„Lorentzsche Äthertheorie“ – Versionsunterschied

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Zur Navigation springen Zur Suche springen
Inhalt gelöscht Inhalt hinzugefügt
Neuer Artikel
(kein Unterschied)

Version vom 10. Juli 2007, 19:40 Uhr

Die Lorentz-Äthertheorie war der Endpunkt in der Entwicklung des klassischen Äthers am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die Theorie wurde vor allem von Hendrik Antoon Lorentz und Henri Poincaré entwickelt und danach durch die mathematisch äquivalente Spezielle Relativitätstheorie von Albert Einstein und Hermann Minkowski abgelöst.

Grundkonzept

Diese auf den Äther beruhende Elektronentheorie, die hauptsächlich zwischen 1892 und 1904 entwickelt wurde, beruhte auf der Weiterentwicklung von Augustin Jean Fresnels Äthertheorie, den Maxwell-Gleichungen und der Elektronentheorie von Rudolf Clausius.[1] Lorentz führte eine strikte Trennung zwischen Materie (Elektronen) und Äther ein, wobei in seinem Modell der Äther völlig unbewegt ist und von bewegten Körpern auch nicht mitgeführt wird. Max Born identifizierte den Lorentz-Äther dann überhaupt mit dem absoluten Raum Isaac Newtons. Der Zustand dieses Äthers kann durch das elektrische Feld E und das magnetische Feld H beschrieben werden, wobei diese Felder als von den Ladungen der Elektronen verursachte Anregungszustände bzw. Vibrationen im Äthers interpretiert werden.[2] Im Gegensatz zu Clausius, der annahm dass die Elektronen durch Fernwirkung aufeinander wirken, tritt als Vermittler zwischen den Elektronen das EM-Feld des Äthers auf, in dem sich Wirkungen maximal mit Lichtgeschwindigkeit ausbreiten und durch die Gleichungen der Maxwell-Lorentzschen Elektrodynamik beschrieben werden können. Lorentz konnte aus seiner Theorie beispielsweise den Zeemann-Effekts theoretisch erklären, wofür er 1902 den Nobelpreis erhielt.

Die neue Mechanik

Längenkontraktion

Ein große Herausforderung für diese Theorie war das 1887 durchgeführte Michelson-Morley-Experiment. Nach den Theorien von Fresnel und Lorentz hätte mit diesem Experiment eine Relativbewegung zum Äther festgestellt werden müssen, die Ergebnisse waren jedoch negativ. Albert Abraham Michelson selbst vermutete, dass das Ergebnis für eine vollständige Mitführung des Äthers sprach,[3] jedoch andere Versuche als auch die Maxwell-Lorentzsche Elektrodynamik waren mit einer vollständigen Mitführung kaum vereinbar. Um die Theorie aufrecht erhalten zu können, schlugen 1889 George Francis FitzGerald und unabhängig von ihm Lorentz 1892 vor, dass relativ zum Äther bewegte Körper sich um folgenden Betrag verkürzen: (Wobei l0 die Länge eines im Äther ruhenden Körpers, v dessen Geschwindigkeit relativ zum Äther und c die Lichtgeschwindigkeit ist). Obwohl Lorentz diese später als Lorentzkontraktion bekannt gewordene Hypothese zu Beginn als seltsam bezeichnete, wies er auf die Übereinstimmung mit anderen elektrischen Vorgängen hin.[4]

Ortszeit

Lorentz formulierte 1895 für Größen erster Ordnung zu v/c das wichtige Theorem der "korrespondierenden Zustände", aus dem folgt, dass ein im Äther bewegter Beobachter die selben Beobachtungen in seinem "fiktiven" Feld macht wie ein im Äther ruhender Beobachter in seinem "realen" Feld.[5] Ein wichtiger Teil dieses theoretischen Gebäudes war die so genannte Ortszeit .[6] Aber während für Lorentz die Längenkontraktion ein realer, physikalischer Effekt war, bedeutete für ihn die Ortszeit vorerst keine reale Veränderung der Zeitkoordinaten, sondern stellte im Grunde bloß eine Vereinbarung bzw. nützliche Berechnungsmethode dar. Mit Hilfe der Ortszeit konnte Lorentz auch die Aberration des Lichts im Rahmen seiner Theorie erklären, was für die anderen Äthertheorien ein großes Problem war. Mit dem mathematischen Formalismus seiner korrespondierenden Zustände konnte Lorentz auch die von Armand Hippolyte Louis Fizeau durchgeführten Messungen der Lichtgeschwindigkeit in bewegten und ruhenden Flüssigkeiten erklären, welche für eine teilweise Mitführung des Äthers (im Sinne der Äthertheorie Fresnels) sprachen. Den mathematischen Formalismus Fresnels übernehmend, erklärte Lorentz das Ergebnis damit, dass die von den Elektronen verursachten Wellenbewegungen (und nicht der Äther selbst) von den bewegten Elektronen teilweise mitgeführt werden.[7]

