steuer- und Zensuslisten); zuvor weisen Quellen oft ausschließlich Großfamilien der Oberschichten aus. [[René König]] hat darauf verwiesen, dass die Geschichtsschreibung deswegen oft die frühere Bedeutung von Kleinfamilien vernachlässigt habe.<ref>{{Internetquelle |autor=Werner Troßbach |url=https://periodika.digitale-sammlungen.de/bdlg/Blatt_bsb00000333,00287.html |titel=Das ganze Haus - Basiskategorie für das Verständnis der ländlichen Gesellschaft deutscher Territorien in er Frühen Neuzeit? |werk=Blätter für deutsche Landesgeschichte |datum=1993 |abruf=2021-11-01}}</ref>
* „Erweiterten Haushalt“ beschreibt (in der Rechtsform des „Hauses“) die Situation präziser, um methodisch eindeutig auf nur eine „Kernfamilie“ plus Gesinde und gegebenenfalls Verwandte zu verweisen. Der „Erweiterte Haushalt“ ist eher Bestandteil der Familienformen [[Westeuropa]]s.
* Der Begriff „Erweiterter Haushalt“ beschreibt (in der Rechtsform des „Hauses“) die Situation präziser, indem er methodisch eindeutig auf nur eine „Kernfamilie“ plus Gesinde und gegebenenfalls Verwandte verweist. Er bezieht sich nicht zuletzt auf das städtische Umfeld.<ref>{{Literatur |Autor=Lars Hennings |Titel=Familien- und Gemeinschaftsformen am Übergang zur Moderne |Verlag=Duncker & Humboldt |Ort=Berlin |Datum=1995 |ISBN=3-428-08332-6 |Seiten=7}}</ref>
{{Siehe auch|Ökonomik in Antike und Mittelalter}}
{{Siehe auch|Ökonomik in Antike und Mittelalter}}


== Bürgerliche Familie ==
== Bürgerliche Familie ==


Die „[[Bürgerliche Gesellschaft|bürgerliche]] Familie“ entwickelt sich aus dem „Haus“ der städtischen [[Kaufleute]] und des sich bildenden Bildungsbürgertums in der [[Vormoderne]]. Das häufig eingestellte Gesinde hat eine andere Stellung als noch bei [[Handwerk]]ern oder gar [[Landwirt|Bauern]] (bei denen [[Gesinde]] oft aus der eigenen Schicht kam).
Die „[[Bürgerliche Gesellschaft|bürgerliche]] Familie“ entwickelte sich aus dem „Haus“ der städtischen [[Kaufleute]] und des sich bildenden [[Bildungsbürgertum]]<nowiki/>s in der [[Vormoderne]]. Hier wurde die Kernfamilie zum alleinigen Mittelpunkt des Hauses. Das vielerorts eingestellte [[Gesinde]] hatte eine andere Stellung als noch bei [[Handwerk]]ern oder gar [[Landwirt|Bauern]] (bei denen das Gesinde oft aus der eigenen Schicht kam): Die Distanz zu den Dienstboten und Haushaltshilfen wurde stilbildend.
Hier wird die Kernfamilie zum alleinigen Fokus des Hauses. Die Distanz zu den Dienstboten wird stilbildend.


Charakteristisch für die bürgerliche Familie war die strikte Rollenverteilung in der Familie. So war der Mann für die außerhäuslichen Angelegenheiten verantwortlich wie beispielsweise für die Sicherung des Einkommens oder dem Pflegen der sozialen Kontakte zuständig, während die Frau vorrangig die Kindererziehung und den Haushalt übernahm.
Charakteristisch für die bürgerliche Familie war die strikte Rollenverteilung in der Familie. So war der Mann für die außerhäuslichen Angelegenheiten verantwortlich, etwa die Sicherung des Einkommens oder das Pflegen der sozialen Kontakte, während die Frau vorrangig die Kindererziehung und den Haushalt übernahm.


== Kernfamilie ==
== Kernfamilie ==
Am Ende der Entwicklung steht in der [[Industrialisierung]] die [[Kernfamilie]] (2 Bedeutungsinhalte), die Funktion und Rechte des „Hauses“ übernimmt und in der zugleich beide Gatten als bürgerliche Individuen rechtsfähig werden (Aufhebung des „Hauses“; wenn auch noch lange einseitig zugunsten des Mannes). Sie entsteht sowohl aus der „Bürgerlichen Familie“ des [[Bildungsbürgertum|Bildungs-]] und Besitzbürgertums vornehmlich der [[Stadt|Städte]], aus dem [[Handwerk]] bei Ausgliederung der [[Werkstatt|Werkstätten]] und [[Beschäftigte]]n als auch aus der entstehenden [[Arbeiterschaft]]. Die Kernfamilie ist mit der traditionellen Familie vergleichbar.
Am Ende der Entwicklung stand nach der [[Industrialisierung]] die Kernfamilie, d. h. die auf ihren eigentlichen Kern – Vater, Mutter und deren gemeinsame Kinder – reduzierte Familie, die die Funktion und die Rechte des „Hauses“ übernahm und in der zugleich beide Gatten als bürgerliche Individuen rechtsfähig wurden (Aufhebung des „Hauses“; wenn auch noch lange einseitig zugunsten des Mannes). Sie entsteht sowohl aus der „Bürgerlichen Familie“ des [[Bildungsbürgertum|Bildungs-]] und Besitzbürgertums vornehmlich der [[Stadt|Städte]], aus dem [[Handwerk]] bei Ausgliederung der [[Werkstatt|Werkstätten]] und [[Beschäftigte]]n als auch aus der aufkommenden [[Arbeiterschaft]]. Die Kernfamilie ist begrifflich mit der traditionellen Familie vergleichbar.


