Landesstreik

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Flugblatt des Oltener Komitees mit dem Aufruf zum «allgemeinen Landesstreik»

Der Landesstreik war ein Generalstreik in der Schweiz, der vom 11. bis zum 14. November 1918 dauerte. Es beteiligten sich gegen 250'000 Arbeiter und Gewerkschafter. Der Landesstreik gilt als wichtigste gesellschaftspolitische Auseinandersetzung der schweizerischen Zeitgeschichte.

Vorgeschichte

Die Schweiz war im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert in Bezug auf die Streiktätigkeit im internationalen Vergleich kein Sonderfall; seit den späten 1860er-Jahren hatten die Arbeitsniederlegungen massiv zugenommen. In den 1870er-Jahren zählte man 71 Streiks, in den 1880er-Jahren 137 und in den 1890er-Jahren 449. Im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts stieg die Zahl der Arbeitseinstellungen sprunghaft auf 1'418 an. Zwischen 1902 und 1912 gab es auch zehn lokale Generalstreiks. Der erste ereignete sich – teilweise unter anarchistischem Einfluss – in Genf, im Jahre 1912 legte schliesslich auch die Zürcher Arbeiterschaft die Arbeit nieder. Wichtigster Befürworter des Generalstreiks war in der Schweiz der am linken Flügel der Sozialdemokratischen Partei (SP) politisierende Robert Grimm. Er betrachtete den Massenstreik als Krönung des Klassenkampfes und bezeichnete ihn in einem 1906 gehaltenen Vortrag als Möglichkeit, die Bourgeoisie zu stürzen und der Arbeiterklasse zur Macht zu verhelfen.[1] Demgegenüber zeigten sich die Gewerkschaften zunächst sehr skeptisch.[2]

Dass gegen Ende des Ersten Weltkrieges die Idee eines landesweiten Generalstreiks in der Schweizer Arbeiterbewegung zunehmend populärer wurde, war kein Zufall. Seit dem Kriegsausbruch hatten sich die Lebensbedingungen breiter Massen zunehmend verschlechtert. Hatte sich zu Beginn des Krieges die Sozialdemokratie – ohne dass sie allerdings in die Landesregierung eingebunden worden wäre – der Politik des „Burgfriedens“ angeschlossen und waren die Konflikte eher entlang der Grenze der mit unterschiedlichen Kriegsparteien sympathisierenden Sprachgruppen verlaufen, so verschärfte sich die Kluft zwischen Arbeiterschaft und Bürgertum in den folgenden Jahren mehr und mehr. Die zunehmende Inflation schuf Gewinner und Verlierer. Profiteure waren die Landwirtschaft, teilweise auch die Industrie, die nicht selten für beide kriegführenden Blöcke produzierte. Auf der Verliererseite standen die Lohnabhängigen, denen der Teuerungsausgleich erst spät und keineswegs vollständig gewährt wurde, und die Konsumenten, die unter der zunehmenden Lebensmittelknappheit und dem massiven Ansteigen der Mieten litten. Im letzten Kriegsjahr war mehr als ein Sechstel der Bevölkerung auf Notstandsunterstützungen angewiesen. Auch in der Armee war die Stimmung keineswegs die beste. Die Wehrmänner waren finanziell schlecht abgesichert und litten zudem unter dem preussischen Drill des deutschlandfreundlichen Generals Ulrich Wille. Gegen Kriegsende breitete sich zudem eine Grippeepidemie aus, an der rund die Hälfte der Schweizer Bevölkerung erkrankte und die etwa 22'000 Todesopfer forderte.