Deutlich weiter ging Poincaré, der 1900 die Lorentzsche Ortszeit nicht nur als mathematischen Kunstgriff, sondern als Ergebnis einer mit Lichtsignalen durchgeführten Synchronisation interpretierte. Er nahm an, dass 2 Beobachter A und B ihre Uhren mit optischen Signalen synchronisieren. Da sie glauben, sich in Ruhe zu befinden, müssen sie jetzt nur noch die Lichtlaufzeiten berücksichtigen und ihre Signale kreuzen um zu überprüfen, ob ihre Uhren synchron sind. Hingegen aus Sicht eines dazu bewegten Beobachter läuft eine Uhr dem Signal entgegen, und die andere läuft ihm davon. Die Uhren sind also nicht synchron und zeigen die Ortszeit an. Da die Beobachter aber kein Mittel haben zu entscheiden, ob sie in Bewegung sind oder nicht, werden sie von dem Fehler nichts bemerken.[8] 1904 illustrierte er die selbe Methode auf folgende Weise: A sendet zum Zeitpunkt 0 ein Signal nach B, welche bei der Ankunft t anzeigt. Und B sendet zum Zeitpunkt 0 ein Signal nach A, welche bei der Ankunft t anzeigt. Wenn in beiden Fällen t den selben Wert ergibt sind die Uhren synchron, allerdings nur in dem System, in dem die Uhren ruhen. [9]. Noch vor dieser Arbeit schrieb er 1898 in einem philosophischen Aufsatz:[10]

Wir haben keine unmittelbare Anschauung für die Gleichzeitigkeit, ebenso wenig wie für die Gleichheit zweier Zeiträume. Wenn wir diese Anschauung zu haben glauben, so ist das eine Täuschung. Wir halfen uns an bestimmte Regeln, die wir meist anwenden, ohne uns Rechenschaft darüber zu geben....Wir wählen also diese Regeln, nicht, weil sie wahr sind, sondern weil sie die bequemsten sind, und wir können sie zusammenfassen und sagen: Die Gleichzeitigkeit zweier Ereignisse oder ihre Aufeinanderfolge und die Gleichheit zweier Zeiträume müssen derart definiert werden, dass der Wortlaut der Naturgesetze so einfach wie möglich wird.

Lorentz-Transformation

Bereits 1899 veröffentliche Lorentz ein Gleichungssystem, das praktisch identisch war zu dem, die später als Lorentz-Transformation bezeichnet wurden. [11] Allerdings waren ihm bei der Aufstellung ähnlicher Gleichungen Woldemar Voigt 1887[12] und Joseph Larmor 1897[13] zuvorgekommen. Poincaré kritisierte 1900, dass es besser wäre, nicht jedes Mal neue Hypothesen aufzustellen, wenn die Experimente es erfordern, sondern eine grundlegende Theorie zu erstellen, die alle diese Hypothesen (Längenkontraktion, Ortszeit) einschließen und auf fundamentalere Zusammenhänge zurückführen.[14] 1904 schrieb Lorentz mit Hinweis auf Poincaré:

Sicherlich haftet diesem Aufstellen von besonderen Hypothesen für jedes neue Versuchsergebnis etwas Künstliches an. Befriedigender wäre es, könnte man mit Hilfe gewisser grundlegender Annahmen zeigen, daß viele elektromagnetische Vorgänge streng, d. h. ohne irgendwelche Vernachlässigung von Gliedern höherer Ordnung, unabhängig von der Bewegung des Systems sind.

Dieser Schritt war aufgrund der erfolglosen Ätherdriftexperimente wie dem 1903 durchgeführten Trouton-Noble-Experiment notwendig geworden. In seiner Arbeit von 1904 entwickelte er diese Theorie mathematisch entscheidend weiter, jedoch gelang es ihm nicht vollständig zu zeigen, dass die Gesetze der Elektrodynamik form-invariant unter Lorentz-Transformationen waren.[15] In einer am 5. Juni 1905 veröffentlichten Arbeit verwendete Poincaré erstmals den Namen Lorentz-Transformation, vereinfachte überdies die Schreibweise der Gleichungen und veröffentlichte sie in dieser Form, welche mit der später von Einstein veröffentlichten äquivalent war. Darüber hinaus korrigierte er den Makel in Lorentz' Anwendung der Gleichungen, und zeigte die Gruppeneigenschaft dieser Transformation auf:[16]