== Traditionelle Familie ==
== Traditionelle Familie ==
Die traditionelle Familie besteht aus Eltern, die verheiratet sind, und ihren gemeinsamen Kindern, wobei alle zusammen in einem Haushalt leben. Das ist die Idealvorstellung der letzten Jahrzehnte in Deutschland. Immer noch gibt es diese klassische Form des familiären Zusammenlebens.
Die traditionelle Familie besteht aus Eltern, die verheiratet sind, und ihren gemeinsamen Kindern, wobei alle in einem gemeinsamen Haushalt leben. Das ist die Idealvorstellung der letzten Jahrzehnte in Deutschland. Immer noch gibt es diese klassische Form des familiären Zusammenlebens.


Allerdings haben sich die Rollenverteilungen weiterentwickelt. Früher sorgte sich die Frau meist um die Kinder, den Ehemann und den sonstigen Haushalt, der Mann ging arbeiten. Heute gehen auch die Mütter immer öfter arbeiten – oftmals suchen sie sich eine Halbtagsarbeit, sobald die Kinder im Kindergarten untergebracht sind. Auch Väter nehmen immer öfter ihr Recht auf Erziehungsurlaub in Anspruch bzw. arbeiten in Teilzeit. Die Zahl der Kinder ist stark zurückgegangen; brachte eine Frau in Deutschlandvor 50 Jahren im Durchschnitt 2 oder 3 Kinder zur Welt, sind es gegenwärtig nur noch 1,4 Kinder. Dies wird vielfach auf die Schwierigkeit für Frauen zurückgeführt, Beruf und Familie miteinander zu vereinbaren. Um diese Situation zu verbessern, werden Ganztagsschulen und Kinderbetreuungseinrichtungen ausgebaut..
Die traditionelle Familie, welche auf Zuverlässigkeit angewiesen ist, steht einem Arbeitsleben, das durch Veränderungen und Kurzfristigkeit gekennzeichnet ist, gegenüber. Aus diesen Gründen ist es schwer, eine traditionelle Familie vernünftig aufrechtzuerhalten. Die Familie muss sich also wegen den Ansprüchen der heutigen Zeit ändern, deshalb werden Familienformen wie Stieffamilien und Einelternfamilien immer populärer; was früher als Schande galt wird heute voll akzeptiert. Solche Familienformen bieten durchaus Vorteile, denn die Kinder lernen schneller Verantwortung zu übernehmen und selbstständig zu werden.


Ein Vorteil der traditionellen Famile ist ihre gute rechtliche Absicherung: Vom Unterhaltsrecht bis zum Sorgerecht sind die gesetzlichen Regelungen für diese Familienform am umfangreichsten.
Früher sorgte sich die Frau meist um die Kinder, den Ehemann und den sonstigen Haushalt, der Mann ging arbeiten. Heute gehen auch die Mütter immer öfter arbeiten – meist suchen sie sich eine Halbtagsarbeit, sobald die Kinder im Kindergarten untergebracht sind. Auch Väter nehmen immer öfter ihr Recht in Anspruch auf Erziehungsurlaub zu gehen. Sie haben auch ein Recht auf Teilzeitarbeit. Jede Frau in Deutschland bringt statt 2 oder 3 Kinder wie es noch der Durchschnitt vor 50 Jahren war – nur noch 1,4 Kinder zur Welt. Um diesen Trend zu stoppen werden Ganztagsschulen und Kinderbetreuungseinrichtungen ausgebaut, um Frauen die Möglichkeit zu geben Beruf und Familie miteinander zu vereinbaren. Die Familie hat auch eine gute rechtliche Absicherung: Vom Unterhaltsrecht bis zum Sorgerecht sind die gesetzlichen Regelungen für diese Familienform am umfangreichsten.


Trotz steigender Scheidungsraten lebt mehr als die Hälfte der Bevölkerung innerhalb einer Familie mit Kindern und 80 Prozent der Kinder wachsen mit Geschwistern auf. Die traditionelle Familie scheint auch noch heute als Lebensform beliebt zu sein. Die meisten Paare äußern den Wunsch eine kleine, klassische Familie zu gründen. Also hat die traditionelle Familie neben anderen Familienformen immer noch ihren Platz in der Gesellschaft.
Trotz steigender Scheidungsraten lebt mehr als die Hälfte der Bevölkerung innerhalb einer Familie mit Kindern, und 80 Prozent der Kinder wachsen mit Geschwistern auf. Die traditionelle Familie ist also auch noch heute als Lebensform beliebt. Die meisten Paare äußern den Wunsch nach einer kleinen klassischen Familie.