Die wachsende soziale Unrast führte in der zweiten Kriegshälfte zu einer Zunahme von Streiks. Hatte es 1916 35 Arbeitsniederlegungen mit 3'330 Beteiligten gegeben, so waren es im folgenden Jahr bereits 140 Streiks, an denen sich 13'459 Arbeiter beteiligten. Im Jahre 1918 streikten dann (ohne den Landesstreik mitzuzählen) 24.382 Personen in 269 Fällen. Seit Sommer 1916 gab es auch Marktdemonstrationen verzweifelter Arbeiterinnen, und in verschiedenen Städten, so in Zürich am 10. Juni 1918, fanden auch eigentliche Hungermärsche von Frauen statt, die die Behörden zum Handeln aufrütteln wollten. Einen Höhepunkt erreichte der soziale Protest 1917 mit den Zürcher Novemberunruhen. Am 15. November ereigneten sich im Anschluss an eine Versammlung zur Feier der eben erfolgten Oktoberrevolution in Russland Aktionen gegen zwei Munitionsfabriken am Stauffacherquai, die von einer etwa Tausendköpfigen Menschenmenge unter Führung des später legendären „Friedensapostels“ Max Daetwyler vorübergehend zur Einstellung der Produktion gezwungen wurden. In den folgenden zwei Tagen ereigneten sich Strassenschlachten zwischen Demonstrierenden, Polizei und Militär, die vier Todesopfer forderten. Im März 1918 plünderten verzweifelte Männer und Frauen in Bellinzona die Milchzentrale und am 8. Juli gleichen Jahres wurde bei einem Hungerkrawall in Biel ein junger Mann von der Ordnungstruppe erschossen.

Zudem radikalisierten sich Teile der schweizerischen Sozialdemokratie. Im September 1915 und im April 1916 fanden unter der Leitung Robert Grimms in Zimmerwald und Kiental internationale Konferenzen von Linkssozialisten statt, die für eine möglichst rasche Beendigung des Krieges plädierten. Bereits im November 1915 stellte sich der Parteitag der SPS hinter die Ziele dieser sogenannten „Zimmerwalder Bewegung“. Der SP-Parteitag von 1917 brachte dann den Antimilitaristen einen entscheidenden Sieg. War im Herbst 1914 der sicherheitspolitische Vorkriegskurs, der zwar eine Verminderung der Militärausgaben verlangte und den Einsatz der Armee gegen Streikende unterbinden wollte, grundsätzlich die militärische Landesverteidigung aber anerkannte, noch bekräftigt worden, so wurde im Juni 1917 mit 222 gegen 77 Stimmen ein vom linken Flügel um Grimm initiierter Antrag gutgeheissen, der die „Verschärfung des grundsätzlichen Kampfes gegen den Militarismus und die ihm Vorspanndienste leistenden nationalistischen und chauvinistischen Bestrebungen“ und die „Bekämpfung der militärischen Institutionen und Ablehnung aller militärischen Pflichten des bürgerlichen Klassenstaates durch die Partei“ postulierte und die sozialdemokratischen Bundesparlamentarier verpflichtete, „unter grundsätzlicher Motivierung alle Militärforderungen und -kredite abzulehnen“. Dieser Kurs war nicht unumstritten, neun SP-Nationalräte distanzierten sich öffentlich davon.

Das Oltener Aktionskomitee

Im Februar 1918 wurde als Bindeglied zwischen der Partei und den Gewerkschaften das Oltener Aktionskomitee gegründet, dessen Präsidium Robert Grimm übernahm. Primäres Ziel des Aktionskomitees war zunächst die Bekämpfung einer vom Bundesrat geplanten Zivildienstpflicht für alle 14 bis 60-jährigen, bald traten indessen andere Themen in den Vordergrund. Im März verabschiedete das Komitee ein Grundsatzpapier über die Kampfmittel. Als der Bundesrat im folgenden Monat den Milchpreis erhöhte, drohte das Komitee zunächst mit dem Generalstreik und rief dann im Juni zu Teuerungsdemonstrationen auf. Erneut wurde im Juli wegen des Bundesbeschlusses über die Unterstellung des Vereins-, Versammlungs- und Demonstrationsrechts unter die Kontrolle der Kantone mit dem Generalstreik gedroht. Daraufhin bildete der Bundesrat am 9. August eine „Landesstreik-Kommission“ als internes Anti-Streik-Organ.

