Gleichnis vom Nadelöhr

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Gleichnisdarstellung in der Bonifatiuskirche Dortmund

Das Gleichnis vom Nadelöhr (auch Gleichnis vom Kamel und vom Nadelöhr) ist ein Gleichnis Jesu, das durch ein paradoxes Bild die Aussage unterstreicht, es sei einem Reichen unmöglich bzw. fast unmöglich, ins Reich Gottes zu gelangen.

Bestand

Das Gleichnis ist in allen drei synoptischen Evangelien überliefert:

„Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes gelangt.“

Markus 10,25 EU

„Denn eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes gelangt.“

Lukas 18,25 EU

„Nochmals sage ich euch: Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes gelangt.“

Matthäus 19,24 EU

Ferner taucht das Gleichnis vom Nadelöhr im apokryphen Nazaräerevangelium auf:[1]

„Simon, Johannis Sohn, es ist leichter, daß ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, denn ein Reicher ins Himmelreich.“

„Hebräerevangelium“, Übersetzung von Edgar Hennecke (1904)[2]

Bedeutung

Seil

Vielfach wird vermutet, es handle sich um einen Kopier- oder Lesefehler von κάμιλος (kamilos, dt.: „Schiffstau“, „Seil“) zu dem aufgrund des Itazismus gleichlautenden Begriff κάμηλος (kámêlos; dt.: „Kamel“, „Karawane“).[3] Zwar ist κάμιλος in den meisten heutigen Bibeleditionen nur sekundär, aber mittlerweile seien viele Fälle der ursprünglichen Lesart als „Schiffstau“ bzw. „Seil“ bekannt geworden, darunter die Übersetzungen der armenischen[4] und der georgischen[5] Bibel sowie verschiedene Handschriften.[6] Die älteste auf dem griechischen kamilos basierende Quelle findet sich in der syro-aramäischen Peschitta-Bibel, die ab ca. 145 n. Chr. übersetzt wurde.[7] Die einzige erhaltene nicht-biblische Quelle, die die ältere Variante bezeugt, ist die Suda.[8] Die spätere kámêlos-Variante gehört demzufolge in den Komplex der Volksetymologien und Verballhornungen.[9] Diese angeblich ursprüngliche Lesart kamilos sei der Textkritik lange unbekannt gewesen.

Kamel

Da die Lesart Kamel in der Forschung für ursprünglich gehalten wird,[10] werden verschiedene Deutungen unternommen,[11] etwa die, nach der eine hypothetische enge Gasse in Jerusalem mit einem kleinen Tor an ihrem Ende gemeint sei, die im Volksmund angeblich den Namen „Nadelöhr“ trug. Nach dieser mittlerweile allgemein verworfenen Vermutung (Pedersen: Art. κάμηλος, Sp. 610) konnte ein Kamel das Tor nur passieren, wenn es kniete und nicht mit zu viel Gütern bepackt war.[12] Eine direkte Herkunft des Gleichnisses aus der aramäischen Kultur ist ausgeschlossen, da ursprünglich keines der Evangelien in diesen Sprachen verfasst wurde. Lediglich bei der Frage nach dem historischen Umfeld ist zu berücksichtigen, dass Jesus aramäisch sprach.[13] Die neutestamentliche Textexegese, die von der Priorität der kámêlos-Variante ausgeht, bedient sich der talmudischen Tradition (s. u.), um Jesu Worte theologisch zu interpretieren. So wird das kámêlos als ein „typisches nahöstliches Bild“ gesehen, das Jesus in Anlehnung an den Elefanten benutzt haben soll, um in der Paradoxie der Kopplung eines großen Tieres mit einem kleinen Durchlass die Unmöglichkeit für Reiche, in den Himmel zu gelangen, aufzuzeigen,[14] obgleich auch in diesem Fall Gottes gnädiges Handeln in den Evangelien nicht ausgeschlossen wird.[15] Die rhetorische Figur, eine Unmöglichkeit durch einen derartigen Vergleich zu umschreiben, ist als Adynaton bekannt.[16]

Zusammenhang

Der weitere Zusammenhang der Verse vom Kamel und dem Nadelöhr bei den Synoptikern legt nahe, dass Reiche nicht per se vom Reich Gottes ausgeschlossen sind: Es ist zwar schwer, als Reicher in das Reich Gottes zu gelangen, aber nicht unmöglich:

23 Da sah Jesus seine Jünger an und sagte zu ihnen: Wie schwer ist es für Menschen, die viel besitzen, in das Reich Gottes zu kommen! 24 Die Jünger waren über seine Worte bestürzt. Jesus aber sagte noch einmal zu ihnen: Meine Kinder, wie schwer ist es, in das Reich Gottes zu kommen! 25 Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes gelangt. 26 Sie aber erschraken noch mehr und sagten zueinander: Wer kann dann noch gerettet werden? 27 Jesus sah sie an und sagte: Für Menschen ist das unmöglich, aber nicht für Gott; denn für Gott ist alles möglich.“

Mk 10,23-27 EU

Diese Einschränkung durch den Verweis auf die Allmacht Gottes fehlt in der apokryphen Überlieferung der Nazoräer, was zu einer Sinnverschiebung gegenüber den kanonischen Evangelien führt: Der Auftrag, alle Habe den Armen zu geben, wird nicht nur als Ratschlag Jesu zur Vollkommenheit eingeführt, sondern als notwendige Konsequenz des Liebesgebots angesehen; Missachtung führt nach judenchristlicher Überlieferung tatsächlich zum Ausschluss vom Himmelreich, weshalb das Stück hier durch das Gleichnis vom Kamel und dem Nadelöhr abgeschlossen und nicht nach der Reaktion der Jünger relativiert wird. Die Heilsteilhabe wird im judenchristlichen Nazaräerevangelium auch in anderen Passagen stärker an die soziale Solidarität gebunden.[1]

Die Warnung Jesu vor dem Reichtum findet sich auch in anderen Logien der Jesustradition, etwa jenem über den Mammon.

Andere Religionen

Judentum

Im babylonischen Talmud geht es beim „Nadelöhr-Aphorismus“ um „undenkbare Gedanken“, wie sie auch in Träumen vorkommen können. Dort heißt es über die Bedeutung von Träumen: „Sie zeigen weder eine Palme aus Gold noch einen Elefanten, der durch ein Nadelöhr gehen kann.“[17]

Islam

Im Koran ist folgendes über die Sünder zu lesen: „Wahrlich, denjenigen, die Unsere Zeichen für Lüge erklären und sich mit Hochmut von ihnen abwenden, werden die Pforten des Himmels nicht geöffnet werden, noch werden sie in das Paradies eingehen, ehe denn ein Kamel durch ein Nadelöhr geht. Und so belohnen Wir die Verbrecher.“[18]

Rezeption in Literatur und Philosophie

In Ödön von Horváths Roman Jugend ohne Gott (1937) wird die Bibelstelle diskutiert (Kap. 12: „Auf der Suche nach den Idealen der Menschheit“[19]):

„Er bleibt ganz ruhig: »Richtig zu denken, ist das Prinzip der Moral.« Er leert wieder sein Glas. »Ja, die Reichen werden immer siegen, weil sie die Brutaleren, Niederträchtigeren, Gewissenloseren sind. Es steht doch schon in der Schrift, daß eher ein Kamel durch das Nadelöhr geht, denn daß ein Reicher in den Himmel kommt.« »Und die Kirche? Wird die durch das Nadelöhr kommen?« »Nein«, sagt er und lächelt wieder, »das wäre allerdings nicht gut möglich. Denn die Kirche ist ja das Nadelöhr.« Dieser Pfaffe ist verteufelt gescheit, denke ich mir, aber er hat nicht recht. Er hat nicht recht! Und ich sage: »Die Kirche dient also den Reichen und denkt nicht daran, für die Armen zu kämpfen.«“

Theodor W. Adorno verweist in Minima Moralia (1951) im Absatz „Tugendspiegel“ (Nr. 139) auf das Gleichnis:

„Wenn die sichtbare Wirkung im bestehenden Staat den Maßstab für den Menschen abgibt, dann ist es nichts als konsequent, den materiellen Reichtum, der ihm jene Wirkung handgreiflich bestätigt, als Eigenschaft ihm gutzuschreiben, da ja seine moralische Substanz selber, nicht anders als später in Hegels Philosophie, durch seine Teilhabe an der objektiven, sozialen konstituiert sein soll. Erst das Christentum hat jene Identifikation negiert im Satz, daß eher ein Kamel durchs Nadelöhr als ein Reicher in den Himmel komme. Aber die besondere theologische Prämie auf freiwillig gewählte Armut zeigt an, wie tief das allgemeine Bewußtsein von der Moralität des Besitzes geprägt ist.“

Siehe auch

Literatur

  • Sigfred Petersen: Art. κάμηλος. Exegetisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Bd. II, Stuttgart 1981, Sp. 609–611, ISBN 3-17-007383-4.