== Postmoderne Familie ==
== Postmoderne Familie ==
Die traditionelle Familie, welche auf Zuverlässigkeit angewiesen ist, steht einem Arbeitsleben, das durch Veränderungen und Kurzfristigkeit gekennzeichnet ist, gegenüber. Daher wird es oftmals als schwierig empfunden, eine traditionelle Familienstruktur aufrechtzuerhalten. Für viele hat dies zur Konsequenz, andere Familienformen zu wählen bzw. zu akzeptieren. Stieffamilien und Einelternfamilien immer populärer; was früher als Schande galt, ist heute weitgehend gesellschaftlich akzeptiert. Neben verschiedenen Nachteilen können solche Familienformen auch Vorteile bieten, etwa indem Kinder schneller lernen, Verantwortung zu übernehmen und selbstständig zu werden.<ref>{{Internetquelle |url=https://gedankenwelt.de/alleinerziehende-eltern-vorteile-und-nachteile/ |titel=Alleinerziehende Eltern: Vorteile und Nachteile |werk=Gedankenwelt.de |datum=2020-08-31 |abruf=2021-11-01}}</ref>
Als „postmoderne Familie“ entwickeln sich primär in Westeuropa Formen, die die Auflösung der Gattenfamilie tangieren. Der Begriff der Postmoderne ist dabei in die Familiensoziologie eingeführt (unter anderem bei Lüscher; siehe unten), soll aber eher so etwas wie „Nachmoderne“, (Beck) also die Zeit nach der Hochphase der Industrialisierung, sprich: etwa ab dem Zweiten Weltkrieg, bedeuten. Wenn auch die [[Ehe]] der Ehegatten in der [[Kernfamilie]] zahlenmäßig weiter deutlich überwiegt, ist doch eine Reihe entsprechender Entwicklungen festzustellen. Sie reicht von [[Wohngemeinschaft]]en und [[Partnerschaft]]en über [[Einelternfamilie]]n bis hin zur Verbindung zweier Eltern mit je eigenen Kindern zu einer [[Stieffamilie]] ohne rechtliche Bindung. Ein oft dafür verwendeter Ausdruck, die ''[[Patchworkfamilie]]'', beleuchtet die Sicht der in solch einem sukzessiven Verbund aufwachsenden Kindern. Unter Umständen hat so ein Kind sechs oder mehr Großelternpaare mit unterschiedlicher Intensität der emotionalen und instrumentellen Bindungen. Staatlicherseits wird die nicht-eheliche Verbindung formalisiert, sei es durch Anrechnung von Einkommen nichtehelicher Partner in der Armengesetzgebung (Deutschland: [[eheähnliche Lebensgemeinschaft]], [[Bedarfsgemeinschaft]]), sei es durch Anerkennung der Verbindung homosexueller Paare ([[Lebenspartnerschaftsgesetz|eingetragene Lebenspartnerschaft]]), oder –&nbsp;andererseits&nbsp;– durch gemeinsames [[Sorgerecht (international)|Sorgerecht]] nichtverheirateter Eltern bei gemeinsamen Kindern. Doch auch in modernen rechtsgültigen Ehen werden Lebensbeziehungen alltäglich, die solchen Entwicklungen entsprechen.

Insgesamt ist ein Trend zur Auflösung der Gattenfamilie festzustellen. Neue Strukturen, die sich primär in Westeuropa entwickeln, werden gern unter dem Oberbegriff „postmoderne Familie“ zusammengefasst. Der Begriff der „Postmoderne“ im soziologischen Sinne meint das Vorliegen eines Pluralismus von Sprachen, Modellen und Verhaltensweisen.<ref name=":0">{{Internetquelle |autor=Christine Goldberg |url=http://www.demokratiezentrum.org/fileadmin/media/pdf/goldberg.pdf |titel=Familie in der Post-Moderne |datum=1998 |abruf=2011-11-01}}</ref> Er soll so etwas wie „Nachmoderne“ (Beck) bedeuten, also die Zeit nach der Hochphase der Industrialisierung, sprich: etwa ab dem Zweiten Weltkrieg. Gesellschaftlich ist seitdem eine Reihe alternativer Entwicklungen neben dem freilich weiterhin deutlich überwiegenden Konzept der Kernfamilie festzustellen. Sie reichen von [[Wohngemeinschaft]]en und [[Partnerschaft]]en über [[Einelternfamilie]]n bis hin zur Verbindung zweier Eltern mit jeweils eigenen Kindern zu einer [[Stieffamilie]] ohne rechtliche Bindung. Ein oft dafür verwendeter Ausdruck, ''[[Patchworkfamilie]]'', beleuchtet die Sicht der in solch einem sukzessiven Verbund aufwachsenden Kinder. Unter Umständen hat so ein Kind sechs oder mehr Großelternpaare mit unterschiedlicher Intensität der emotionalen und instrumentellen Bindungen. Staatlicherseits wird die nicht-eheliche Verbindung formalisiert, sei es durch Anrechnung von Einkommen nichtehelicher Partner in der Armengesetzgebung (Deutschland: [[eheähnliche Lebensgemeinschaft]], [[Bedarfsgemeinschaft]]), sei es durch Anerkennung der Verbindung [[Homosexualität|homosexueller]] Paare ([[Lebenspartnerschaftsgesetz|eingetragene Lebenspartnerschaft]], [[gleichgeschlechtliche Ehe]]), oder –&nbsp;andererseits&nbsp;– durch gemeinsames [[Sorgerecht (international)|Sorgerecht]] nichtverheirateter Eltern bei gemeinsamen Kindern. Doch auch in modernen rechtsgültigen Ehen werden Lebensbeziehungen alltäglich, die solchen Entwicklungen entsprechen.<ref>{{Internetquelle |autor=Judith Luig |url=https://www.zeit.de/gesellschaft/familie/2020-03/familienmodelle-standardmodell-patchwork-homoehe-adoptionsrecht |titel=Das Ende der Kernfamilie |werk=Zeit online |datum=2020-03-05 |abruf=2021-11-01}}</ref><ref name=":0" /><ref>{{Literatur |Autor=Maria Eleonora Karsten, Hans-Uwe Otto |Titel=Die „postomoderne Familie“ - nur ein Zitat der Idee der bürgerlichen Familie? |Hrsg=Heinz-Herrmann Krüger |Sammelwerk=Abschied von der Aufklärung? |Verlag=VS Verlag für Sozialwissenschaften |Datum=1990 |ISBN=978-3-8100-0798-8}}</ref>