Der Weg in den Landesstreik

Im Herbst 1918, als sich das nahende Ende des Krieges zunehmend abzeichnete, spitzte sich die Situation mehr und mehr zu. Am 30. September trat das Zürcher Bankpersonal für Lohnerhöhungen in den Ausstand. Nachdem sich die Arbeiterschaft mit dieser Forderung solidarisiert und einen lokalen Generalstreik organisiert hatte, endete dieser Arbeitskampf mit einem vollen Erfolg. Am 13. Oktober wurde in einer eidgenössischen Volksabstimmung die vom Bundesrat zur Ablehnung empfohlene Proporzinitiative mit einer Zweidrittelmehrheit angenommen. Damit zeichnete sich das Ende der seit der Gründung des Bundesstaates bestehenden freisinnigen Hegemonie ab. Noch im Herbst 1917 hatte der Freisinn in den letzten Majorzwahlen mit einem Wähleranteil von etwa 40 Prozent die absolute Mehrheit gewonnen, während die Sozialdemokraten zwar über 30 Prozent der Stimmen errangen, jedoch nur etwa 10 Prozent der Mandate zugeteilt erhielten.

Am 29. Oktober rief die SP zu Kundgebungen anlässlich der Jahresfeier der Russischen Revolution auf, worauf General Wille beim Bundesrat unter Verweis auf angebliche linke Putschpläne ein Truppenaufgebot für Zürich beantragte, damit jedoch zunächst abblitzte. Am 5. November ersuchte indessen auch der Zürcher Regierungsrat um Truppenschutz und der Bundesrat ordnete eine militärische Besetzung Zürichs unter dem Kommando Emil Sondereggers an. Sonderegger, später Generalstabschef der Schweizer Armee, dann Waffenhändler im Auftrag der SIG und Anfang der 30er Jahre schliesslich führendes Mitglied mehrerer frontistischer Organisationen, verbot die Zürcher Revolutionsfeier, worauf das Oltener Aktionskomitee für den 9. November in 19 Städten einen 24stündigen Proteststreik organisierte. In Zürich beschloss die Arbeiterunion entgegen den Weisungen des Aktionskomitees einen unbefristeten Generalstreik.

Am 10. November fand auf dem Zürcher Münsterhof trotz des Verbots eine Revolutionsfeier statt, an der sich etwa 7000 Personen beteiligten. Die zur Verhinderung dieses Anlasses aufgebotenen Truppen trugen erstmals kriegsmässig Stahlhelme. Bei Zusammenstössen, deren Auslöser umstritten blieb, gab es einen Toten und mehrere Verletzte. In der Folge sprachen Vertreter des Aktionskomitees beim Bundesrat vor und verlangten den Rückzug der Truppen. Daraufhin wurden die Beziehungen zwischen den beiden Gremien abgebrochen. Am folgenden Tag liess Sonderegger an seine Truppen Handgranaten verteilen und gab den Befehl zum Schusswaffengebrauch gegen widerspenstige Zivilisten. Eine ausserordentliche Session der Bundesversammlung trat zusammen, der Bundesrat erliess ein neues Truppenaufgebot und unterstellte das Bundespersonal der Militärgesetzgebung. Das Oltener Aktionskomitee proklamierte daraufhin den Landesgeneralstreik.

