Koordinationsrat der Muslime in Deutschland

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Logo des Koordinationsrates der Muslime

Der Koordinationsrat der Muslime (KRM) (inoffiziell auch Koordinierungsrat der Muslime;[1] zur Verdeutlichung wird er auch Koordinationsrat/Koordinierungsrat der Muslime in Deutschland genannt[2]) ist eine Arbeitsplattform der vier größten islamischen Organisationen in Deutschland, die im März 2007 im Rahmen der Deutschen Islamkonferenz gegründet wurde. Ob und auf wie viele Muslime der KRM einen religiösen Vertretungsanspruch erheben kann, ist umstritten.

Mitglieder des Koordinationsrats sind der Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD), die Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion (DİTİB), der Islamrat für die Bundesrepublik Deutschland (IR) und der Verband der Islamischen Kulturzentren (VIKZ).

Organisation

Status

Der KRM hat keine Rechtspersönlichkeit. Er ist kein eingetragener Verein, sondern beruht lediglich auf einer gemeinsamen Geschäftsordnung, die von den vier ihn tragenden Verbänden am 28. März 2007 unterzeichnet wurde.[3][4] Eineinhalb Jahre nach der Gründung bemängelte die Islamische Zeitung, dass der KRM keine Angestellten, kein Budget, kein Lobby-Büro in Berlin, keine eigene Webseite und kaum eine klar ausgearbeitete Programmatik habe.[5]

Geschäftsordnung

Die Geschäftsordnung gibt der DITIB ein Vetorecht und drei stimmberechtigte Vertreter, während die anderen Verbände jeweils nur zwei Vertreter haben.[3] Weiter heißt es darin:[3]

  • „Mitglieder auf Bundesebene können nur Dachorganisationen oder Spitzenverbände werden […] Über die Aufnahme entscheidet die Mitgliederversammlung. Eine Ablehnung der Mitgliedschaft braucht nicht begründet zu werden.“
  • „Der Koordinationsrat bekennt sich zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland.“
  • „Koran und Sunna des Propheten Mohammed bilden die Grundlagen des Koordinationsrats. Dieser Grundsatz darf auch durch Änderungen dieser Geschäftsordnung nicht aufgegeben oder verändert werden.“

Eine laut dem damaligen ZMD-Generalsekretär Aiman Mazyek bis Ende des Jahres 2007 geplante Weiterentwicklung der Geschäftsordnung zu einer verbindlichen Satzung[6] kam nicht zustande.

Sprecher

Der Posten des Sprechers des Koordinationsrates wechselt im halbjährlichen Turnus. Beispielsweise wechselten sich die ersten Sprecher wie folgt ab:

  • Erster Sprecher (von April bis September 2007) war Ayyub Axel Köhler, Vorsitzender des Zentralrats der Muslime in Deutschland.
  • Zweiter Sprecher (von Oktober 2007 bis März 2008) war Bekir Alboğa, der Leiter der Abteilung für interreligiösen Dialog von DITIB.
  • Dritter Sprecher (von April bis September 2008) war Ali Kızılkaya, der Vorsitzende des Islamrats für die Bundesrepublik Deutschland.
  • Vierter Sprecher (von Oktober 2008 bis März 2009) war Erol Pürlü vom Verband der Islamischen Kulturzentren (VIKZ).
Zeitraum Sprecher Organisation
04/2007–09/2007 Ayyub Axel Köhler Zentralrat
10/2007–03/2008 Bekir Alboğa DITIB
04/2008–09/2008 Ali Kızılkaya Islamrat
10/2008–03/2009 Erol Pürlü VIKZ
04/2009–09/2009 Ayyub Axel Köhler Zentralrat
10/2009–03/2010 Bekir Alboğa DITIB
04/2010–09/2010 Ali Kızılkaya Islamrat
10/2010–03/2011 Erol Pürlü VIKZ
04/2011–09/2011 Aiman Mazyek Zentralrat
10/2011–03/2012 Bekir Alboğa DITIB
04/2012–09/2012 Ali Kızılkaya Islamrat