== Weitere Typologien ==
== Weitere Typologien ==
Den Versuch einer Typologie historischer und moderner Familiensysteme entwickelte [[Emmanuel Todd]] und verfeinerte sie im Laufe der Jahre. Er geht von einer mentalitätsprägenden Wirkung von Familienstrukturen aus, die sich auch auf die Ökonomie auswirken, z.&nbsp;B. auf Unternehmensformen, Erbrecht, Eigentumsrecht und Mobilität. So entstehen mit den frühen Agrargesellschaften Familiensysteme (und Weltsichten), die hierarchisch und autoritär geprägt sind und dem ältesten Sohn einen überproportionalen Anteil ihres Eigentums vererben. Damit führen sie zur ungeteilten Ansammlung von Eigentum und Wissen. Typisch dafür ist die „Stammfamilie“ wie in Deutschland, Japan oder Korea mit hoher Bedeutung der Abstammungslinie, enger Bindung an den Boden und hohem Anteil an Familienunternehmen. Wo hingegen Eigentum egalitär vererbt wird wie in Nordfrankreich oder ohne feste Regeln frei vererbt wird wie in den angelsächsischen Ländern, werden Menschen eher als gleich angesehen bzw. ihnen wird ihr Erbe z.&nbsp;B. nach ihren Verdiensten und nicht nach ihrer Position in der Erbfolge zugemessen. Hier hat nach Todd die Idee universeller [[Menschenrechte]] ihren Ursprung. Die „kommunitär“-[[Exogamie|exogame]] Familie der egalitären Brüdergemeinschaft mit autoritärem Patriarchen, die ihren Ursprung in den Nomadengesellschaften hat, aber heute in Russland, Teilen Chinas und auf dem Balkan überlebt, führe ebenso wie die [[Endogamie|endogam]]-kommunitäre Familie der altorientalischen Agrargesellschaften zu einer Abwertung der Rolle der Frauen. Die erstere neige wegen ihres Egalitarismus zur Zersplitterung ihres Eigentums oder zum dörflichen Gemeinschaftseigentum, die letztere zur Konzentration in einer Hand. Die vor allem in den USA verbreitete, extrem reduzierte und in ihrer Existenz zeitlich eng befristete Kernfamilie sei hingegen extrem mobil gegenüber den konservativ-statischen Strukturen der bäuerlichen Großfamilie; ihre Mitglieder tendieren zu liberalen Werten; es existieren jedoch nur wenige Familienunternehmen, die zwei Generationen überdauern. In diesen Kontexten wirken auch religiöse Traditionen nach der Säkularisierung als unbewusste Regelsysteme fort, indem sie z.&nbsp;B. Immer noch die Heiratsmuster beeinflussen. Todd spricht in diesem Zusammenhang von „Zombie-Religionen“, die sich der Vorstellung von einer raschen Einebnung der Differenzen infolge der Globalisierung widersetzen: So prägte der Katholizismus die Vorstellungen vom Familienleben in großen Teilen Süd- und Zentraleuropas und der kulturelle Einfluss der Bibel die Vorstellung vom [[Erstgeburtsrecht]].<ref>Emmanuel Todd: ''Traurige Moderne. Eine Geschichte der Menschheit von der Steinzeit bis zum Homo americanus.'' C. H. Beck, 2018.</ref>
Eine Typologie historischer und moderner Familiensysteme entwickelte [[Emmanuel Todd]] und verfeinerte sie im Laufe der Jahre.<ref>{{Internetquelle |autor=Michael Hesse |url=https://www.fr.de/kultur/hoheitsgebiet-familie-10965746.html |titel=Interview Emmanuel Todd: Im Hoheitsgebiet der Familie |hrsg=Frankfurter Rundschau |datum=2018-11-15 |abruf=2021-11-01}}</ref> Er geht von einer mentalitätsprägenden Wirkung von Familienstrukturen aus, die sich auch auf die Ökonomie auswirken, z.&nbsp;B. auf Unternehmensformen, Erbrecht, Eigentumsrecht und Mobilität. So entstehen mit den frühen Agrargesellschaften Familiensysteme (und Weltsichten), die hierarchisch und autoritär geprägt sind und dem ältesten Sohn einen überproportionalen Anteil ihres Eigentums vererben. Damit führen sie zur ungeteilten Ansammlung von Eigentum und Wissen. Typisch dafür ist die „Stammfamilie“ wie in Deutschland, Japan oder Korea mit hoher Bedeutung der Abstammungslinie, enger Bindung an den Boden und hohem Anteil an Familienunternehmen.<ref>{{Literatur |Autor=Emmanuel Todd |Titel=Traurige Moderne |Verlag=C.H.Beck |Ort=München |Datum=2018 |ISBN=978-3-406-72475-6 |Seiten=69}}</ref> Wo hingegen Eigentum egalitär vererbt wird wie in Nordfrankreich oder ohne feste Regeln frei vererbt wird wie in den angelsächsischen Ländern, werden Menschen eher als gleich angesehen bzw. ihnen wird ihr Erbe z.&nbsp;B. nach ihren Verdiensten und nicht nach ihrer Position in der Erbfolge zugemessen. Hier hat nach Todd die Idee universeller [[Menschenrechte]] ihren Ursprung. Die „kommunitär“-[[Exogamie|exogame]] Familie der egalitären Brüdergemeinschaft mit autoritärem Patriarchen, die ihren Ursprung in den Nomadengesellschaften hat, aber heute in Russland, Teilen Chinas und auf dem Balkan überlebt, führe ebenso wie die [[Endogamie|endogam]]-kommunitäre Familie der altorientalischen Agrargesellschaften zu einer Abwertung der Rolle der Frauen. Die erstere neige wegen ihres Egalitarismus zur Zersplitterung ihres Eigentums oder zum dörflichen Gemeinschaftseigentum, die letztere zur Konzentration in einer Hand. Die vor allem in den USA verbreitete, extrem reduzierte und in ihrer Existenz zeitlich eng befristete Kernfamilie sei hingegen extrem mobil gegenüber den konservativ-statischen Strukturen der bäuerlichen Großfamilie; ihre Mitglieder tendieren zu liberalen Werten; es existieren jedoch nur wenige Familienunternehmen, die zwei Generationen überdauern. In diesen Kontexten wirken auch religiöse Traditionen nach der Säkularisierung als unbewusste Regelsysteme fort, indem sie z.&nbsp;B. Immer noch die Heiratsmuster beeinflussen. Todd spricht in diesem Zusammenhang von „Zombie-Religionen“, die sich der Vorstellung einer raschen Einebnung der Differenzen infolge der Globalisierung widersetzen: So prägte der Katholizismus die Vorstellungen vom Familienleben in großen Teilen Süd- und Zentraleuropas und der kulturelle Einfluss der Bibel die Vorstellung vom [[Erstgeburtsrecht]].<ref>{{Literatur |Autor=Emmanuel Todd |Titel=Traurige Moderne |Verlag=C.H.Beck |Ort=München |Datum=2018 |ISBN=978-3-406-72475-6 |Seiten=71}}</ref>