Der 11. November 1918 war nicht nur in der Schweiz ein dramatischer Tag. In zwei Nachbarstaaten spielten sich zeitgleich noch weit revolutionärere Ereignisse ab. In Deutschland hatten am 29. Oktober, nachdem die Niederlage der Mittelmächte bereits klar war, Matrosen der Hochseeflotte in Kiel und Wilhelmshaven den Gehorsam verweigert, um ihr Leben nicht bei einem sinnlosen letzten Gefecht gegen britische Verbände zur Ehrenrettung des kaiserlichen Marineoffizierskorps aufs Spiel setzen zu müssen. Bis zum 10. November bildeten sich praktisch in allen grösseren Städten revolutionäre Arbeiter- und Soldatenräte, welche die städtischen Verwaltungen übernahmen. Am Morgen des 9. Novembers erreichte die Revolution auch die Reichshauptstadt. Reichskanzler Prinz Max von Baden erklärte eigenmächtig den Rücktritt des Kaisers und übergab die Regierungsgeschäfte dem SPD-Vorsitzenden Friedrich Ebert. Dieser wollte die Revolution in geordnete Bahnen lenken und die Frage der Staatsform einer demokratisch gewählten Konstituante überlassen. Um 14 Uhr rief aber Philipp Scheidemann, ein anderer führender Exponent der SPD, vom Balkon des Reichstags aus die Republik aus und zwei Stunden später proklamierte der Spartakist Karl Liebknecht die „freie sozialistische Republik“. Am folgenden Tag verliess Wilhelm II. das Land und als neue Regierung konstituierte sich der sozialdemokratische „Rat der Volksbeauftragten“. Am 11. November wurde in Compiègne der Waffenstillstand mit den Westmächten unterzeichnet.

Parallel dazu löste sich auch die Donaumonarchie auf. Noch am 17. Oktober hatte Kaiser Karl I. in der Hoffnung, seinen Thron zu retten, in einem „Völkermanifest“ für die Zukunft einen föderativen Staatsaufbau versprochen. Vier Tage darauf kam es aber in Wien zur Revolution und zur Eröffnung einer deutsch-österreichischen Nationalversammlung. Eine Woche später wurde die Unabhängigkeit der Tschechoslowakischen Republik proklamiert und am 1. November bildete sich auch eine selbständige ungarische Regierung. In Zagreb kam ein südslawischer Kongress zusammen und wenige Wochen darauf wurde das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen, das zukünftige Jugoslawien, gegründet. Am 11. November verzichtete Kaiser Karl auf jeden Anspruch an der Regierung; das alte Österreich hatte zu existieren aufgehört.

Streikverlauf

Truppen auf dem Waisenhausplatz während des Landesstreiks
Kavallerie auf dem Paradeplatz Zürich während des Landesstreiks im November 1918
Wachmannschaft im Bundeshaus während des Landesstreiks
Verladen der Bahnpost durch Soldaten während des Landesstreiks

Demgegenüber erschien der Forderungskatalog, den das Oltener Aktionskomitee nun für die Schweiz präsentierte, wenig revolutionär:

  1. Neuwahl des Nationalrates nach dem Proporzsystem
  2. Frauenstimmrecht
  3. Einführung einer Arbeitspflicht
  4. Beschränkung der Wochenarbeitszeit (48-Stunden-Woche)
  5. Reorganisation der Armee zu einem Volksheer
  6. Ausbau der Lebensmittelversorgung
  7. Alters- und Invalidenversicherung
  8. Staatsmonopole für Import und Export
  9. Tilgung der Staatsschulden durch die Besitzenden

Für diese Anliegen traten landesweit etwa eine Viertelmillion Männer und Frauen in den Ausstand.

Am 12. November wurden 95.000 Mann Ordnungstruppen aufgeboten, davon 20.000 für Zürich und 12.000 für Bern. Die Einheiten kamen ausnahmslos aus „zuverlässigen“ ländlichen Gebieten und aus der Westschweiz. In vielen Ortschaften bildeten sich zudem Bürgerwehren. Die Truppen zeigten grosse Präsenz auf den Strassen, bewachten strategisch wichtige Gebäude und den Eisenbahnverkehr. Das Bundeshaus wurde militärisch besetzt. Auch unterstützten die Ordnungstruppen nicht nur die Post, sondern auch den Notbetrieb der bürgerlichen Zeitungen. An den meisten Orten verlief der Streik relativ ruhig, zu Unruhen kam es in der Regel nur nach Aufmärschen des Militärs. In Grenchen erschossen die Ordnungstruppen dagegen am 14. November drei Streikende, nachdem der Streik bereits abgebrochen worden war.

