Gender

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Der Begriff Gender [ˈdʒɛndɐ] bezeichnet in den Sozialwissenschaften die durch Gesellschaft und Kultur geprägten Geschlechtseigenschaften einer Person in Abgrenzung zu ihrem biologischen Geschlecht (engl. ‚sex‘). Er wird in diesem Kontext meist mit „soziales Geschlecht“ übersetzt und dient u.a. zur analytischen Kategorisierung. Entsprechende Ansätze werden in jüngerer Zeit im Forschungsfeld der Gender Studies zusammengefasst. Der Begriff wurde ab 1975 unter anderem durch Gayle Rubin im Zuge des amerikanischen Feminismus etabliert und später ins Deutsche übernommen, um auch hier eine sprachlich einfachere Unterscheidung zwischen sozialem (‚gender‘) und biologischem (‚sex‘) Geschlecht treffen zu können.

Begriffsgeschichte und Definitionen

Ausbruch aus der Geschlechterrolle; die Brigantin Michelina De Cesare in Süditalien, 19. Jahrhundert

„Geschlecht“ wurde im Deutschen ursprünglich für die Herkunft beziehungsweise die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe verwendet, etwa im Kontext der Ständeordnung. Die Veränderung der Wortbedeutung hin zu der des lateinischen „Sexus“ für das biologische Geschlecht erfolgte erst später.[1]

Im Englischen wurde der Begriff Gender bis in die 1950er Jahre ausschließlich für das grammatische Geschlecht verwendet. Heute bezeichnet der Begriff darüber hinaus in den Sozialwissenschaften die gesellschaftliche Geschlechterrolle (englisch gender role) bzw. die sozialen Geschlechtsmerkmale. Er bezieht sich also auf alles, was in einer Kultur als typisch für ein bestimmtes Geschlecht angesehen wird (zum Beispiel Kleidung, Beruf und so weiter); er verweist nicht unmittelbar auf die körperlichen Geschlechtsmerkmale (sex).

Der Begriff wurde in dieser Bedeutung zunächst auf Personen angewandt, die sich als Intersexuelle oder Transsexuelle nicht ohne Weiteres als männlich oder weiblich einordnen ließen. In diesem Kontext führte der US-amerikanischen Psychologe John Money (1921-2006) im Jahr 1955 die Begriffe „gender role“ und „gender identity“ ein, um die Diskrepanz zwischen erwartetem und tatsächlichem Verhalten solcher Personen diskutieren zu können. Zuvor wurden die Begriffe „sex role“ beziehungsweise „sex identity“ verwendet, jedoch war gerade bei diesen Personen das körperlich-biologische Geschlecht, also sex, nicht eindeutig ausgebildet.

„Der Begriff Geschlechtsrolle (gender role) wird benutzt, um all jene Dinge zu beschreiben, die eine Person sagt oder tut, um sich selbst auszuweisen als jemand, der oder die den Status als Mann oder Junge, als Frau oder Mädchen hat.“

Money, 1955

Doing Gender wurde in seiner heutigen, sozialkonstruktivistischen Konnotation von Harold Garfinkel etabliert,[2] der ihn auf den Fall der neunzehnjährigen Agnes anwandte, einer Patientin Robert Stollers an der University of California. Agnes’ Geschichte wurde von Garfinkel Ende der 1950er durch Interviews mit ihr und den verantwortlichen Ärzten nachgezeichnet und bildete einen wichtigen Teil seiner 1967 erschienenen Studies in Ethnomethodology. Während in der soziologischen Verwendung des Genderbegriffs zunächst der Fokus auf Abweichungen von Geschlechtsnormen dominierte, rückten in den 1970er Jahren auch Mädchen und Frauen, die Geschlechtsnormen entsprachen, in das Blickfeld der Forschung. Das Genderkonzept wurde in diesem Zug vor allem von der feministischen Forschung als Konzept entdeckt und weiterentwickelt. Die Unterscheidung von „sex“ als natürlichem, unabänderlichem Geschlecht einerseits und „gender“ als sozial ausgehandeltem, veränderlichem Konzept andererseits bildete dabei die Basis für Kritik an den Verhältnissen zwischen Männern und Frauen. So wurden etwa die psychologischen und physischen Zuschreibungen, auf denen der Ausschluss von Frauen von bestimmten Berufen basierte, hinterfragt, indem die Unterschiede zwischen einzelnen Ländern in Geschlechts- und Berufsbildern aufgezeigt wurden.[3]

