Christlicher Anarchismus

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Als christlicher Anarchismus werden verschiedene Versuche bezeichnet, den christlichen Glauben mit anarchistischen Denk- und Handlungsweisen zu verbinden. Die Bibel sowie das Leben und Wirken Jesu dienen als Grundlage für einen Entwurf einer herrschaftslosen und egalitären Gesellschaftsordnung, die mit jenem des Anarchismus identisch ist bzw. sehr große Ähnlichkeit hat. Christliche Anarchisten gehen davon aus, dass „die Prämisse des Anarchismus dem Christentum und der Botschaft des Evangeliums inhärent“ [1] sei. Je nach konfessionellem Ausgangspunkt und Interpretation diverser Bibelstellen kann sich die konkrete Ausgestaltung voneinander unterscheiden.

Definition und zentrale Aspekte

Eine bekannte Definition des christlichen Anarchismus stammt aus der Autobiografie des US-amerikanischen Aktivisten und christlichen Anarchisten Ammon Hennacy:

Ein christlicher Anarchist ist […] jemand, der die andere Wange hin halt, die Tische der Geldwechsler umwirft und keinen Polizisten braucht, um sich gut zu benehmen. Ein christlicher Anarchist ist nicht von Wahlurnen oder Gewehrkugeln abhängig, um sein Ideal zu erreichen; er erreicht dieses Ideal tagtäglich durch die One Man Revolution, mit der er einer dekadenten, verwirrten und sterbenden Welt begegnet.[2]

Sebastian Kalicha beschreibt den christlichen Anarchismus folgendermaßen:

Das Christentum wird in einer Art und Weise begriffen, das letztendlich in politischen und sozialen Fragen auf etwas hinauslauft, das politisch Aktive in der ArbeiterInnenbewegung des späten 19. Jahrhunderts begannen, als „Anarchismus“ oder „libertärer Sozialismus“ zu bezeichnen – und zwar nicht trotz, sondern aufgrund dessen, was in der Bibel geschrieben steht. Es ist ein Anarchismus, der sich aus der Bibel und dem Leben und Wirken Jesu herleitet. Die Bibel und die Botschaft Jesu dienen so als Grundlage dafür, zu ähnlichen oder denselben Schlüssen zu gelangen wie sie von anarchistischen TheoretikerInnen formuliert wurden: den Staat mit all seinen Institutionen und RepräsentantInnen als illegitim anzusehen, den Kapitalismus als Wirtschaftssystem abzulehnen und eine egalitäre, dezentrale und gewaltfreie Gesellschaftsordnung, frei von Unterdrückung und Ausbeutung, an deren Stelle zu verwirklichen.[3]

Bestimmend ist eine libertäre Lesart und Interpretation der Bibel – also eine anarchistische Exegese. Oft wird hier ausführlich auf die Bergpredigt Bezug genommen, wobei dieser Fokus auf die Bergpredigt vor allem für den christlichen Anarchismus Tolstoischer Prägung charakteristisch ist. Manche christliche Anarchisten beziehen sich nicht nur auf die Bibel um ihre anarchistischen Schlussfolgerungen zu ziehen, sondern haben auch Referenzpunkte im „klassischen“ Anarchismus, revolutionären Sozialismus oder (Anarcho)Syndikalismus und vermengen diese mit ihrem christlichen Glauben. Der französische Soziologe und christliche Anarchist Jacques Ellul beispielsweise verortete seinen Anarchismus „nahe bei Bakunin[4] und hatte u.a. große Sympathien für den spanischen Anarchosyndikalismus. Ein weiteres Beispiel ist die Gründerin der Catholic-Worker-Bewegung Dorothy Day, die stark von den Schriften des Anarchokommunisten Peter Kropotkin und der unionistischen Gewerkschaft Industrial Workers of the World (IWW) beeinflusst war. Sie pflegte auch zeit ihres Lebens freundschaftliche Kontakte zu Kommunisten wie Mike Gold und der IWW-Aktivistin und Feministin Elizabeth Gurley Flynn.

Im christlichen Anarchismus ist die Überzeugung zentral, dass Gott – verkörpert durch die Lehren Jesu – die einzige Autorität sei, die für die Gläubigen verantwortlich ist, und die Person daher allein ihrem Gewissen verpflichtet ist. Daher übte auch der Individualanarchismus von Henry David Thoreau eine große Anziehungskraft auf christliche Anarchisten aus.

Die meisten christlichen Anarchisten sind der Auffassung, dass Regierungen und Kirchen keine Macht über sie oder andere Menschen haben sollten. Viele meinen, dass nur Anarchismus in Form der Verweigerung gegenüber jeder institutionellen Interpretation von Glaubensregeln mit Jesu Verkündigung vereinbar sei. Sie gehen davon aus, direkt mit Gott in Kontakt treten zu können und dafür kein Priestertum zu benötigen. Vielfach äußert sich die anarchistische Kritik daher auch in einem latenten oder offenen Antiklerikalismus. Der christliche Anarchismus beruft sich auf das Urchristentum mit der Gütergemeinschaft der Jerusalemer Urgemeinde und seiner Forderung nach einfachem Leben.

Der größte Teil der christlichen Anarchisten ist strikt pazifistisch bzw. gewaltfrei - zum Beispiel Tolstoi, Ellul, Ortt, Day, Hennacy, und viele andere. Radikale Gewaltfreiheit ist oftmals gerade das ausschlaggebende Fundament für die Ablehnung von Herrschaft und Ausbeutung im gewaltfreien und christlichen Anarchismus. Inhaltliche Überschneidungen gibt es daher mit religiös-pazifistischen Strömungen, aber zudem auch mit befreiungstheologischen, religiös-sozialistischen und christlich-mystischen Ansätzen.

