Olivier Grenouilleau

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Olivier Grenouilleau (* 20. April 1962 in Rumilly (Haute-Savoie)) ist ein französischer Historiker, zunächst an der Universität der Südbretagne und seit 2007 am Institut d’études politiques de Paris („Sciences Po“). Sein Forschungsschwerpunkt ist seit 1990 der Sklavenhandel, insbesondere die Bedeutung von Nantes für den transatlantischen Sklavenhandel.[1]

Leben und Wirken[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Familie[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Grenouilleaus Vater war Postbote, seine Mutter arbeitete in einer Keksfabrik. Die Familie lebte mit drei Kindern in der Banlieue von Nantes. Grenouilleau ist verheiratet und Vater von zwei Kindern.

Akademische Laufbahn[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Nach zehn Jahren Unterrichtstätigkeit an Collèges und Lycées erhielt Grenouilleau 1988 die Agrégation für das Fach Geschichte.[2] Nachdem er im Fach Geschichte 1994 mit einer Arbeit über die Sklavenhändler der Stadt Nantes promoviert hatte, wurde er an der Université de Bretagne-Sud 1995 zunächst Maître de conférences, 1999 dann Professor. Im Mai 2007 wurde Grenouilleau als Nachfolger von Jean-Pierre Azéma auf eine Professur für Geschichte am Institut d’études politiques de Paris berufen. 2009 wurde er als Mitglied der Gruppe Geschichte und Geographie der staatlichen Aufsichtsbehörde Inspection générale de l'Éducation, du sport et de la recherche (IGEN) berufen. Am 25. Mai 2018 wurde er als ordentliches Mitglied in die Académie des Sciences d’Outre-Mer gewählt.[3] Für seine Veröffentlichungen wurde Grenouilleau mehrfach ausgezeichnet.

L’Argent de la traite[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Grenouilleaus akademische Karriere begann 1994 mit einer Forschungsarbeit (thèse) über das Handelsmilieu seines Studienortes Nantes in der Zeit zwischen 1750 und 1914. Trotz der Vorbehalte der Nachkommen gelang es ihm, eine sehr große Zahl von bisher nicht veröffentlichten Dokumenten aus 26 Familien- und Handelsarchiven einzusehen und auszuwerten, einschließlich Broschüren, Familiengeschichten und anderen Werken aus der Feder von Vorfahren. Betriebswirtschaftliche und buchhalterische Aufzeichnungen wurden nicht ausgewertet, da sich der Verfasser bevorzugt mit den Menschen und Mentalitäten befassen wollte.

Der erste Teil der Studie behandelt die Periode der Gründergeneration der untersuchten Händlerdynastien von 1750 bis 1789. Grenouilleau zeigt, dass die Kultur des Aufklärungszeitalters wenig Widerhall in diesem Händlermilieu gefunden hatte. Im zweiten Teil über die Entwicklung des Nanteser Handels zwischen der Französischen Revolution und 1840 zeigt Grenouilleau den Widerstand des Milieus gegen die teilweise Zerstörung des kolonialen Systems, vor allem mittels illegaler Handelsaktivitäten. Während der dritten Periode (1840-1914) erweist sich eine große Anpassungsfähigkeit der Nachfolgegenerationen, die sich schließlich auf die Konservenindustrie und zuletzt auf die Immobilienspekulation in Seebädern konzentrierten, wobei sie in den Jahren 1881 und 1893 stark von staatlicher Förderung profitierten, ohne jedoch im heraufziehenden Industriezeitalter größere wirtschaftliche Erfolge erzielen zu können. Sie erhielten sich jedoch gleichwohl einen beträchtlichen politischen Einfluss.

