Dem deutschen Volke

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Die Inschrift am Giebel des Reichstagsgebäudes
Nahaufnahme der Inschrift

Dem deutschen Volke (Originalschreibweise in Versalien: DEM DEUTSCHEN VOLKE) lautet die 1916 angebrachte Inschrift auf dem Architrav über dem Westportal des Reichstagsgebäudes in Berlin.

Geschichte der Inschrift

Der Reichstag um 1900
– noch ohne Inschrift
Zeitschrift Kladderadatsch
vom 12. September 1915
Der beschädigte Reichstag, 1945

Der Architekt des Reichstagsgebäudes Paul Wallot hatte die Widmung für den 1894 fertiggestellten Neorenaissance-Bau festgelegt. Daraufhin entzündete sich im Parlament und in der Presse eine Debatte um diese Inschrift. Der Berliner Lokal-Anzeiger nannte den Plan am 11. Dezember 1894 „naiv, beinahe komisch“, denn der Besitzer des Hauses sei „das deutsche Volk, welches der Bauherr war“:[1] Rainer Haubrich merkt aus zeitlicher Distanz an, es sei „nicht üblich“, dass der Baumeister dem Bauherrn eine Widmung ausspricht.[2] Laut dem Politikwissenschaftler Klaus von Beyme lehnte Kaiser Wilhelm II. die Wendung als Würdigung der Volkssouveränität ab.[3] Als Gegenvorschläge brachten u. a. die Reichstagsbaukommission „Dem Deutschen Reiche“ und Wilhelm II. „Der Deutschen Einigkeit“ vor.[4] Der Kunsthistoriker Bernd Roeck ist der Ansicht, dass Wilhelms Vorschlag Motto eines Gebäudes sein sollte, das „zähmen, disziplinieren, mindestens integrieren“ sollte.[5]

Die von Wallot für den Spruch vorgesehene Stelle blieb mehr als 20 Jahre lang leer, was Bernd Roeck als Zeichen „ungeklärter Identität“ bezeichnet hat und den Reichstag dieser Zeit deshalb als „Emblem ohne Motto“ ansieht.[5] Für den Historiker Heiko Bollmeyer hätte eine solche Inschrift die Möglichkeit eröffnet, „ein unabhängiges und eigenes parlamentarisches Selbstverständnis auszubilden“.[6] Bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs 1914 blieb die publizistische Debatte mit verschiedenen Vorschlägen für die Inschrift und unterschiedlicher Intensität bestehen. 1915 brachte der Unterstaatssekretär im Reichskanzleramt, Arnold Wahnschaffe, in einem Brief an den Chef des Zivilkabinetts, Rudolf von Valentini, die Frage wieder auf. Wahnschaffe äußerte die Sorge, dass der Kaiser mit jedem weiteren Kriegstag die Unterstützung des Volkes verliere; durch die Anbringung der Inschrift könne er etwas gegen diesen Treueverlust unternehmen. Wilhelm II. ließ antworten, er werde keineswegs eine ausdrückliche Genehmigung erteilen, aber sollte die Reichstagsausschmückungs-Kommission beschließen, die Inschrift anzubringen, erhebe er dagegen keine Bedenken.[7] Einen Tag später gab der Präsident des Reichstages, Johannes Kaempf, den Beschluss bekannt, die Inschrift in Auftrag zu geben.

Im Kladderadatsch war vor der Anbringung im September 1915 zu lesen:[5]

Und ohne Inschrift ist’s lange geblieben –
Da kam der Deutsche in Feldgrau daher,
Er sprach die Worte weittönend und schwer
Und hat – mit dem Schwert sie eingeschrieben.