Die begriffliche Trennung zwischen dem biologischen Geschlecht (sex) und dem sozialen Geschlecht (gender) erschien – und erscheint immer noch – seit den 1980er Jahren im sozialwissenschaftlich-feministischen Diskurs als zentral.[4] Judith Butler lehnt die Trennung zwischen Sex und Gender allerdings ab, denn diese sei rein artifiziell und gehe zurück auf den Kartesischen Dualismus, nämlich die von Descartes begründete philosophische Auffassung, dass Körper und Geist unabhängig voneinander, nebeneinander existierten. Die Trennung zwischen Sex und Gender impliziere, der Mensch bestehe, so wie auch Descartes die Dichotomie zwischen Körper und Geist aufmacht, zum Ersten aus seinem biologischen Geschlecht, das heißt seinem Sex, seinem biologischen, unhinterfragbaren, natürlich gegebenen Körper, und zum Zweiten aus seinem sozialen Geschlecht, das heißt seinem Gender, seinem vom Körper unabhängig quasi frei wählbaren Geschlecht. Nach Butler erscheint aber nicht nur das soziale Geschlecht als Konstruktion, sondern auch das biologische Geschlecht als hinterfragbare Wahrheit oder als eine kulturelle Interpretation des Körperlichen. Das, was man als Gender leben könne, sei letztlich abhängig davon, welche körperlichen Möglichkeiten man habe. Und diese körperlichen Möglichkeiten wiederum würden bereits kulturell interpretiert.[5]

Kontrovers diskutiert wird auch, ob die Bestimmung von Gender als kultureller Befindlichkeit praktisch folgenreich oder nur eine Umbenennung ist, da diese Determinierung von Individuen nicht beliebig manipulierbar und auch nicht allein durch Selbstreflexion überwindbar, sondern allenfalls langfristigen Veränderungen zugänglich ist.

Joan Wallach Scott definiert Gender als konstitutives Element gesellschaftlicher Beziehungen, das auf wahrgenommenen Differenzen zwischen den Geschlechtern basiert und in dem Machtbeziehungen eine wesentliche Bedeutung erhalten. Es umfasst nach Scott vier Elemente:[6]

  • Symbolische Repräsentationen (z.B. „Eva“ und „Maria“, Mythen der Reinheit und Verschmutzung usw.)
  • Normative Konzepte, die die Interpretation der Symbole und die Wahl von Alternativen einschränken (z.B. die viktorianische Konzeption von „Häuslichkeit“)
  • Bezüge zu gesellschaftlichen Institutionen (Ehe, Familie, Bildung, Arbeitsmarkt, Politik usw.)
  • Subjektive Identitätsbildung - in diesem Bereich vollzieht sich die Reproduktion des sozialen Geschlechts.

Identitätsgeschlecht am Beispiel David Reimer

John Moneys Theorie, dass das Identitätsgeschlecht eines Menschen erst mit etwa drei Jahren entwickelt und vorher beliebig veränderbar sei, versuchte er 1966 an dem damals 22 Monate alten Bruce Reimer zu belegen, der nach einer missglückten Genitalbeschneidung durch Ärzte seinen Penis verlor. Money empfahl den Eltern eine chirurgische Geschlechtsangleichung des Kindes und ihn, verbunden mit einer Östrogenbehandlung, als Mädchen Brenda aufzuziehen. Als Brenda mit 14 Jahren von ihrer Geschichte erfuhr, nahm sie den Namen David an und ließ die Angleichung rückgängig machen. Er heiratete und adoptierte die 3 Kinder seiner Frau. David Reimer nahm sich, wie zuvor sein Zwillingsbruder, im Alter von 39 Jahren 2004 das Leben. Das Experiment gilt als gescheitert, wenn auch John Money es als durchschlagenden Erfolg im Sinne seiner Theorie der geschlechtsneutralen Geburt mit anschließender erzieherischer Prägung in Richtung Mann/Frau interpretierte. Der Sexualforscher Gunther Schmidt weist auf einen vergleichbaren Fall hin, der zu einem glücklichen Leben führte.[7]