wo

In einer deutlich erweiterten Fassung seiner Arbeit, welche von Poincaré auf den Juli 1905 datiert, aber erst am 2. März 1906 veröffentlicht wurde, sprach er wörtlich von dem "Postulat der Relativität"; er zeigte dass die Transformationen eine Konsequenz des Prinzip der kleinsten Wirkung sind; er demonstrierte ausführlicher als vorher deren Gruppeneigenschaft; und zeigte als erster, dass die Kombination invariant ist und bezog zum Teil bereits Vierervektoren in seine Überlegungen ein.[17]

Das Relativitätsprinzip

Bereits in seiner philosophischen Schrift über die Zeitmessungen (1898) schrieb Poincaré, dass Astronomen wie Ole Rømer bei der Interpretation der Messung der Lichtgeschwindigkeit an Hand der Monde des Jupiter, vom Postulat ausgehen müssen, dass das Licht konstant und in alle Richtungen gleich schnell ist, da ansonsten andere Gesetze wie das Gravitationsgesetz sehr viel komplizierter ausfallen müssen. Ebenso muss die Ausbreitungsgeschwindigkeit bei der Bestimmung der Gleichzeitigkeit von Ereignissen berücksichtigt werden.[18]

Obwohl die meisten Physiker glaubten, dass das Relativitätsprinzip mit der Lorentzschen Äthertheorie unvereinbar sei, stellte Poincaré 1900 fest, dass er nicht daran glaube, dass jemals die Geschwindigkeit der Erde bezüglich des Äthers gemessen wird. In Wirklichkeit werden auch in Zukunft nur die relativen Geschwindigkeiten der Körper zueinander gemessen werden können.[19] Und 1904 definierte er das Relativitätsprinzip so:

Das Prinzip der Relativität, nach dem die Gesetze der physikalischen Vorgange für einen feststehenden Beobachter die gleichen sein sollen, wie für einen in gleichförmiger Translation fortbewegten, so dass wir gar keine Mittel haben oder haben können, zu unterscheiden, ob wir in einer derartigen Bewegung begriffen sind oder nicht.[20]

Dabei würdigte er den Scharfsinn der Mathematiker, die das Relativitätsprinzip und die auf den Äther basierende Elektrodynamik mit Hilfe von Hypothesen wie der Ortszeit unter einen Hut gebracht haben, bemängelte aber, dass dieses Unterfangen nur durch eine Anhäufung von Hypothese möglich war.[21]

In der Arbeit von 1905 resümierte er, dass es auf Basis der Lorentztransformationen unmöglich sei, jemals eine Bewegung gegenüber dem Äther festzustellen und in der 1906 veröffentlichten Arbeit sprach er vom Postulat der Relativität, welches ohne Einschränkung gültig ist. Auch in späteren Arbeiten von 1908, 1909 und 1912 bekräftigte er den Zusammenhang der Lorentzschen Theorie mit dem Relativitätsprinzip.

Masse und Geschwindigkeit

1899[22] und 1904[23] wurde von Lorentz im Zusammenhang mit der Längenkontraktion der Elektronen erkannt, dass auch deren Masse abhängig von der Geschwindigkeit relativ zum Äther sei und errechnete, dass die Masse m bei größerer Geschwindigkeit um wächst und bei Lichtgeschwindigkeit unendlich groß wird. Diese Ergebnisse wurden u. a. durch die Experimente von Walter Kaufmann (1902) gestützt. Lorentz unterschied dabei wie auch Max Abraham 1903 und Albert Einstein 1905[24] zwischen longitudinaler und transversaler Masse. (Wobei dieser Formalismus in der Frühzeit der Speziellen Relativitätstheorie als Konzept der relativistischen Masse übernommen wurde.)

Kein Körper kann daher nach dieser Theorie die Lichtgeschwindigkeit erreichen. Dies wurde im Zusammenhang mit der Annahme diskutiert, dass die bekannte Materie ausschließlich elektrischen Ursprungs sei und Lorentz (wie vor ihm auch Wilhelm Wien oder Max Abraham) kam zu dem Schluss, dass die Masse eine Körpers überhaupt identisch sei mit der elektromagnetischen Masse.[25] Poincaré schrieb dazu 1902:

Diese negativen Elektronen haben eigentlich keine eigene Masse; wenn sie trotzdem mit Trägheit ausgestattet zu sein scheinen, so liegt das daran, dass sie ihre Geschwindigkeit nicht ohne gleichzeitige Störung des Lichtäthers ändern können. Ihre scheinbare Trägheit ist nur eine Anleihe, sie kommt nicht ihnen selbst, sondern dem Äther zu.