Auch über die Schriftart der Inschrift gab es Streit: Während einige für eine klassische Capitalis plädierten, wollten andere am deutschen Reichstag die „deutsche Schrift“ Fraktur sehen.[4] Als Kompromiss gestaltete der Architekt und Typograf Peter Behrens den Schriftzug zusammen mit Anna Simons in „nicht weniger als eine[r] alldeutsche[n] Nationalschrift […], eine[r] Kapital-Unzial-Fraktur-Bastarda“:[8]

„Mit einem zwischen schräggestellter Breitfeder und Flachpinsel lavierenden Duktus modifiziert sie die Grundformen der klassischen Unziale (E, U, T) durch Sporen der linken Schaftfüße in M, H, N und K und Brechung der rechten in M, U, H, N, Knickung des oberen Bogenprofils von E, M, S, C und Serifierung der Schaftansätze in U, H, K und L, indem sie die Rundungen streckt (D) und die Geraden rundet (V) und die Aufschrift in einen vitalistisch-flammenden Kontrapunkt zur geometrischen Architektur verwandelt.“[8]

Zwei erbeutete Kanonen aus den Befreiungskriegen gegen Frankreich 1813–1815 wurden für die Herstellung der 60 cm hohen Buchstaben eingeschmolzen. Die Ausführung übernahm die Bronzegießerei Loevy, ein jüdisches Familienunternehmen. Eine Ausstellung des Jüdischen Museums Berlin befasste sich unter dem Titel „Dem deutschen Volke“ vom 21. März bis 15. Juli 2003 mit der Geschichte des Bronzegießers Loevy.[9]

Die Inschrift wurde vom 20. bis 24. Dezember 1916 „ohne großes Medieninteresse“[6] angebracht. Bernd Roeck spricht von einer „leichthin, nebenbei gewährte[n] Geste“, die angesichts des Weltkriegs „belanglos“ geblieben sei.[5]

Die im Zweiten Weltkrieg beschädigte Inschrift wurde beim Wiederaufbau wiederhergestellt und beim Umbau des Gebäudes 1994–1999 erneuert.

Deutungen und Rezeption

Syntaktisch betrachtet ist die Inschrift „Dem deutschen Volke“ eine Nominalphrase im Dativ, wie sie sich häufig als Widmung am Beginn eines Buches finden lässt. Diese Ellipse muss implizit durch Subjekt und Akkusativ-Objekt (wer widmet was) ergänzt werden.

Das Reichstagsgebäude gilt allgemein als Symbol für das Parlament als Volksvertretung, weshalb die Inschrift üblicherweise ergänzt wird als „(Dieses Parlament ist) dem deutschen Volk (gewidmet)“ oder „(Die Arbeit der Politiker ist) dem deutschen Volk (gewidmet)“. Zwei Schweizer Politiker, Tim Guldimann und Moritz Leuenberger, haben die Inschrift in den 2010er Jahren als Ausdruck für ein anderes Verständnis des Volks als Souverän in Deutschland gegenüber der Schweiz bezeichnet, in der das Staatsvolk nicht als „Dativobjekt“ behandelt würde, sondern selbst handle.[10]

Im Jahr 2000 schuf der Projektkünstler Hans Haacke in Auseinandersetzung mit und Abgrenzung von der Giebelinschrift das umstrittene Kunstwerk Der Bevölkerung im Lichthof des Reichstags, das in den Lettern des Giebels geschrieben ist.[11] Haacke begründete sein Projekt damit, dass die alte Reichstagsinschrift „historisch belastet“ sei. Zudem seien heute fast zehn Prozent der Bewohner der Bundesrepublik keine deutschen Staatsbürger. Diesen gegenüber seien die Abgeordneten des Bundestages „moralisch verantwortlich“.[12] Die Wortkombination „deutsches Volk“ impliziere eine „mythische, ausgrenzende Stammeseinheit“ und sei „mit einem radikal undemokratischen Verständnis der res publica assoziiert“. Dieser „eine Blutsgemeinschaft suggerierende Volksbegriff“ stifte immer noch „Unheil“.[13]

Im April 2007 sorgte eine Protestaktion für Aufsehen, als Aktivisten die Giebelinschrift mit dem gleichartig gestalteten Banner „Der deutschen Wirtschaft“ überdeckten.[14]

Literatur

  • Michael S. Cullen: „Still zu erledigen“. Die Inschrift am Reichstagsgebäude. In: Helmuth F. Braun (Hrsg): „Dem Deutschen Volke“. Die Geschichte der Berliner Bronzegießer Loevy. Katalog zur Ausstellung im Jüdischen Museum Berlin. Dumont, Köln 2003, S. 98–115.