== Siehe auch ==
== Siehe auch ==
Zeile 56: Zeile 55:
* [[Kleinfamilie]]
* [[Kleinfamilie]]
* [[Einelternfamilie]]
* [[Einelternfamilie]]

== Weblinks ==
{{Cite web|url=https://www.boeckler.de/pdf/p_arbp_048.pdf|title=Wandel der Familie|date=2001-10|accessdate=2021-11-01|author=Andrea Maihofer, Tomke Böhnisch, Anne Wolf|publisher=Hans-Böckler-Stiftung}}


== Literatur ==
== Literatur ==
Zeile 67: Zeile 69:
* [[Ferdinand Tönnies]]: ''Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe d. reinen Soziologie.'' Diesem Neudruck liegt die 8. Auflage von 1935 zugrunde. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1979, ISBN 3-534-05180-7.
* [[Ferdinand Tönnies]]: ''Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe d. reinen Soziologie.'' Diesem Neudruck liegt die 8. Auflage von 1935 zugrunde. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1979, ISBN 3-534-05180-7.
* [[Ingeborg Weber-Kellermann]]: ''Die Familie.'' Insel-Verlag, Frankfurt am Main 1990.
* [[Ingeborg Weber-Kellermann]]: ''Die Familie.'' Insel-Verlag, Frankfurt am Main 1990.
*{{Literatur |Autor=Emmanuel Todd |Titel=Traurige Moderne. Eine Geschichte der Menschheit von der Steinzeit bis zum Homo americanus |Verlag=C.H.Beck |Ort=München |Datum=2018 |ISBN=978-3-406-72475-6}}


== Einzelnachweise ==
== Einzelnachweise ==

Version vom 1. November 2021, 22:13 Uhr

Historisch betrachtet gibt es in Europa eine ganze Reihe von Familienformen. Gegenstand der Betrachtung waren insbesondere das „Ganze Haus“ und die „Große Haushaltsfamilie“. Beide Formen werden auch als Großfamilie bezeichnet, wobei es erhebliche Variationen gibt, sowohl, was die Zahl der Mitglieder, die einbezogenen Generationen oder Seitenlinien, als auch, was den Einbezug Nicht-Blutsverwandter (Mündel, Gesinde, Haussklaven, Hauspersonal, au pair) angeht. Auch die Interpretation von „Abstammung“ unterscheidet sich (vergleiche zum Beispiel die Institutionen der Adoption und Pflegekinder/-eltern).

Zur Beschreibung der Familie benötigt die Familiensoziologie eine Reihe von Begriffen. Teilweise ist seit der Antike in Europa eine Entwicklung von der Groß- zur Kleinfamilie festzustellen. In der Soziologie ist das Gegenstück zur Großfamilie nicht die Kleinfamilie, sondern die „Kernfamilie“. Sie ist als Gattenfamilie,[1] die aus Eltern (Vater, Mutter) und Kindern besteht, die Basis aller Familienformen.

Dabei besteht das Problem, dass gleiche Begriffe zu ganz unterschiedlichen Epochen ganz Unterschiedliches umfassten; so ist die Kernfamilie im Feudalismus zwar in der Form mit jener in der Moderne gleich, im Machtgefüge und im sozialen Ansehen bestehen jedoch gravierende Unterschiede, Ähnliches zeigt sich durch die Epochen in der Großfamilie.

Antike Familie

Familie bedeutete in der Antike eine umfassende Lebens- und Rechtsform zum Teil auch mehrerer Generationen – zum Beispiel Väter und Söhne – mit unter Umständen sehr vielen Sklaven bzw. Knechten und Mägden in einem „Haus“. Basis der „Antiken Familie“ ist die Rechtsform, die später als „Haus“ bezeichnet wird, in der der Hausvater (Pater familias) nach außen rechtlicher Vertreter und Schutzherr der Familie ist, nach innen als Patriarch Inhaber aller Machtbefugnis (bis hin zum Töten von Sklaven und vielem mehr).

Große Haushaltsfamilie

Im Mittelalter entspricht dem die „Große Haushaltsfamilie“, in der mehrere Generationen, zum Teil auch parallele Ehen (zum Beispiel von Brüdern) und gegebenenfalls Verwandte zusammen mit dem Gesinde eine Lebens- und Wirtschaftsform bilden. In der historischen Entwicklung ist die „Große Haushaltsfamilie“ eher in Ost- und Nordeuropa zu finden, seltener hingegen in Westeuropa.[2]

Anwesen

Das Zentrum der Familienlebens bildete vielfach das (bäuerliche) „Anwesen“, insbesondere in Regionen mit großbäuerlicher Landwirtschaft (zum Beispiel Nordwestdeutschlands; z. B. Haubarg). Hier lebte auf einem (Bauern-)Hof neben der „Kernfamilie“ auch das Gesinde bzw. Verwandte der Kernfamilie; alle gemeinsam bildeten einen „Erweiterten Haushalt“, dessen Oberhaupt der Hausvater war (siehe unten), andererseits aber weitere Haushalte einbezogen sein können, nämlich die von Insten und Altenteilern. Beide können wiederum „Erweiterte Haushalte“ sein. Während Inste zumeist Arbeitskräfte auf dem Hof waren, waren Altenteiler die früheren Hofhalter, üblicherweise Eltern und ggf. Großeltern eines Gatten des Haupthaushalts, seltener auch andere, nicht mit den Eigentümern verwandte Personen. Sie hatten zumindest Anteil an den Produkten des Hofes.