Da nun der Begriff Materie mit dem Begriff Masse untrennbar verbunden ist, folgert Poincaré weiter, dass die Materie eigentlich gar nicht existiere, sondern nur die Felder bzw. Vibrationen des Äthers, und die Elektronen seien sozusagen nur noch Höhlungen im Äther.[26] Im Jahre 1908 illustrierte Poincaré diese Art der Trägheit mit Hilfe einer jeglicher Viskosität entbehrenden Flüssigkeit, in dem sich ein Körper bewegt. Der Körper wird bei Richtungsänderungen in dieser Flüssigkeit einen Widerstand erleiden, danach jedoch bewegt er sich geradlinig gleichförmig, denn der Widerstand wird (bildhaft betrachtet) durch eine Art mitgeführtes Kielwasser (in dem Fall die mitgeführten EM-Felder) kompensiert. Bei jeder Beschleunigung muss zusätzlich auch die mitgeführte Energie erhalten werden. Poincaré schreibt daher:[27]

Diese Energie wirkt daher so, als ob sie die Trägheit des Elektrons vermehrte, wie bei einer idealen Flüssigkeit die Energie eines eingetauchten Körpers durch die mit ihm fortschreitende Bewegung der Flüssigkeit vermehrt wird.

Lorentz selbst musste aber später einsehen, dass wenn die träge Masse geschwindigkeitsabhängig war, konnte dieselbe Masse nicht elektromagnetischen Ursprungs sein, deswegen gab er die Annahme einer rein elektrischen Natur der Materie auf.

Trägheit der Energie

1900 stellte Poincaré fest, dass die Lorentzsche Theorie im Widerspruch zum Reaktionsprinzip stand, denn er glaubte, nur wenn Elektronen direkt aufeinander wirken, wäre sichergestellt, dass die Aktion durch eine gleiche Gegenreaktion ausgeglichen wird. Der Grund dafür ist, dass die Elektronen aufgrund der Lichtgeschwindigkeit nur zeitverzögert aufeinander wirken können, und unter diesen Voraussetzungen ist es nicht sicher, ob sie überhaupt miteinander in Kontakt treten.

Nun haben bereits James Clerk Maxwell 1874[28] und Adolfo Bartoli 1883[29] unabhängig voneinander festgestellt, dass EM-Strahlung analog zum mechanischen Stoß einen Strahlungsdruck (früher auch Maxwell-Bartolischer Druck genannt) bewirken kann. Den selben Zusammenhang ermittelte Poincaré auf Basis der Lorentzschen Theorie, und erkannte, dass bei der Emission von EM-Strahlung der Emitter einen Rückstoß erfahren muss. Er führte weiter aus, dass das Reaktionsprinzip nur unter der Bedingung aufrecht erhalten werden kann, wenn die emittierte EM-Strahlung einem mit Trägheit ausgestatten "fiktiven Fluid" vergleichbar ist, und gab die Masse dieses fiktiven Fluids mit m=E/c² (also E=mc²) an. Wie Poincaré jedoch 1904 bekräftigte, lehnte er selbst diese Lösung ab, da Energie alleine keine Masse besitzen dürfe, sondern man könne nur im Zusammenhang von Energie und materiellen Körpern von Masse sprechen. Daraus schließt er, dass das Reaktionsprinzip nicht mit der Lorentzschen Theorie vereinbar ist. Mit Blick auf den Rückstoß, den ein Emitter erfährt, schrieb er 1904:[30]

Was geschieht nun nach der Theorie? Der Apparat wird zurückweichen, als ob er eine Kanone, und die Energie, die er ausgestrahlt hat, eine Kugel wäre, und dies widerspricht dem Newtonschen Prinzip weil unser Geschoß hier keine Masse hat, es ist keine Materie, es ist Energie.

Selbst 1908, wo er schrieb dass zugeführte Energie des EM-Feldes die Masse eines Körpers vergrößern kann (siehe oben), lehnte er die Vorstellung, dass Energie alleine Masse besitze strikt ab und führt die selben Argumente wie 1904 an um zu zeigen, dass das Reaktionsprinzip nicht mit der neuen Mechanik verträglich ist.