An der ausserordentlichen Session der Bundesversammlung stellte der freisinnige Bundespräsident Felix Calonder am 12. November eine Regierungsbeteiligung der SP in Aussicht, lehnte aber Verhandlungen mit dem Oltener Aktionskomitee ab und wandte sich in seiner Rede scharf gegen den angeblichen „bolschewistischen Terror“ und die „skrupellosen Hetzer“. Am folgenden Tag erliess die Landesregierung an die Streikleitung ein Ultimatum. Daraufhin beschloss das Aktionskomitee gegen eine Minderheit um Robert Grimm den Streikabbruch für den 14. November. Der Nachrichtendienst der Armee hatte an der entscheidenden Sitzung einen Spitzel eingeschleust, der die Nachricht unter der Chiffre der „Käse würde billiger“ sofort weiterleitete. Für den Fall einer Fortsetzung des Streiks wären neue Truppenaufgebote und die Verhaftung der Streikführung geplant gewesen. Am Freitag, 15. November, wurde fast überall wieder gearbeitet. Nur in Zürich streikten die Holz- und Metallarbeiter bis zum Wochenende weiter. Am 16. November fand in Zürich in Anwesenheit von General Wille ein grosses Defilee der Ordnungstruppen statt.

Die Frage ausländischer Einflüsse

Die Frage ausländischer Einflüsse auf den Landesstreik war schon zeitgenössisch umstritten. Diskutiert wurde insbesondere die Rolle der vom baltischen Revolutionär Jan A. Berzin geleiteten Sowjetmission, die sich als eine Art inoffizielle Botschaft der neuen russischen Regierung im Mai 1918 in Bern installiert hatte und von den Schweizer Behörden zunächst geduldet wurde. Am 6. November, also noch vor dem Beginn des Landesstreiks, beschloss der Bundesrat auf Druck der Siegermächte des Weltkriegs die Ausweisung der Mission und am 12. November wurden ihre Mitglieder in einer Nacht-und-Nebel-Aktion abgeschoben. Entgegen der zeitgenössischen Verschwörungstheorien, die in der bürgerlichen Erinnerungskultur noch lange Zeit populär bleiben sollten,[3][4] lässt sich eine direkte Beteiligung der Sowjetmission an der Streikvorbereitung indessen weder aus schweizerischen noch aus russischen Akten belegen.[5]

In der Westschweiz vermutete die bürgerliche Presse zudem deutsche Revolutionäre als Drahtzieher, die angeblich durch Unruhen in der Schweiz in Kontinuität zum Wilhelminischen Reich Frankreich zu schaden versuchten. Ferner zirkulierten Anfang November in Bern auch Gerüchte über Interventionsabsichten der Westmächte für den Fall revolutionärer Unruhen in der Schweiz. Auch hier geben die Quellen aber keine Hinweise auf konkrete Planungen.

Folgen

Nach dem Streikabbruch leitete die Militärjustiz gegen 3.504 Personen, vor allem Eisenbahner, Strafverfahren ein, die zu 127 Verurteilungen führten. Im März 1919 fand dann der Landesstreikprozess gegen 21 Mitglieder der Streikleitung statt. Gegenstand des Prozesses war nicht der Streik an sich, sondern die Streikproklamation, die als Aufforderung zur Meuterei interpretiert werden konnte. Das Divisionsgericht III verurteilte die Angeklagten Robert Grimm, Fritz Platten und Friedrich Schneider zu je sechs Monaten und Ernst Nobs, von 1943 bis 1951 dann erster SP-Bundesrat, zu vier Wochen Gefängnis. Die restlichen Angeklagten wurden freigesprochen.