Weblinks

Commons: Reichstagsgebäude von Westen – Album mit Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. Julia Klee: Politische Kunst im Reichstag. S. 26, Fußnote 13.
  2. Rainer Haubrich: Dem Deutschen Volke. Das Reichstagsgebäude und andere Hauptstadt-Architekturen. In: Die Welt, 24. Juli 1999.
  3. Klaus von Beyme: Kulturpolitik und nationale Identität: Studien zur Kulturpolitik zwischen staatlicher Steuerung und gesellschaftlicher Autonomie. Westdeutscher Verlag, Opladen, Wiesbaden 1998, S. 241.
  4. a b Peter Rück: Die Sprache der Schrift. Zur Geschichte des Frakturverbots von 1941. In: Jürgen Baurmann, Hartmut Günther, Ulrich Knoop (Hrsg.): homo scribens. Perspektiven der Schriftlichkeitsforschung. Niemeyer, Tübingen 1993. ISBN 3-484-31134-7. S. 231–272, hier S. 245.
  5. a b c d Bernd Roeck: Der Reichstag. In: Étienne François, Hagen Schulze (Hrsg.): Deutsche Erinnerungsorte. Bd. 1. Beck, München 2001, S. 138–155, hier S. 149.
  6. a b Heiko Bollmeyer: Der steinige Weg zur Demokratie. Die Weimarer Nationalversammlung zwischen Kaiserreich und Republik (= Historische Politikforschung. Bd. 13). Campus, Frankfurt am Main 2007, S. 57.
  7. Michael S. Cullen: Das Reichstagsgebäude. Ein Baugeschichtlicher Überblick. Zentral- und Landesbibliothek Berlin, 1995.
  8. a b Peter Rück: Die Sprache der Schrift. Zur Geschichte des Frakturverbots von 1941. In: Jürgen Baurmann, Hartmut Günther, Ulrich Knoop (Hrsg.): homo scribens. Perspektiven der Schriftlichkeitsforschung. Niemeyer, Tübingen 1993. ISBN 3-484-31134-7. S. 231–272, hier S. 246.
  9. Website des Ausstellungskurators.
  10. Tim Guldimann, Christoph Reichmuth, José Ribeaud: Aufbruch Schweiz! Zurück zu unseren Stärken. Ein Gespräch. Nagel & Kimche, München 2015, S. 102; Auftritt Moritz Leuenbergers in der Sendung Sehr geehrte Demokratie, SRF/SWR, Erstausstrahlung 27. Februar/2. März 2013.
  11. Hans Haacke: „DER BEVÖLKERUNG“. In: Bundestag.de; Michael Diers, Kaspar König (Hrsg.): „Der Bevölkerung“. Aufsätze und Dokumente zur Debatte um das Reichstagsprojekt von Hans Haacke. König, Köln 2000.
  12. Vera Stahl: Hans Haacke: „Der Reichstag ist ein imperialer Palast“. In: Spiegel Online vom 12. September 2000.
  13. Wem gehört das Volk? Ein Gespräch mit Hans Haacke von Matthias Flügge und Michael Freitag. In: neue bildende kunst. Bd. 9, 1999, Heft 7, S. 22–24, ISSN 0941-6501.
  14. Protestaktion im Bundestag: Demonstranten steigen Abgeordneten aufs Dach In: Süddeutsche.de, 27. April 2007.