Das Problem selbst wurde nach Darragol[31] erst von Einstein 1905 gelöst, als dieser aus dem Relativitätsprinzip ableitete, dass die emittierte Strahlungsenergie tatsächlich einer Masse von E/c² äquivalent ist. Dies ist jedoch kein Widerspruch, wenn angenommen wird, dass die Masse des Emitters selbst um E/c² verringert wird, wodurch sich die Äquivalenz von Masse und Energie ergibt. 1906 untersuchte Einstein ein sehr ähnliches Problem wie Poincaré, nämlich ob das Gesetz von der Erhaltung und Bewegung des Schwerpunkts auch bei elektrodynamischer Betrachtung gültig sei. Dabei verwies er auf die Arbeit von Poincaré und bewertete dessen (mit Einsteins Text übereinstimmenden) Inhalt positiver als Poincaré es selbst getan hat. Er zeigte, dass obiges Theorem nur bei Annahme der Masse-Energie-Äquivalenz gültig ist, wobei die Trägheit der Energie genau m=E/c² entspricht. Einstein schrieb in der Einleitung:[32]

Trotz der einfachen formalen Betrachtungen, die zum Nachweis dieser Behauptung durchgeführt werden müssen, in der Hauptsache bereits in einer Arbeit von H. Poincaré enthalten sind (H. Poincaré, Lorentz-Festschrift p. 252, 1900), werde ich mich doch der Übersichtlichkeit halber nicht auf jene Arbeit stützen.

Auch Wilhelm Wien bewertete 1921 in seiner Denkschrift diese Arbeit höher ein, als es Poincaré selbst getan hat:[33]

Von sehr grosser Bedeutung für die theoretische Physik ist eine Arbeit, die er im Jahre 1900 in dem Jubiläumsbande für Lorentz veröffentlicht hat. Er hat dort die elektromagnetische Bewegungsgrösse eingeführt, durch welche der Widerspruch gegen das Prinzip von Aktion und Reaktion aufgehoben wird, eine Theorie, die für die weitere Entwickelung der Elektrodynamik sehr wichtig geworden ist.

Gravitation

Um das Relativitätsprinzip aufrechterhalten zu können, stellte Poincaré 1904 fest, dass sichergestellt sein muss, dass kein Signal schneller als die Lichtgeschwindigkeit sein darf, ansonsten würde obige Synchronisationsvorschrift und somit die Ortszeit nicht mehr gelten. Das führt jedoch zum Konflikt mit dem Gravitationsgesetz Isaac Newtons, in der wie Pierre-Simon Laplace anhand der Aberration der Gravitation gezeigt hat, die Ausbreitungsgeschwindigkeit ein Vielfaches der Lichtgeschwindigkeit betragen muss. Dies wurde von ihm zu diesem Zeitpunkt noch als möglicher Einwand aufgefasst.[34] Er errechnete jedoch im Jahre 1905, dass Veränderungen im Gravitationsfeld sich auch mit Lichtgeschwindigkeit ausbreiten können und trotzdem ein gültiges Gravitationsgesetz möglich ist, vorausgesetzt einer solchen Theorie wird die Lorentztransformationen zugrunde gelegt.[35]

Poincaré untersuchte 1908 eine von Lorentz bereits im Jahre 1900 aufgestellte Gravitationstheorie und klassifizierte sie als mit dem Relativitätsprinzip vereinbar.[36] Lorentz versuchte in dieser Theorie, die Gravitation als eine Art elektrische Differenzkraft zur erklären. Dabei ging er (wie vor ihm Mossotti und Zöllner) von der Vorstellung aus, dass die Anziehung zweier ungleichnamiger elektrischer Ladungen um einen Bruchteil stärker sei als die Abstoßung zweier gleichnamiger Ladungen - das Ergebnis wäre nichts anderes als die universelle Gravitation. Lorentz konnte zeigen, dass diese Theorie, obwohl sie auf einer Ausbreitungsgeschwindigkeit von c beruhte, von der Laplace'schen Kritik nicht betroffen ist und nur Einflüsse in der Größenordnung v²/c² auftreten, jedoch erhielt er für die Periheldrehung einen viel zu geringen Wert, was auch von Poincaré beanstandet wurde.[37]

Jedoch wie Einstein später mit der Allgemeinen Relativitätstheorie zeigte, führt eine Einbeziehung der Gravitation in das Relativitätsprinzips zu Abweichungen gegenüber den Lorentz-Transformationen und das Lichtpostulat ist nicht mehr vollständig gültig.

Lorentz-Äther und SRT

Während einige mit der Elektronentheorie von Lorentz zusammenhängenden Erklärungen (z.b. dass die Materie ausschließlich aus Elektronen besteht, oder dass es in der Natur ausschließlich elektrische Wechselwirkungen gibt, oder die angeführten Gravitationserklärungen) eindeutig widerlegt sind, sind viele Aussagen und Ergebnisse der Theorie äquivalent mit Aussagen der Speziellen Relativitätstheorie.