Die Jahre unmittelbar nach dem Landesstreik brachten eine Spaltung der Linken, eine Radikalisierung der Rechten und eine generelle politisch-gesellschaftliche Polarisierung der Schweiz. Im Jahre 1921 spaltete sich der linke Flügel definitiv von der SP ab und konstituierte sich als Kommunistische Partei. Während die SP-Basis den Beitritt zur neu gegründeten Dritten Internationale abgelehnt hatte, nachdem deren starke Abhängigkeit von Moskau deutlich geworden war, vollzog die neue KPS nun genau diesen Schritt. Nationalrat Fritz Platten, einer der Führer des Landesstreiks, wurde Sekretär der neuen Partei. Im Jahre 1923 emigrierte er gar in die Sowjetunion zur Gründung einer Landwirtschaftskommune. Er geriet in den 30er Jahren in den Strudel der stalinistischen Säuberungen endete durch Erschiessung in einem Arbeitslager. Die grosse Mehrheit der Mitglieder und Wähler hielt dagegen der SP die Treue, die in der Folgezeit in einigen Städten die Regierungsmehrheit übernahm und auch in verschiedene Kantonsregierungen einzog, jedoch entgegen der bürgerlichen Versprechungen während des Landesstreiks noch bis zum Zweiten Weltkrieg als wählerstärkste Partei keine Vertretung im Bundesrat zugestanden erhielt.

Auf der rechten Seite kam es zu einem noch engeren Zusammenschluss des „Bürgerblocks“ und zu einer Radikalisierung. Die während des Landesstreiks entstandenen Bürgerwehren wurden, teilweise mit finanzieller Unterstützung von Grosskonzernen, ausgebaut. Mit dem „Schweizerischen Vaterländischen Verband“ entstand 1919 eine rechtsbürgerliche Kampforganisation, die nicht nur – in Zusammenarbeit mit dem EMD – eine Streikabwehr in lebensnotwendigen Betrieben organisierte und einen Nachrichtendienst zur Bespitzelung linker Organisationen unterhielt, sondern auch darum bemüht war, bei Wahlen und Abstimmungen die bürgerlichen Kräfte gegen die Arbeiterbewegung zu koordinieren. Generell war die schweizerische Gesellschaft nach 1918 tief gespalten. Dies manifestierte sich etwa in der raschen Vermehrung eigenständiger Arbeiterkultur- und -freizeitorganisationen und der Konsolidierung des Arbeitermilieus als abgegrenzte Subkultur. Erst in der zweiten Hälfte der 30er Jahre kam es im Zeichen der „Geistigen Landesverteidigung“ wieder zu einer wenigstens teilweisen Annäherung zwischen Sozialdemokratie und Bürgertum.

Die Generalstreikforderungen blieben Ende 1918 im Raum stehen und erlebten in der Folge unterschiedliche Schicksale. Während einige bis heute nicht verwirklicht sind – etwa die Tilgung der Staatsschulden durch die Besitzenden – wurden andere relativ rasch realisiert. Die Neuwahl des Nationalrates nach dem Proporzwahlrecht erfolgte im Herbst 1919. Dabei konnte die SP ihre Mandatszahl beinahe verdoppeln, während der Freisinn seine absolute Mehrheit einbüsste. Die 48-Stunden-Woche wurde auf Anfang 1920 verwirklicht. Dies bedeutete teilweise massive Arbeitszeitverkürzungen ohne Lohneinbusse. Die AHV wurde im Jahre 1925 in die Verfassung aufgenommen, bis zu ihrer tatsächlichen Einführung sollten aber noch mehr als zwei Jahrzehnte vergehen. Noch länger dauerte es bis zur Realisierung des Frauenwahlrechtes. Während etwa in Deutschland und Österreich dieser Schritt unmittelbar nach den Umstürzen im November 1918 gewagt wurde, liess man sich in der Schweiz dazu noch bis ins Jahr 1971 Zeit.

In Olten wurde am 11. November 2008, zum 90. Jahrestag des Landesstreiks, das erste Denkmal eingeweiht, das an den Landesstreik erinnert. Am 18. November 2008 wurde in Grenchen mit einer Gedenktafel der 3 erschossenen Männer gedacht.