Begriffsdefinitionen: Haus / Ganzes Haus / Erweiterter Haushalt

  • Das „Haus“ im Mittelalter – später als „Ganzes Haus“ oder „Erweiterter Haushalt“ benannt – basierte auf der oben genannten Rechtsform des „Hauses“ (Hausvater als rechtliche Vertretung und Schutzherr …) und wird in Abgrenzung zu den anderen Formen als aus nur einer „Kernfamilie“ plus Gesinde bestehend definiert.
  • Das „Ganze Haus“ bezeichnete den Haushalt als Rechts-, Sozial- und Wirtschaftseinheit. Der Soziologe Trutz von Trotha schreibt: „Im so genannten ‚Ganzen Haus’ der vor- und frühneuzeitlichen Welt standen Haus, Hof, die Abfolge der Generationen, die Dauerhaftigkeit des väterlichen Namens, die Sicherung des Lebensunterhalts und der Schutz der Familie und manches Verwandten im Mittelpunkt des Lebens der Familie.“[3] Mit der Entwicklung der bürgerlichen und nachbürgerlichen Familie habe sich dies geändert. Das „Ganze Haus“ wurde jedoch im 19./20. Jahrhundert, beispielsweise durch Otto Brunner, zum ideologisch eingefärbten Begriff, der eine idealisierte Harmonie von „Herr und Gesinde“ unter der Führung des Hausvaters betonte. Als „Ganzes Haus“ wird nach Wilhelm Heinrich Riehl die vor allem in „Westeuropa“ entstandene Familienform der Bauern und Stadtbürger bezeichnet, die neben der Kernfamilie primär durch den Einbezug von Gesinde und unverheirateten Verwandten ausgezeichnet war. Wenn auch der Anteil dieser Haushalte nur etwa ein Drittel aller ausmachte, lebten in ihnen doch bis zu 50 % der sesshaften Menschen. Mit der Industrialisierung ging diese Lebensform sehr stark zurück. Umstritten ist ihre „ideologische“ Bedeutung: Einerseits gilt sie als harmonischer Hort unterschiedlicher sozialer Stände, als vorbildhaftes Modell patriarchaler Lebensform, andererseits wird die soziale Kluft zwischen Herrschaft und Gesinde betont und die Bedeutung des „Ganzen Hauses“ gegenüber der Kernfamilie relativiert – die zahlenmäßig immer überwog, aber in einer mittelalterlichen oder frühneuzeitlichen Gesellschaft kaum mit der heutigen Kernfamilie gleichgesetzt werden kann. Erst ab dem 18. Jh. liegen Quellen vor, die Haushalte mit allen in ihr lebenden Mitgliedern verzeichnen (Kameralistik; Steuer- und Zensuslisten); zuvor weisen Quellen oft ausschließlich Großfamilien der Oberschichten aus. René König hat darauf verwiesen, dass die Geschichtsschreibung deswegen oft die frühere Bedeutung von Kleinfamilien vernachlässigt habe.[4]
  • Der Begriff „Erweiterter Haushalt“ beschreibt (in der Rechtsform des „Hauses“) die Situation präziser, indem er methodisch eindeutig auf nur eine „Kernfamilie“ plus Gesinde und gegebenenfalls Verwandte verweist. Er bezieht sich nicht zuletzt auf das städtische Umfeld.[5]

Bürgerliche Familie

Die „bürgerliche Familie“ entwickelte sich aus dem „Haus“ der städtischen Kaufleute und des sich bildenden Bildungsbürgertums in der Vormoderne. Hier wurde die Kernfamilie zum alleinigen Mittelpunkt des Hauses. Das vielerorts eingestellte Gesinde hatte eine andere Stellung als noch bei Handwerkern oder gar Bauern (bei denen das Gesinde oft aus der eigenen Schicht kam): Die Distanz zu den Dienstboten und Haushaltshilfen wurde stilbildend.

Charakteristisch für die bürgerliche Familie war die strikte Rollenverteilung in der Familie. So war der Mann für die außerhäuslichen Angelegenheiten verantwortlich, etwa die Sicherung des Einkommens oder das Pflegen der sozialen Kontakte, während die Frau vorrangig die Kindererziehung und den Haushalt übernahm.

Kernfamilie

Am Ende der Entwicklung stand nach der Industrialisierung die Kernfamilie, d. h. die auf ihren eigentlichen Kern – Vater, Mutter und deren gemeinsame Kinder – reduzierte Familie, die die Funktion und die Rechte des „Hauses“ übernahm und in der zugleich beide Gatten als bürgerliche Individuen rechtsfähig wurden (Aufhebung des „Hauses“; wenn auch noch lange einseitig zugunsten des Mannes). Sie entsteht sowohl aus der „Bürgerlichen Familie“ des Bildungs- und Besitzbürgertums vornehmlich der Städte, aus dem Handwerk bei Ausgliederung der Werkstätten und Beschäftigten als auch aus der aufkommenden Arbeiterschaft. Die Kernfamilie ist begrifflich mit der traditionellen Familie vergleichbar.

Traditionelle Familie

Die traditionelle Familie besteht aus Eltern, die verheiratet sind, und ihren gemeinsamen Kindern, wobei alle in einem gemeinsamen Haushalt leben. Das ist die Idealvorstellung der letzten Jahrzehnte in Deutschland. Immer noch gibt es diese klassische Form des familiären Zusammenlebens.

Allerdings haben sich die Rollenverteilungen weiterentwickelt. Früher sorgte sich die Frau meist um die Kinder, den Ehemann und den sonstigen Haushalt, der Mann ging arbeiten. Heute gehen auch die Mütter immer öfter arbeiten – oftmals suchen sie sich eine Halbtagsarbeit, sobald die Kinder im Kindergarten untergebracht sind. Auch Väter nehmen immer öfter ihr Recht auf Erziehungsurlaub in Anspruch bzw. arbeiten in Teilzeit. Die Zahl der Kinder ist stark zurückgegangen; brachte eine Frau in Deutschlandvor 50 Jahren im Durchschnitt 2 oder 3 Kinder zur Welt, sind es gegenwärtig nur noch 1,4 Kinder. Dies wird vielfach auf die Schwierigkeit für Frauen zurückgeführt, Beruf und Familie miteinander zu vereinbaren. Um diese Situation zu verbessern, werden Ganztagsschulen und Kinderbetreuungseinrichtungen ausgebaut..