Als die Studie zwei Jahre nach ihrer Annahme durch die Universität als Buch veröffentlicht wurde, wurde sie trotz ihrer Konzentration auf einen umschriebenen Kreis von Familien kritisiert, weil sie weder Fußnoten, noch ein Literaturverzeichnis noch einen Register enthielt. Auch der Titel wurde als irreführend kritisiert, weil er sich nicht allgemein auf den Handel (la traite) bezog, sondern ausschließlich auf die Händler einer einzigen Stadt in einer umschriebenen Periode.[4]

Les Traites négrières[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Von 1999 bis 2004 wurde Grenouilleau als Juniormitglied an das Institut universitaire de France (IUF) berufen.[5] Das ermöglichte es ihm, Les Traites négrières. Essai d'histoire globale als Übersichtsarbeit zu verfassen mit dem Ziel, französische Leser mit den bereits zahlreich vorhandenen Arbeiten britischer und US-amerikanischer Historiker zum Thema Sklavenhandel bekannt zu machen und den Handel mit schwarzafrikanischen Sklaven in einen globalen Zusammenhang mit drei regionalen Schwerpunkten zu stellen:

Ein Interview und sein mediales Echo[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Im September 2005, ein Jahr nach der Veröffentlichung von Les Traites négrières geriet Grenouilleau ins Zentrum medialer Aufmerksamkeit („l'affaire Olivier Grenouilleau“). In einem Interview zu Les Traites négrières mit der Wochenzeitung Le Journal du Dimanche am 12. Juni 2005[6] hatte er seine Auffassung bekräftigt, dass der Sklavenhandel nicht die Merkmale eines Völkermords aufgewiesen habe, da die Händler im Wesentlichen aus wirtschaftlichen Gründen an den Sklaven als „Ware“ interessiert gewesen seien und es nicht in ihrem Interesse gewesen sei, diese „Ware“ zu vernichten. Bezüglich der Auseinandersetzung um die Zahl der gehandelten Sklaven auf den verschiedenen Handelsrouten verwies er darauf, dass der verabscheuungswürdige Charakter des Sklavenhandels nicht von der Zahl der gehandelten Sklaven abhänge. Dass der orientalische Sklavenhandel (nach Nordafrika und in den Mittleren Osten) mehr Menschen betroffen habe, berechtige nicht dazu, den Handel nach Europa und Amerika herunterzuspielen. Andererseits überrasche es ihn, dass mancherorts mit Entrüstung reagiert werde, wenn er es wage, den nicht-westlichen Sklavenhandel überhaupt zum Thema zu machen. Schließlich seien alle Opfer zu würdigen und er könne keinen Grund erkennen, warum manche verschwiegen werden sollten. Der transatlantische Sklavenhandel sei zahlenmäßig der weniger bedeutende: 11 Millionen Sklaven seien zwischen 1450 und 1869 von Afrika nach Nord- und Südamerika oder in die Karibik eingeschifft worden und 9,6 Millionen seien letztlich dort eingetroffen. Der orientalische Sklavenhandel (den er nicht muslimisch nennen wolle, weil es im Koran keine Vorurteile hinsichtlich Rasse oder Hautfarbe gebe) habe zwischen 650 und 1920 etwa 17 Millionen Schwarzafrikaner betroffen. Bezüglich des innerafrikanischen Sklavenhandels verwies er auf Schätzungen des US-amerikanischen Wirtschaftshistorikers Patrick Manning,[7] nach denen dieser etwa 50 % aller aus Subsahara-Afrika verschleppten Menschen umfasste, tendenziell eher noch mehr. Nach Angaben des Wirtschaftshistorikers Martin A. Klein[Anm 1] habe es um 1900 alleine im damaligen Französisch-Westafrika noch etwa 7 Millionsen Sklaven gegeben. Da sei es wohl nicht übertrieben, für den gesamten afrikanischen Kontinent und über einen Zeitraum von 13 Jahrhunderten von einer Zahl von über 14 Millionen Sklaven auszugehen.

In Reaktion auf dieses Interview beschuldigte der Schriftsteller Claude Ribbe Grenouilleau in einem Brief vom 13. Juni 2005, „von Rassismus verblendet zu sein“. Am gleichen Tag erstattete eine Gruppe von Bürgern französischer Übersee-Départements (aus Guyana, Réunion und von den Antillen) Anzeige gegen Grenouilleau wegen Leugnung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit nach dem Loi nº 2001-434 du 21 mai 2001 (dem sog. „Loi Taubira“, benannt nach Christiane Taubira, der späteren französischen Justizministerin von 2012-2016), das den Sklavenhandel als Verbrechen gegen die Menschlichkeit anerkennt. Die Kläger forderten, Grenouilleau wegen Geschichtsrevisionismus seiner universitären Ämter zu entheben. Die Klage wurde im Februar 2006 angesichts der ungünstigen Aufnahme der Klage von seiten der Medien und durch manche Wissenschaftler zurückgezogen.[8]