Literatur

  • Paul Schmid-Ammann: Die Wahrheit über den Generalstreik von 1918: seine Ursachen, sein Verlauf, seine Folgen. Zürich: Morgarten 1968.
  • Der Landesstreik-Prozeß gegen die Mitglieder des Oltener Aktionskomitees vor dem Militärgericht III vom 12. März bis 9. April 1919. Mit Vorwort von Robert Grimm. 2 Bände. Bern: Unionsdruckerei 1919.
  • Fritz Brupbacher: Zürich während Krieg und Landesstreik. Zürich: Unionsdruckerei 1928.
  • Martin Disteli: Schweizer Klassenkämpfe: Reformation, Bauernkrieg, Bürgerliche Revolution, Landesstreik. Zürich: Unions-Verlag 1976.
  • Willi Gautschi: Der Landesstreik 1918. 3., durchgesehene Auflage. Chronos, Zürich 1988, ISBN 3-905278-34-0.
  • René Dubach: Strizzis, Krakeeler und Panduren: Aktivitäten des Staatsschutzes vom Landesstreik bis zum roten Zürich. Dissertation Universität Zürich, 1996.
  • Fritz Marbach: Der Generalstreik 1918: Fakten, Impressionen, Illusionen. Bern 1969.
  • Marc Vuilleumier et al. (Hg.): La Grève générale de 1918 en Suisse. Genf 1977.
  • Christian Koller: Streikkultur: Performanzen und Diskurse des Arbeitskampfes im schweizerisch-österreichischen Vergleich (1860–1950) (= Österreichische Kulturforschung, Bd. 9). Münster/Wien: Lit-Verlag 2009.
  • Christian Koller: La grève comme phénomène »anti-suisse«: Xénophobie et théories du complot dans les discours anti-grévistes (19e et 20e siècles), in: Cahiers d'histoire du mouvement ouvrier 28 (2012). S. 25-46.
  • Hans Hirter: Die Streiks in der Schweiz in den Jahren 1880–1914: Quantitative Streikanalyse, in: ders. et al. (Hg.): Arbeiterschaft und Wirtschaft in der Schweiz 1880–1914: Soziale Lage, Organisation und Kämpfe von Arbeitern und Unternehmern, politische Organisationen und Sozialpolitik, Bd. II/2. Zürich 1988. S. 837-1008.
  • Daniel M. Frey: Vor der Revolution? Ordnungsdienst–Einsatz der Armee während des Landesstreiks in Zürich. Zürich 1998.
  • Bernard Degen et al. (Hg.): Robert Grimm: Marxist, Kämpfer, Politiker. Zürich 2012.
  • Adrian Zimmermann: Die Niederlande und die Schweiz im November 1918, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 63 (2013). S. 453-478.

Weblinks

Commons: Landesstreik (Switzerland, 1918) – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. Robert Grimm: Der politische Massenstreik. Basel 1906
  2. Christian Koller: Wetterleuchten des Umsturzes – Die russische Revolution von 1905 und die Massenstreikdebatte in der internationalen Arbeiterbewegung, in: Rote Revue 83/4 (2005). S. 38-42.
  3. Bruno Jaeggi et al.: Die Rote Pest: Antikommunismus in der Schweiz, in: Film – Kritisches Filmmagazin 1 (1975). S. 49-86.
  4. Dorothea Zimmermann: Den Landesstreik erinnern: Antikommunistische Aktivitäten des Schweizerischen Vaterländischen Verbandes 1919–1948, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 63 (2013). S. 479-504.
  5. Peter Collmer: Zwischen Selbstdefinition und internationaler Behauptung: Frühe bolschewistische Diplomatie am Beispiel der Sowjetmission in Bern (Mai bis November 1918), in: Thomas, Ludmilla und Victor Knoll (Hg.): Zwischen Tradition und Revolution: Determinanten und Strukturen sowjetischer Aussenpolitik 1917–1941. Stuttgart 2000. S. 225-283.