Gender in den Gender Studies

Das soziale Geschlecht wird in der sozialwissenschaftlichen Gender-Forschung als eine Konstruktion des Geschlechts (Doing Gender) verstanden. Hierbei geht es zwar vordergründig um die Zuordnung von Menschen in eine typisch männliche oder typisch weibliche Rolle, aber auch um den Wert der Geschlechtsrolle. Gender beschreibt vor allem die Art und Weise, in der Männer und Frauen sich zu ihrer Rolle in der Gesellschaft selbst positionieren und wie sie diese bewerten.

Beispielsweise könnte eine Gruppe von Frauen ein eigenes Geschlecht (Gender) bilden, das sich einerseits auszeichnet durch die natürliche Anbindung an ihr biologisches Geschlecht, andererseits durch die Zugehörigkeit zu einer bestimmten gesellschaftlichen Schicht. Die soziale Bedeutung eines solchermaßen konstruierten sozialen Geschlechts wird als variabel beschrieben. Das Geschlecht und besonders seine Bewertung hängen ab von den in einer Gesellschaft vorherrschenden Machtstrukturen. So ist die Genderproblematik in einer matriarchalen Gesellschaft anders als in einer patriarchalen, weil die Begriffe Männlichkeit und Weiblichkeit in den verschiedenen Gesellschaften auch unterschiedlich bewertet werden und darüber gesellschaftliche Anspruchs- und Wahrnehmungsperspektiven geprägt werden, die sich so auch selbst reproduzieren können. Nach John Money empfindet das jeweilige Individuum, bedingt durch seine Sozialisation, diese Rollen- und Funktionsverteilung als normal [8].

Beispiele von Kulturen mit mehreren beschriebenen Geschlechtern

  • Die Einwohner von Amarete in Bolivien kennen zehn Geschlechterkategorien, bei denen neben dem biologischen Geschlecht auch das Geschlecht des Ackerlandes und des ausgeübten Amtes eine Rolle spielen. Deren zehn Gender unterliegen einer strengen sozialen Hierarchie.[9]
  • Die Bugis in Indonesien haben traditionell fünf bezeichnete soziale Geschlechter, wo neben den biologischen (zwei) Geschlechtern drei soziale Gender-Identitäten (calalai, calabai, bisu) bezeichnet werden. Bisu, die die Aspekte von Männern und Frauen vereinen, werden, meist in ihrer Funktion als Schamanen, hoch geschätzt.
  • Bei den Einwohnern von Juchitán de Zaragoza gibt es neben Mann und Frau muxe und marimacha (Cross-Gender).