Vertretungsanspruch

Ziel und Zweck des Koordinationsrates ist nach § 2 seiner Geschäftsordnung, die Vertretung der Muslime in der Bundesrepublik zu organisieren und der Ansprechpartner für Politik und Gesellschaft zu sein.[3] Die auch in der Präambel der KRM-Geschäftsordnung bekräftigte Absicht, „eine einheitliche Vertretungsstruktur der Muslime in der Bundesrepublik“ zu schaffen, wird als Alleinvertretungsanspruch verstanden, der muslimische Vertretung außerhalb des KRM ausschließen möchte.[7]

Der Koordinationsrat vertritt sowohl sunnitische wie schiitische Muslime. Die Aleviten und die Ahmadiyya Muslim Jamaat werden vom KRM nicht vertreten. Die Islamische Gemeinschaft Millî Görüş ist kein unmittelbares KRM-Mitglied, sie dominiert aber den Islamrat und ist über diesen mittelbar beteiligt.

Der Koordinationsrat vertrat zur Zeit seiner Gründung von den damals 3,8 bis 4,3 Millionen Muslimen in Deutschland[8] über seine Mitgliedsvereine etwa 300.000:

  • DITIB: 110.000[9] – 140.000[10]
  • Islamrat: 80.000[10] – 140.000[9]
  • Zentralrat der Muslime: 20.000[9] – 30.000[10]
  • VIKZ: 24.000[9] – 30.000[10]

In der Gründungsphase wurden laut dem damaligen KRM-Sprecher Köhler „schätzungsweise 85 Prozent“ der Moscheegemeinden in Deutschland vertreten.[11] Laut einer Studie des BAMF kannten jedoch im ersten Halbjahr 2008 erst 10 Prozent der Muslime in Deutschland den KRM.[12]

Von liberalen Muslimen wie Lale Akgün, der damaligen Islam-Beauftragten der SPD, wurde 2007 kritisiert, dass der Koordinationsrat vor allem konservative Muslime vertrete und nicht für die Gesamtheit der Muslime in Deutschland sprechen könne. Der Grünen-Bundestagsabgeordnete Omid Nouripour kommentierte: „Der permanente Ruf der Politik nach der einen Telefonnummer im Islam ist völlig kontraproduktiv.“[10] Seyran Ateş urteilte im Jahr 2007: „Die meisten Islamverbände vertreten einen fundamentalistischen, strengen Islam.“[13]

Rechtliche Anerkennung als Religionsgemeinschaft

Laut Geschäftsordnung will der Koordinationsrat „gemeinsam mit den bereits bestehenden muslimischen Länderstrukturen sowie den vorhandenen Lokalstrukturen an der Schaffung rechtlicher und organisatorischer Voraussetzungen für die Anerkennung des Islams in Deutschland im Rahmen von Staatsverträgen“ wirken.[3]

Schon seit langem wurde von deutschen Politikern die Gründung eines Dachverbandes der in Deutschland lebenden Muslime gefordert, der als einheitlicher Ansprechpartner für die Politik dienen und die rechtliche Anerkennung der organisierten Muslime als Religionsgemeinschaft und darüber hinaus als Körperschaft des öffentlichen Rechts erleichtern sollte. Auch dem Koordinationsrat ist dies jedoch noch nicht gelungen – bisher sind islamische Gemeinden meistens in Form von Vereinen organisiert.

Volker Beck äußerte im April 2007 die Meinung, dass der KRM noch nicht die Voraussetzungen einer Religionsgemeinschaft gemäß Art. 140 GG erfülle: „… ein reiner Dachverband ist nach unserem Recht noch keine Religionsgemeinschaft und erfüllt noch lange nicht die Voraussetzungen einer Körperschaft.“ Er riet auch zur Vorsicht im Umgang mit den überwiegend konservativen und fundamentalistischen Kräften innerhalb des KRM, obwohl er für eine Perspektive der Gleichberechtigung plädierte.[14]