Ein Vorteil der traditionellen Famile ist ihre gute rechtliche Absicherung: Vom Unterhaltsrecht bis zum Sorgerecht sind die gesetzlichen Regelungen für diese Familienform am umfangreichsten.

Trotz steigender Scheidungsraten lebt mehr als die Hälfte der Bevölkerung innerhalb einer Familie mit Kindern, und 80 Prozent der Kinder wachsen mit Geschwistern auf. Die traditionelle Familie ist also auch noch heute als Lebensform beliebt. Die meisten Paare äußern den Wunsch nach einer kleinen klassischen Familie.

Postmoderne Familie

Die traditionelle Familie, welche auf Zuverlässigkeit angewiesen ist, steht einem Arbeitsleben, das durch Veränderungen und Kurzfristigkeit gekennzeichnet ist, gegenüber. Daher wird es oftmals als schwierig empfunden, eine traditionelle Familienstruktur aufrechtzuerhalten. Für viele hat dies zur Konsequenz, andere Familienformen zu wählen bzw. zu akzeptieren. Stieffamilien und Einelternfamilien immer populärer; was früher als Schande galt, ist heute weitgehend gesellschaftlich akzeptiert. Neben verschiedenen Nachteilen können solche Familienformen auch Vorteile bieten, etwa indem Kinder schneller lernen, Verantwortung zu übernehmen und selbstständig zu werden.[6]

Insgesamt ist ein Trend zur Auflösung der Gattenfamilie festzustellen. Neue Strukturen, die sich primär in Westeuropa entwickeln, werden gern unter dem Oberbegriff „postmoderne Familie“ zusammengefasst. Der Begriff der „Postmoderne“ im soziologischen Sinne meint das Vorliegen eines Pluralismus von Sprachen, Modellen und Verhaltensweisen.[7] Er soll so etwas wie „Nachmoderne“ (Beck) bedeuten, also die Zeit nach der Hochphase der Industrialisierung, sprich: etwa ab dem Zweiten Weltkrieg. Gesellschaftlich ist seitdem eine Reihe alternativer Entwicklungen neben dem – freilich weiterhin deutlich überwiegenden – Konzept der Kernfamilie festzustellen. Sie reichen von Wohngemeinschaften und Partnerschaften über Einelternfamilien bis hin zur Verbindung zweier Eltern mit jeweils eigenen Kindern zu einer Stieffamilie ohne rechtliche Bindung. Ein oft dafür verwendeter Ausdruck, Patchworkfamilie, beleuchtet die Sicht der in solch einem sukzessiven Verbund aufwachsenden Kinder. Unter Umständen hat so ein Kind sechs oder mehr Großelternpaare mit unterschiedlicher Intensität der emotionalen und instrumentellen Bindungen. Staatlicherseits wird die nicht-eheliche Verbindung formalisiert, sei es durch Anrechnung von Einkommen nichtehelicher Partner in der Armengesetzgebung (Deutschland: eheähnliche Lebensgemeinschaft, Bedarfsgemeinschaft), sei es durch Anerkennung der Verbindung homosexueller Paare (eingetragene Lebenspartnerschaft, gleichgeschlechtliche Ehe), oder – andererseits – durch gemeinsames Sorgerecht nichtverheirateter Eltern bei gemeinsamen Kindern. Doch auch in modernen rechtsgültigen Ehen werden Lebensbeziehungen alltäglich, die solchen Entwicklungen entsprechen.[8][7][9]

Weitere Typologien

Eine Typologie historischer und moderner Familiensysteme entwickelte Emmanuel Todd und verfeinerte sie im Laufe der Jahre.[10] Er geht von einer mentalitätsprägenden Wirkung von Familienstrukturen aus, die sich auch auf die Ökonomie auswirken, z. B. auf Unternehmensformen, Erbrecht, Eigentumsrecht und Mobilität. So entstehen mit den frühen Agrargesellschaften Familiensysteme (und Weltsichten), die hierarchisch und autoritär geprägt sind und dem ältesten Sohn einen überproportionalen Anteil ihres Eigentums vererben. Damit führen sie zur ungeteilten Ansammlung von Eigentum und Wissen. Typisch dafür ist die „Stammfamilie“ wie in Deutschland, Japan oder Korea mit hoher Bedeutung der Abstammungslinie, enger Bindung an den Boden und hohem Anteil an Familienunternehmen.[11] Wo hingegen Eigentum egalitär vererbt wird wie in Nordfrankreich oder ohne feste Regeln frei vererbt wird wie in den angelsächsischen Ländern, werden Menschen eher als gleich angesehen bzw. ihnen wird ihr Erbe z. B. nach ihren Verdiensten und nicht nach ihrer Position in der Erbfolge zugemessen. Hier hat nach Todd die Idee universeller Menschenrechte ihren Ursprung. Die „kommunitär“-exogame Familie der egalitären Brüdergemeinschaft mit autoritärem Patriarchen, die ihren Ursprung in den Nomadengesellschaften hat, aber heute in Russland, Teilen Chinas und auf dem Balkan überlebt, führe ebenso wie die endogam-kommunitäre Familie der altorientalischen Agrargesellschaften zu einer Abwertung der Rolle der Frauen. Die erstere neige wegen ihres Egalitarismus zur Zersplitterung ihres Eigentums oder zum dörflichen Gemeinschaftseigentum, die letztere zur Konzentration in einer Hand. Die vor allem in den USA verbreitete, extrem reduzierte und in ihrer Existenz zeitlich eng befristete Kernfamilie sei hingegen extrem mobil gegenüber den konservativ-statischen Strukturen der bäuerlichen Großfamilie; ihre Mitglieder tendieren zu liberalen Werten; es existieren jedoch nur wenige Familienunternehmen, die zwei Generationen überdauern. In diesen Kontexten wirken auch religiöse Traditionen nach der Säkularisierung als unbewusste Regelsysteme fort, indem sie z. B. Immer noch die Heiratsmuster beeinflussen. Todd spricht in diesem Zusammenhang von „Zombie-Religionen“, die sich der Vorstellung einer raschen Einebnung der Differenzen infolge der Globalisierung widersetzen: So prägte der Katholizismus die Vorstellungen vom Familienleben in großen Teilen Süd- und Zentraleuropas und der kulturelle Einfluss der Bibel die Vorstellung vom Erstgeburtsrecht.[12]