Einzelnachweise

  1. a b Jörg Frey: . In: Michaela Bauks, Klaus Koenen, Stefan Alkier (Hrsg.): Das wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (WiBiLex), Stuttgart 2006 ff. (erstellt: Okt. 2013).
  2. Edgar Hennecke: Neutestamentliche Apokryphen. Tübingen und Leipzig 1904, Seite 20. Das Nazaräerevangelium und die als „Hebräerevangelium“ bezeichnete Überlieferung wurden seinerzeit noch nicht streng unterschieden.
  3. Zum Bsp. Pinchas Lapide: Jesus, das Geld und der Weltfrieden. Gütersloh 1991 (vgl. Rezension im Spiegel 37/1991, Zugriff am 19. März 2016). Zu möglichen Gründen meint G. P. Landmann (1989), die Transformation gehe auf die regionale Verbreitung der Evangelien zurück, welche in den Küstenstädten begonnen und sich entlang der Handelsrouten in die ariden Gegenden im Osten und Süden erstreckt habe, in denen der Seemannsjargon entweder unbekannt oder nicht als solcher erkannt worden sei.
  4. FHerklotz, BZ 2, '04, S. 176 f.; Nestlé-Aland: Apparatus zum Novum Testamentum Graece et Latine zu Mt 19:24
  5. Nestlé-Aland: Apparatus zum Novum Testamentum Graece et Latine zu Mk 10:25 (georg.: Mk 13:28)
  6. Nestlé-Aland: Apparatus zum Novum Testamentum Graece et Latine zu Lk 18:25
  7. Mt 19:24; vgl. George M. Lamsa: The New Testament according to the Eastern Text (1940, xxiv)
  8. Suda, Stichwort Κάμηλος, Adler-Nummer: kappa 282, Suda-Online. Die älteste bekannte Quelle überhaupt für das Wort καμιλος ist die Komödie Sphekes (1035) von Aristophanes: kamilos to pachu schoinion dia tou i.
  9. Bauer & Aland: Wörterbuch zum Neuen Testament (1988); vgl. auch Boisacq: Dict. étym., Bröndal und Haupt: „Camel and Cable“ (American Journal of Philology 45).
  10. Bauer: Wörterbuch zum Neuen Testament. Art. κάμηλος und κάμιλος, Sp. 793f; Pedersen: Art. κάμηλος, Sp. 610f
  11. Früheste Entstehung im 9. Jahrhundert; erstmals aufgezeichnet vom Erzbischof Theophylactus von Bulgarien († ca. 1107)
  12. Dies sollte als Analogie verstanden werden, wonach (im übertragenen Sinne) auch der Reiche, der nicht an seinen irdischen Gütern hing, sondern diese Last auch ablegen konnte, ins Himmelreich eingehen konnte. Im Volksglauben beliebt war (und ist) auch der Aspekt des knienden Kamels als Parallele zur Demut der Gläubigen vor Gott.
  13. In der Fußnote zu Mt 19:24 einer syro-aramäischen Peschitta-Übersetzung wird abweichend vom Haupttext das „Seil“ mit einem „Kamel“ gleichgesetzt. Dies kann jedoch nicht als relevante Quelle für eine aramäische Herkunft verwendet werden, wie es im Artikel „'The camel and the eye of the needle', Matthew 19:24, Mark 10:25, Luke 18:25“ versucht wird, da die Priorität des Griechischen im Neuen Testament unbestritten ist, sondern dokumentiert höchstens die beginnende Transformation von kamilos zum hebräischen Lehnwort kámêlos in den neutestamentlichen Ur-Quellen.
  14. Kittel/Friedrich (Hrsg.): Theological Dictionary of the New Testament (abridged, 1985); Pedersen: Art. κάμηλος, Sp. 610
  15. Vgl. Mk 10:27
  16. Helmut Glück (Hrsg.): Metzler Lexikon Sprache. 2. Auflage. Verlag J. B. Metzler, Stuttgart/Weimar 2000, S. 16.
  17. Talmud: bBer 55b; bBM 38b sowie zum Nadelöhr: MidrHL 5,2; Pes.r. 15.
  18. Al-A'raf („The Heights“), Sure 7, 40, Übersetzung: Koran-Deutsch PDF, S. 78.
  19. Volltext des Kapitels beim Projekt Gutenberg