Stellungnahmen des KRM

  • Der KRM forderte am 13. April 2007 die sofortige Freilassung der deutschen Geiseln im Irak.[15]
  • In einem Interview vor dem 2. Treffen der Islamkonferenz erklärte der KRM-Sprecher, muslimische Eltern bei der Forderung nach einem getrennten Sportunterricht unterstützen zu wollen,[16] und erntete dafür starke Irritationen und Kritik.[7][17] [18]
  • Anlässlich des zweiten Treffens der Deutschen Islamkonferenz forderte der KRM von der Bundesregierung, eine „Roadmap“ vorzulegen und die Zielsetzungen zu konkretisieren.[19]
  • In einer Stellungnahme vom 24. Mai 2007[20] antwortete der KRM auf einen Text der EKD zum Thema Christen und Muslime in Deutschland vom 28. November 2006.[21]
  • Am 3. Juli 2007 nahm der KRM zum Gesetzesentwurf zur Umsetzung aufenthalts– und asylrechtlicher EU-Richtlinien Stellung.[22] Türkische Organisationen hatten wegen des Gesetzes mit dem Rückzug vom Integrationsgipfel gedroht[23] und diesen schließlich boykottiert. Der KRM könne „verstehen, wenn sich die Ditib von dem Integrationsgipfel distanziert“. Aus dem Kreis der KRM-Mitgliedsverbände wird lediglich DITIB zu den Integrationsgipfeln eingeladen.
  • Im Sommer 2008 einigten sich erstmals die im KRM vertretenen Verbände auf eine gemeinsame Berechnungsgrundlage für Beginn und Ende des Fastenmonats Ramadan[24] und schufen damit die Voraussetzung, dass zum ersten Mal nahezu alle Muslime in Deutschland den Ramadan und das anschließend Fest des Fastenbrechens zur selben Zeit begehen.
  • Im September 2008 forderte der KRM die Ablösung von Prof. Muhammad Sven Kalisch und zog sich aus dem Beirat des Centrums für religiöse Studien (CRS) an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster zurück.[25]
  • Im Frühjahr 2012 kritisierte der Koordinationsrat der Muslime Äußerungen des neuen Bundespräsidenten Joachim Gauck.[26] Gauck hatte den Satz seines Vorgängers „Der Islam gehört zu Deutschland“ diskutiert.
  • Im Juni 2012 kritisierte der KRM ein Urteil das Landgerichts Köln, das die Beschneidung männlicher Säuglinge oder Kinder als strafbare Körperverletzung erkannte.[27] (Zur Rechtslage in Deutschland siehe hier.)
  • Am 15. November 2015 verurteilten die vier KRM-Mitglieder und vier weitere Verbände die „niederträchtigen und barbarischen“ Terroranschläge am 13. November 2015 in Paris: „Die Mörder von Paris irren, wenn sie glauben, sie seien die Vollstrecker eines göttlichen Willens. Terror steht in gänzlichem Widerspruch zur Barmherzigkeit Gottes.“[28] KRM-Sprecher Zekeriya Altug sagte in Köln, nach den Anschlägen von Paris müsse die Botschaft hierzulande lauten: „Wir stehen zusammen im Schulterschluss gegen diejenigen, die uns auseinander dividieren wollen.“[29]