Einschätzungen zu Äther und SRT

Poincare

Poincaré selbst sah keinen Grund, Einstein in seinen diversen Abhandlungen zur neuen Mechanik überhaupt zu erwähnen. So schreibt er noch 1912 kurz vor seinem Tod zu der Frage, ob die Lorentzschen Mechanik auch nach der Entwicklung der Quantentheorie Bestand haben wird:[38]

In allen den Punkten, in denen die Lorentzsche Mechanik von der Newtonsehen abweicht, bleibt sie zu Recht bestehen. Man glaubt nach wie vor, daß ein beweglicher Körper unter keinen Umständen jemals eine größere Geschwindigkeit als die des Lichtes annehmen kann, daß die Masse eines Körpers keine unveränderliche Größe ist, sondern von seiner Geschwindigkeit abhängt und von dem Winkel, den diese Geschwindigkeit mit der auf den Körper wirkenden Kraft einschließt, ferner, daß kein Versuch jemals wird entscheiden können, ob ein Körper, absolut genommen, sich im Zustande der Ruhe oder in dem der Bewegung befinde, sei es nun in Bezug auf den Raum als solchen, sei es selbst in Bezug auf den Äther.

Lorentz

Lorentz beschrieb 1913 den Zusammenhang zwischen der Lorentz-Äthertheorie und der SRT so:[39]

Gesetzt, es gäbe einen Äther; dann wäre unter allen Systemen x, y, z, t eines dadurch ausgezeichnet, daß die Koordinatenachsen sowie die Uhr im Äther ruhen. Verbindet man hiermit die Vorstellung (die ich nur ungern aufgeben würde), daß Raum und Zeit etwas völlig Verschiedenes seien und daß es eine "wahre Zeit" gebe (die Gleichzeitigkeit würde dann unabhängig vom Orte bestehen, entsprechend dem Umstande, daß uns die Vorstellung unendlich großer Geschwindigkeiten möglich ist), so sieht man leicht, daß diese wahre Zeit eben von Uhren, die im Äther ruhen, angezeigt werden müßte. Wenn nun das Relativitätsprinzip in der Natur allgemeine Gültigkeit hätte, so würde man allerdings nicht in der Lage sein, festzustellen, ob das gerade benutzte Bezugssystem jenes ausgezeichnete ist. Man kommt also dann zu denselben Resultaten, wie wenn man im Anschluß an Einstein und Minkowski die Existenz des Äthers und der wahren Zeit leugnet und alle Bezugssysteme als gleichwertig ansieht. Welcher der beiden Denkweisen man sich anschließen mag, bleibt wohl dem einzelnen überlassen.

Einstein

Albert Einstein (dessen Hauptarbeit zur SRT genau zwischen Poincarés beiden Arbeiten von 1905 und 1906 erschien und der mit Ausnahme von Poincarés Arbeit über das Reaktionsprinzip diesen genauso wenig erwähnte, wie auch umgekehrt Poincaré Einstein nicht erwähnte) und Hermann Minkowski schafften den Äther ab und leiteten den selben mathematischen Formalismus aus wenigen Postulaten ab. Der Grund, warum diese Theorie gegenüber dem Lorentz-Äther bevorzugt wurde beschrieb Einstein 1916, wobei dessen Einschätzung von der überwiegenden Mehrheit der Fachwelt geteilt wird:

Die klassische Mechanik, von der doch nicht bezweifelt werden konnte, daß sie mit großer Näherung gilt, lehrt die Gleichwertigkeit aller Inertialsysteme (bzw. Intertialräume) für die Formulierung der Naturgesetze (Invarianz der Naturgesetze in bezug auf den Übergang von einem Inertialsystem auf ein anderes). Die elektromagnetischen und optischen Experimente lehrten dasselbe mit erheblicher Genauigkeit. Aber das Fundament der elektromagnetischen Theorie lehrte die Bevorzugung eines besonderen Inertialsystems, nämlich das des ruhenden Lichtäthers. Diese Auffassung des theoretischen Fundamentes war gar zu unbefriedigend. Gab es keine Modifikation des letzteren, welche - wie die klassische Mechanik - der Gleichwertigkeit der Inertialsysteme (spezielles Relativitätsprinzip) gerecht wird? Die Antwort auf diese Frage ist die spezielle Relativitätstheorie.[40]