Sozialwissenschaftliche Forschungsliteratur

  • Anne Conrad, Johanna E. Blume, Jennifer J* Moos (Hrsg.): Frauen - Männer - Queer. Ansätze und Perspektiven aus der historischen Genderforschung. Röhrig Universitätsverlag, St. Ingbert 2015, ISBN 978-3-86110-574-9.
  • Astrid M. Fellner, Anne Conrad, Jennifer J* Moos (Hrsg.): Gender überall!? Beiträge zur interdisziplinären Geschlechterforschung. Röhrig Universitätsverlag, St. Ingbert 2014, ISBN 978-3-86110-559-6.
  • Anne Fleig (Hrsg.). Die Zukunft von Gender. Begriff und Zeitdiagnose. Campus-Verlag, Frankfurt/New York 2014, ISBN 978-3-593-50084-3
  • Matthias Morgenstern: Judentum und Gender. LIT Verlag Berlin-Münster-Wien-Zürich-London 2014, ISBN 978-3-643-12699-3 (einsehbar bei Google Books)
  • Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz: Frau – Männin – Menschin. Zwischen Feminismus und Gender. Butzon & Bercker, Kevelaer 2009, ISBN 978-3-7666-1313-4
  • Mechthild Bereswill: Geschlecht, in: Handbuch Soziologie, Hrsg.: Nina Baur, Hermann Korte, Martina Löw, Markus Schroer, VS Verlag 2008, ISBN 978-3-531-15317-9, S. 97–116 (Springer Link)
  • Claudia Koppert, Beate Selders (Hrsg.): Hand aufs dekonstruierte Herz. Verständigungsversuche in Zeiten der politisch-theoretischen Selbstabschaffung von Frauen. Ulrike Helmer, Königstein 2003.
  • Marlis Hellinger, Hadumod Bußmann (Hrsg.): Gender Across Languages, The linguistic representation of women and men, Volume 3. John Benjamins, Amsterdam 2003. ISBN 1-58811-210-1 und ISBN 1-58811-211-X
  • Judith Lorber: Genderparadoxien. Leske & Budrich, zweite Auflage Opladen 2003, ISBN 3-8100-3743-5
  • Ulrich Enderwitz: Die Sexualisierung der Geschlechter. Eine Übung in negativer Anthropologie. Ça Ira, Freiburg/Br. 1999, ISBN 3-924627-60-6
  • Genus – Münsteraner Arbeitskreis für Gender Studies (Hrsg.): Kultur, Geschlecht, Körper. Agenda, Münster 1999, ISBN 3-89688-061-6
  • Ursula Pasero, Christine Weinbach (Hrsg.): Frauen, Männer, Gender Trouble. Systemtheoretische Essays. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2003, ISBN 3-518-29237-4
  • Paula-Irene Villa: Sexy Bodies. Eine soziologische Reise durch den Geschlechtskörper. Leske + Budrich, Opladen 1999, ISBN 3-8100-2452-X
  • Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1991, ISBN 3-518-11722-X
  • John Money, Anke A. Eberhardt (1972) Man and Woman, Boy and Girl: Gender Identity from Conception to Maturity. John Hopkins University Press, Baltimore

Siehe auch

Weblinks

Einzelnachweise

Commons: Gender – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien
  1. Herkunftswörterbuch von Wissen.de: Woher kommt Geschlecht. Abgerufen am 22. Dezember 2015.
  2. Regine Gildemeister: Doing Gender. Soziale Praktiken der Geschlechterunterscheidung. In: Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Theorie, Methoden, Empirie (Hg. Ruth Becker, Beate Kortendiek). Wiesbaden 2010, S. 139.
  3. Lorber 2008, S. 532–537.
  4. Susanne Schröter: FeMale. Über Grenzverläufe zwischen den Geschlechtern. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/Main 2002, ISBN 3-596-15716-1 , Seite 39.
  5. Judith Butler: Variationen zum Thema Sex und Geschlecht. Beauvoir, Wittig und Foucault. In: Nunner-Winkler: Weibliche Moral. Die Kontroverse um geschlechtsspezifische Ethik. Campus: Frankfurt/Main 1991, ISBN 3-593-34338-X.
  6. Joan W. Scott: Gender. Eine nützliche Kategorie der historischen Analyse. In: Nancy Kaiser (Hrsg.): Selbst Bewußt. Frauen in den USA. Leipzig 1992, S. 27-75; hier: S. 52-55.
  7. Gunter Schmidt: Tragödie als Schurkenstück
  8. John Money (1988) Gay, Straight and In-Between: The Sexology of Erotic Orientation. Oxford University Press, New York
  9. Peter Döge: Gender- Kompetenz - Baustein einer zukunftsfähigen Hochschule (PDF), S. 2 f.