Siehe auch

Andrea Maihofer, Tomke Böhnisch, Anne Wolf: Wandel der Familie. Hans-Böckler-Stiftung, Oktober 2001, abgerufen am 1. November 2021.

Literatur

  • Andreas Gestrich, Jens-Uwe Krause, Michael Mitterauer: Geschichte der Familie (= Kröners Taschenausgabe. Bd. 376 = Europäische Kulturgeschichte. Bd. 1). Kröner, Stuttgart 2003, ISBN 3-520-37601-6.
  • Lars Hennings: Familien- und Gemeinschaftsformen am Übergang zur Moderne. Haus, Dorf, Stadt und Sozialstruktur zum Ende des 18. Jahrhunderts am Beispiel Schleswig-Holsteins (= Beiträge zur Sozialforschung. Bd. 7). Duncker & Humblot, Berlin 1995, ISBN 3-428-08332-6.
  • Peter Laslett: Verlorene Lebenswelten. Geschichte der vorindustriellen Gesellschaft (= Fischer-Taschenbücher 10561 Geschichte). Fischer-Taschenbuch-Verlag, Frankfurt am Main 1991, ISBN 3-596-10561-7.
  • Kurt Lüscher, Franz Schultheis, Michael Wehrspaun (Hrsg.): Die „postmoderne“ Familie. Familiale Strategien und Familienpolitik in einer Übergangszeit (= Konstanzer Beiträge zur sozialwissenschaftlichen Forschung. Bd. 3). Universitäts-Verlag Konstanz, Konstanz 1988, ISBN 3-87940-313-9.
  • Claudia Opitz: Neue Wege der Sozialgeschichte? Ein kritischer Blick auf Otto Brunners Konzept des „ganzen Hauses“. In: Geschichte und Gesellschaft. Bd. 20, Nr. 1, 1994, ISSN 0340-613X, S. 88–98.
  • Rüdiger Peuckert: Familienformen im sozialen Wandel. 5. überarbeitete Auflage. VS, Wiesbaden 2004, ISBN 3-531-53653-2.
  • Heidi Rosenbaum: Formen der Familie. Untersuchungen zum Zusammenhang von Familienverhältnissen, Sozialstruktur und sozialem Wandel in der deutschen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts (= Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 374). Suhrkamp, Frankfurt am Main 1982, ISBN 3-518-07974-3 (Zugleich: Göttingen, Universität, Habilitations-Schrift, 1981).
  • Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe d. reinen Soziologie. Diesem Neudruck liegt die 8. Auflage von 1935 zugrunde. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1979, ISBN 3-534-05180-7.
  • Ingeborg Weber-Kellermann: Die Familie. Insel-Verlag, Frankfurt am Main 1990.
  • Emmanuel Todd: Traurige Moderne. Eine Geschichte der Menschheit von der Steinzeit bis zum Homo americanus. C.H.Beck, München 2018, ISBN 978-3-406-72475-6.

Einzelnachweise

  1. https://link.springer.com/chapter/10.1007/978-3-663-19652-5_14
  2. Andrea Maihofer, Tomke Böhnisch, Anne Wolf: Wandel der Familie. In: Hans-Böckler-Stiftung (Hrsg.): Arbeitspapier. Band 48, S. 13 (boeckler.de [PDF]).
  3. Claudia Schlembach: Im Takt: Arbeit, Familie, Partnerschaft. In: Hans-Seidel-Stiftung (Hrsg.): Politische Studien. Band 19, Nr. 3, November 2012, ISSN 0032-3462, S. 95–101.
  4. Werner Troßbach: Das ganze Haus - Basiskategorie für das Verständnis der ländlichen Gesellschaft deutscher Territorien in er Frühen Neuzeit? In: Blätter für deutsche Landesgeschichte. 1993, abgerufen am 1. November 2021.
  5. Lars Hennings: Familien- und Gemeinschaftsformen am Übergang zur Moderne. Duncker & Humboldt, Berlin 1995, ISBN 3-428-08332-6, S. 7.
  6. Alleinerziehende Eltern: Vorteile und Nachteile. In: Gedankenwelt.de. 31. August 2020, abgerufen am 1. November 2021.
  7. a b Christine Goldberg: Familie in der Post-Moderne. 1998, abgerufen am 1. November 2011.
  8. Judith Luig: Das Ende der Kernfamilie. In: Zeit online. 5. März 2020, abgerufen am 1. November 2021.
  9. Maria Eleonora Karsten, Hans-Uwe Otto: Die „postomoderne Familie“ - nur ein Zitat der Idee der bürgerlichen Familie? In: Heinz-Herrmann Krüger (Hrsg.): Abschied von der Aufklärung? VS Verlag für Sozialwissenschaften, 1990, ISBN 978-3-8100-0798-8.
  10. Michael Hesse: Interview Emmanuel Todd: Im Hoheitsgebiet der Familie. Frankfurter Rundschau, 15. November 2018, abgerufen am 1. November 2021.
  11. Emmanuel Todd: Traurige Moderne. C.H.Beck, München 2018, ISBN 978-3-406-72475-6, S. 69.
  12. Emmanuel Todd: Traurige Moderne. C.H.Beck, München 2018, ISBN 978-3-406-72475-6, S. 71.