Priorität

In einer 1914 geschriebenen, aber erst 1921 veröffentlichten Arbeit würdigte Lorentz vor allem Poincaré für seine Arbeiten von 1905/1906. Er schrieb, dass er selbst nicht die korrekte Anwendung der Transformation gegeben habe und dass das zuerst von Poincaré und später von Einstein und Minkowski getan worden war. Auch verwies er auf Poincaré als den ersten, der den physikalischen Gehalt der Ortszeit erkannte hat, während er sie selbst als mathematischen Trick angesehen habe. Auch habe nicht er selbst, sondern zuerst Poincaré die grundlegende Bedeutung des Relativitätsprinzips für die Elektrodynamik erkannt. Und er wies auf die bereits im Abschnitt „Lorentz-Transformation“ von Poincaré gemachten grundlegenden Erkenntnisse hin.[41]

Hingegen 1916 in seinem Hauptwerk The theory of electrons schrieb Lorentz einen sehr ähnlichen Text, jedoch erwähnte er hier im selben Zusammenhang nur noch Einstein und Minkowski.[42] Ähnlich drückte er sich noch 1927 aus, als er auf seine eigenen Vorstellungen vor 1905 verweisend schrieb:

I considered my time transformation only as a heuristic working hypothesis. So the theory of relativity is really solely Einstein's work. And there can be no doubt that he would have conceived it even if the work of all his predecessors in the theory of this field had not been done at all. His work is in this respect independent of the previous theories.

„Auf Deutsch ungefähr: Ich betrachtete meine Zeittransformation nur als heuristische Arbeitshypothese. Die Relativitätstheorie ist also wirklich allein Einsteins Werk. Und es kann keinen Zweifel geben, dass er sie entdeckt hätte, selbst wenn die Arbeit seiner Vorgänger auf diesem Gebiet überhaupt nicht gemacht worden wäre. Seine Werk ist in diesem Zusammenhang unabhängig von allen früheren Theorien.[43]

Edmund Taylor Whittaker sprach 1953 in 2. Auflage seiner bekannten History of the theories of aether and electricity von der Relativitätstheorie als der Schöpfung von Lorentz und Poincaré und maß Einsteins Beiträgen nur sekundäre Bedeutung bei.[44] Whittaker steht mit dieser Meinung jedoch isoliert da. Zuerst Poincaré und dann auch Lorentz lehrten zwar die vollständige mathematische Gleichberechtigung der Bezugssysteme, und erkannten auch an, dass tatsächlich unterschiedliche Raum- und Zeitkoordinaten gemessen werden. Sie blieben aber bis an ihr Lebensende bei der Meinung, dass es einen Äther als Trägermedium für das EM-Feld gibt und erwähnten den Äther bis zuletzt auch immer in ihren Schriften. Hingegen Einstein lehrte die vollständige Relativierung von Raum und Zeit an sich und verbannte den Äther aus der SRT. (Wenn er ihn auch in stark modifizierter Form als "Gravitationsäther" der ART zumindest namentlich wieder einzuführen versuchte).[45]

Neuere Entwicklungen

Obwohl die Idee eines bevorzugten Bezugssystems von der Fachwelt größtenteils abgelehnt wird, wurden auch nach Lorentz und Poincaré einige lorentzianische Modelle entwickelt. Quasi-relativistische Effekte wie Längenkontraktion wurden bei plastischen Deformationen und Versetzungen in Kristallstrukturen oder auch bei Pendelketten im Zusammenhang mit Solitonen festgestellt. Dies deshalb, weil die diesen Phänomenen zugrunde liegende Sine-Gordon-Gleichung lorentzinvariant ist.[46] Darauf aufbauend hat Helmut Günter 1996 ein lorentzianisches Modell eines universellen Äthers entwickelt.[47] Andere Modelle werden in Brandes et al. diskutiert.[48]

Arbeiten von Lorentz und Poincaré

  • Poincaré, H.: La mesure du temps. In: Revue de métaphysique et de morale. Band 6, 1898, S. 1–13.
  • Poincaré, H.: Sur la dynamique de l'électron. In: Comptes rendus de l'Académie des sciences. Band 140, 1905, S. 1504–1508. Nachdruck in Poincaré, Oeuvres, tome IX, S. 489-493.
  • Poincaré, H.: La dynamique de l'électron. In: Revue générale des sciences pures et appliquées. Band 19, 1908, S. 386–402. Nachdruck in Poincaré, Oeuvres, tome IX, S. 551-586.
  • Poincaré, H.: Wissenschaft und Methode. Xenomos, Berlin [1908b] 2003, ISBN 3-936532-31-1. Enthält die teilweise deutsche Übersetzung von La dynamique de l'électron (1908).