Siehe auch

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Koordinationsrat der Muslime laut Pressemitteilungen, auch Koordinierungsrat der Muslime genannt – beide Bezeichnungen werden sowohl von den beteiligten Verbänden als auch von den Medien nebeneinander verwendet.
  2. Die Benennung als Koordinationsrat der Muslime in Deutschland steht sogar im Titel der Geschäftsordnung vom 28. März 2007 (im restlichen Text der Geschäftsordnung wird er kurz Koordinationsrat genannt); laut Website lautet der Name jedoch Koordinationsrat der Muslime.
  3. a b c d e Geschäftsordnung des Koordinationsrates der Muslime in Deutschland auf www.religion-recht.de
  4. PDF der Geschäftsordnung mit den Unterschriften der Unterzeichner
  5. Einheit durch den KRM - Illusion oder Chance? Wer koordiniert die Position der Muslime wirklich, will Khalil Breuer wissen. In: Islamische Zeitung. 8. Oktober 2008, abgerufen am 16. Juni 2015.
  6. Kirchenkampf um die Moscheen - Muslime fordern ihre staatsrechtliche Anerkennung. In: Tagesspiegel. 13. April 2007, abgerufen am 16. Juni 2015.
  7. a b Mariam Lau: Böhmer gegen muslimisches Koordinationsgremium: „Fundamentalisten haben die Mehrheit im Rat“. In: Die Welt. 21. April 2007, abgerufen am 16. Juni 2015.
  8. Muslimisches Leben in Deutschland. Repräsentative Studie des BAMF im Auftrag der Deutschen Islam Konferenz, Juni 2009, S. 11.
  9. a b c d Islamische Verbände taz 12. April 2007
  10. a b c d e Kerstin Krupp: Bedenken gegen Kooperation islamischer Verbände. In: Berliner Zeitung. 12. April 2007, abgerufen am 16. Juni 2015.
  11. Neuer Dachverband als zu konservativ kritisiert. In: Die Welt. 12. April 2007, abgerufen am 16. Juni 2015.
  12. Muslimisches Leben in Deutschland. Repräsentative Studie des BAMF im Auftrag der Deutschen Islam Konferenz, Juni 2009, S. 17 (zum Erhebungszeitraum siehe S. 38).
  13. Seyran Ateş: Der Multikulti-Irrtum. Wie wir in Deutschland besser zusammenleben können. Ullstein, Berlin 2007, ISBN 978-3-550-08694-6, S. 197.
  14. Volker Beck: Fahrplan zur Integration. In: Die Tageszeitung. 16. April 2007, abgerufen am 16. Juni 2015.
  15. Koordinationsrat der Muslime in Deutschland (KRM) fordert die sofortige Freilassung der deutschen Geiseln im Irak, islam.de, 13. April 2007
  16. »Wir vertreten einen Mainstream-Islam«. In: Die Zeit. 19. April 2007, abgerufen am 16. Juni 2015.
  17. Aiman Mazyek zu den Aussagen von Köhler, Jörg Lau, Zeit-Blog, 21. April 2007
  18. Andrea Brandt, Cordula Meyer: Große Idee, kleiner Plan. In: Spiegel Online. 23. April 2007, abgerufen am 16. Juni 2015.
  19. Koordinationsrat der Muslime zur Deutschen Islamkonferenz: „Roadmap“ und die Zielsetzungen müssen konkretisiert werden, islam.de, 1. Mai 2007
  20. Profilierung auf Kosten der Muslime? IGMG, 24. Mai 2007
  21. Einladung zum Gespräch und zum Dialog: Handreichung zum Thema Christen und Muslime in Deutschland Pressemitteilung der EKD, 28. November 2006
  22. Stellungnahme des Koordinationsrates der Muslime in Deutschland zum Gesetzesentwurf zur Umsetzung aufenthalts – und asylrechtlicher EU-Richtlinien vom 3. Juli 2007
  23. Muslime drohen mit Rückzug vom Integrationsgipfel. In: Tagesspiegel. 4. Juli 2007, abgerufen am 16. Juni 2015.
  24. http://www.islam.de/10694.php
  25. Canan Topçu: Kalisch passt dem Rat der Muslime nicht. In: Frankfurter Rundschau. 12. September 2008, abgerufen am 16. Juni 2015.
  26. KRM: Bundespräsident Gaucks Aussagen zum Islam sind irritierend
  27. KRM: Kölner Beschneidungsverbot ist ein massiver Eingriff in die Religionsfreiheit (27. Juni 2012) Religiös motivierte Beschneidung: Beschneidungsurteil kriminalisiert Muslime und Juden
  28. Pressemeldung der Islamischen Organisationen in Deutschland vom 16. November 2015, abgerufen am 3. Februar 2016.
  29. Muslimische Verbände rufen zu gesellschaftlichem Zusammenhalt auf. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16. November 2015.