Christliche Anarchisten kritisieren die Entwicklung der christlichen Kirchen. Vielfach wird Paulus für die Abkehr von den urchristlichen Prinzipien der Gewaltlosigkeit, des einfachen Lebens und der Freiheit verantwortlich gemacht. Besonders abgelehnt wird die konstantinische Wende als Verbindung von Staat und Religion. An diesem Punkt überschneidet sich christlich-anarchistische und nicht-religiös anarchistische Kritik häufig.

Geschichte des christlichen Anarchismus

Es gibt einige historische Gruppierungen und Persönlichkeiten, die traditionell als Inspiration und Impulsgeber für den christlichen Anarchismus betrachtet werden. Hierzu zählt beispielsweise die im späten 12. Jahrhundert gegründete und durch die Inquisition verfolgte Bewegung der Waldenser sowie im 15. Jahrhundert der (vermutlich waldensisch inspirierte)[5] Laientheologe Petr Chelčický. Auf dessen Lehren und Ideen bezog sich wiederum Leo Tolstoi positiv, aber auch beispielsweise der Anarchist Gustav Landauer. Landauer schrieb in seinem Werk Die Revolution über Chelčický, dieser habe versucht, "das Christentum als Geist zu retten" und er habe erkannt, dass "Kirche und Staat die Todfeinde des christlichen Lebens" seien.[6] Aber auch Franz von Assisi und seine Armutsbewegung gilt vielen christlichen Anarchisten des 20. Jahrhunderts als Vorläufer des christlichen Anarchismus. Nicht zufällig wird zum Beispiel der Mitbegründer der Catholic-Worker-Bewegung, Peter Maurin, immer wieder mit Franz von Assisi verglichen.[7] Auch die englischen Diggers, die 1649 von Gerrard Winstanley gegründet wurden, haben eine klar erkennbare christlich-anarchistische Dimension.[8] Im 20. Jahrhundert haben die Gründer und viele Aktivistinnen und Aktivisten des Catholic Worker Movement einen anarchistischen Hintergrund.

Ein einflussreiches Buch war und ist Lew Nikolajewitsch Tolstois Das Himmelreich in euch.[9] Die Christen unter den Tolstojanern versuchten dessen Ideen im Sinne eines christlichen Anarchismus weiterzuentwickeln. Tolstojanerinnen und Tolstojaner versuchten in unterschiedlichsten Teilen der Welt beispielsweise mit Siedlungsgründungen, dem Aufbau von Schulen oder mit Zeitschriften Tolstois Ideen zu leben und zu verbreiten. In Österreich gab es z.B. die tolstojanisch beeinflusste Zeitschrift Der G'rode Michl des christlichen Anarchisten Franz Prisching.[10][11] In den Niederlanden gründeten christliche Anarchisten wie Felix Ortt und Lodewijk van Mierop die tolstojanische Zeitschrift Vrede.

Bekannte Vertreter

Literatur

  • Jens Harms (Hg.): Christentum und Anarchismus. Beiträge zu einem ungeklärten Verhältnis. Athenäum, Bodenheim 1988, ISBN 978-3-610-09111-8.
  • Sebastian Kalicha (Hg.): Christlicher Anarchismus. Facetten einer libertären Strömung. Verlag Graswurzelrevolution, Heidelberg 2013, ISBN 978-3-939045-21-2.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Ciaron O'Reilly (1982): The Anarchist Implications of Christian Discipleship. In: Social Alternatives Vol. 2, No. 3, S. 9–12, hier S. 9.
  2. Ammon Hennacy (1965): The Book of Ammon. Salt Lake City, keine Seitenangabe.
  3. Sebastian Kalicha (2013): Dimensionen libertärer Exegese. Reflexionen zum Verhältnis von Anarchismus und Christentum. S. 13–49, hier S. 14. In: Sebastian Kalicha (Hg.): Christlicher Anarchismus. Facetten einer libertären Strömung. Verlag Graswurzelrevolution, Heidelberg.
  4. Jacques Ellul (2011; Orig. 1988): Anarchy and Christianity. Eugene/Oregon, Wipf and Stock Publishers. S. 13.
  5. Wojciech Iwanczak (1997): Between pacifism and anarchy. Peter Chelčický’s teaching about society. In: Journal of Medieval History, Vol. 23, No. 3, S. 272.
  6. Gustav Landauer (2003; Orig. 1907): Die Revolution. Unrast Verlag, Münster, S. 67.
  7. Tripp York (2009): Living on Hope while living in Babylon. The Christian Anarchists of the 20th Century. Wipf & Stock, Eugene/Oregon, S.54.
  8. Peter Marshall (2008): Demanding the Impossible. A History of Anarchism. Harper Perennial, London, New York, Toronto, Sydney, S. 74–86, S. 96–108.
  9. Alexandre Christoyannopoulos (2010): Christian Anarchism: A Political Commentary on the Gospel, Seiten 19 und 208.
  10. Reinhard Müller (2006): Franz Prisching. G'roder Michl, Pazifist und Selberaner. Verlag Graswurzelrevolution/Verlag Gemeinde Hart bei Graz, Nettersheim/Hart bei Graz.
  11. Karl Lammerhuber (1993): Der "G'rode Michl". Portrait einer anarchistischen Zeitschrift. Verlag Monte Verita, Wien.
  12. Giuseppe Galzerano: Giovanni Passannante. Galzerano editore, Casalvelino Scalo, 2004.