Quellen

  1. Whittaker, E.T.: History of the theories of aether and electricity. Longman, Green and Co., Dublin 1910, S. 411–466.
  2. Born, M.: Die Relativitätstheorie Einsteins. Springer, Berlin-Heidelberg-New York 1964/2003, ISBN 3-540-00470-X, S. 172–194.
  3. Whittaker (1910), p. 417
  4. Lorentz (1913), pp. 1-5
  5. Lorentz (1895), pp. 86-88
  6. Lorentz, 1895, p. 82
  7. Poincaré (1908b), pp. 166-167
  8. Poincaré, 1900, p. 483
  9. Poincaré (1904), p. 104-105; Poincaré (1908b), pp. 167-168
  10. Poincaré (1898); Poincaré (1904), pp. 19-32
  11. Lorentz (1899), p. 429
  12. Voigt, W.: Über das Doppler’sche Princip. In: Nachr. Ges. Wiss. Goettingen. Nr. 2, 1887, S. 41–51.
  13. Larmor, J.: On a Dynamical Theory of the Electric and Luminiferous Medium. In: Phil. Trans. Roy. Soc. Band 190, 1897, S. 205–300.
  14. Poincaré (1902), pp. 136-138
  15. Lorentz (1904), p. 812
  16. Poincaré (1905), p. 490
  17. Poincaré (1906)
  18. Poincaré (1898), pp. 11-12
  19. Poincaré (1900), pp. 136-138
  20. Poincaré (1904), p. 99
  21. Poincaré (1904), pp. 104-106
  22. Lorentz (1899), pp. 438-442
  23. Lorentz (1904), pp. 819-821
  24. Einstein, A.: Über eine Methode zur Bestimmung des Verhältnisses der transversalen und longitudinalen Masse des Elektrons. In: Annalen der Physik. Band 21, 1906, S. 583–586.
  25. Lorentz (1904), pp. 819-821
  26. Poincaré (1902), pp. 190-194
  27. Poincaré (1908b), pp. 177-178
  28. Maxwell, J.C: A Treatise on electricity and magnetism, § 792. Macmillan & Co., London 1873, S. 391.
  29. Bartoli, A.: In: Nuovo Cimento. Band 15, 1883, S. 195.
  30. Poincaré (1904), pp. 106-108
  31. Darragol (2005), pp. 18-21
  32. Einstein, A.: Das Prinzip von der Erhaltung der Schwerpunktsbewegung und die Trägheit der Energie. In: Annalen der Physik. Band 20, 1906, S. 627–633.
  33. *Wien, W.: Die Bedeutung Henri Poincaré's für die Physik. In: Acta Mathematica. Band 38, 1921, S. 289–291. Nachdruck in Poincaré, Oeuvres, tome XI, S. 243-246.
  34. Poincaré (1904), p. 106
  35. Poincaré (1905), pp. 491-492; Poincaré (1906), pp. 538-550
  36. Poincaré, 1908b, pp. 181-184
  37. Lorentz (1900), pp. 559-565
  38. Poincaré (1913), p. 93
  39. Lorentz (1913), p. 75.
  40. Einstein, A.: Über die spezielle und allgemeine Relativitätstheorie. Springer, Berlin [1916] 2001, ISBN 3-540-42452-0, S. 101. Englische Übersetzung in Relativity: The Special and General Theory
  41. Lorentz (1914)
  42. Lorentz, 1916, pp. 321-325
  43. Lorentz (1928), p. 10
  44. Whittaker, E.T.: The Relativity Theory of Poincaré and Lorentz. In: History of the theories of aether and electricity, Vol. II. Nelson, London 1953, S. 27–77.
  45. Einstein, A.: Äther und Relativitätstheorie. Springer, Berlin 1920.
  46. Dietrich, M. u. H.-J. Patt: Wellenmaschine zur Demonstration und Messung harmonischer und anharmonischer Wellenphänomene (Solitonen). In: Didaktik der Physik, Frühjahrstagung Bremen 2001 (Red.: V. Nordmeier, Münster). DPG-Electr.-Media-CD, 2001, ISBN 3-931253-87-2.
  47. Günther, H.: Grenzgeschwindigkeiten und ihre Paradoxa. B.G. Teubner, Stuttgart - Leipzig 1996, ISBN 3-8154-3029-1.
  48. Brandes et al.: Die Einsteinsche und lorentzianische Interpretation der speziellen und allgemeinen Relativitätstheorie. VRI, 1997, ISBN 3-930879-05-0.