Unterstützung erhielt Grenouilleau durch eine öffentliche Stellungnahme von neunzehn namhaften französischen Historikern und etwa 600 weiteren Hochschullehrern und -forschern,[9] in der die „Freiheit wissenschaftlicher Forschung“ («liberté de la recherche scientifique») gefordert wird.

Wissenschaftliche Kritik[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die Historikerin und Afrikanistin Catherine Coquery-Vidrovitch kritisierte Les Traites négrières 2009 wegen der unkritischen Verwendung von Zahlenangaben zum arabischen und innerafrikanischen Sklavenhandel.[10]

Sonstige Werke[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Auf der Grundlage seiner Vorarbeiten zu Les Traites négrières veröffentlichte Pétré-Grenouilleau 2018 Quand les Européens découvraient l’Afrique intérieure („Als die Europäer das Innere Afrikas entdeckten“). Dieses Werk umfasst im Wesentlichen eine Bibliographie und eine Analyse von Reiseberichten aus dem Westafrika der Zeit zwischen 1795 und 1830, wie sie von Reisenden aus England (Gray, Dochard, Richard und John Lander), Schottland (Park, Clapperton, Laing) und Frankreich (Caillié, Mollien) verfasst wurden.

Pétré-Grenouilleau versucht zusammenfassend eine Bewertung der veröffentlichten Reiseberichte gemäß dem Einfühlungsvermögen der verschiedenen Reisenden. Er unterscheidet die Pioniere, die ganz oder fast vollständig auf sich alleine gestellt reisten (Mollien und vor allem Caillié) von denen, die sich auf Unterstützung aus ihren Herkunftsländern und durch eine oft vielköpfige Eskorte stützen konnten. Die von dem früheren englischen Offizier Hugh Clapperton und vor allem die später von ehemaligen seinem Diener Richard Lander, der mit seinem Bruder John die bereits mit Clapperton besuchten Gegenden nochmals bereiste, gesammelten und veröffentlichten Informationen[11] enthielten demnach keine Aussagen über wirtschaftliche Werte und keinerlei Aufforderung zu irgendeiner Form von Kolonisation im modernen Sinne. Während die Beschreibungen der britischen Offiziere Gray, Dochard, Laing und Clapperton durch eine abolitionistische Sichtweise geprägt waren, äußerten sich die Franzosen Mollien und Caillié zum Thema Sklaverei eher neutral und ohne vorgefasste Meinung. Der Bericht von Richard Lander dagegen übernahm die Vorurteile des zurückliegenden Sklavenzeitalters, insbesondere die seiner Eltern.

Publikationen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Unter dem Namen Olivier Pétré-Grenouilleau[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Moi, Joseph Mosneron, armateur négrier nantais (1748-1833). Portrait culturel d’une bourgeoisie négociante au siècle des Lumières, Éditions Apogée, Rennes 1995. ISBN 2-909275-60-4
  • L’Argent de la traite. Milieu négrier, capitalisme et développement. Un modèle (Nachdruck der Promotionsarbeit). Aubier, Paris 1996. ISBN 2-7007-2279-5
  • La Traite des Noirs. P.U.F., Paris, 1997 (Que sais-je ?). ISBN 2-13-048415-8
  • Les Négoces maritimes français, XVIIe-XXe siècle. Belin, Paris 1997. ISBN 2-7011-2164-7
  • Nantes au temps de la traite des Noirs. Hachette, Paris 1998. ISBN 2-01-235287-1
  • La Démocratie aux États-Unis et en Europe de 1918 à 1989. Bréal, Paris 2000. ISBN 2-84291-480-5
  • Saint-Simon (1760-1825). L’utopie ou la raison en actes. Payot, Paris 2001. ISBN 978-2-228-89433-3
  • (Hrsg.): From Slave Trade to Empire. Europe and the Colonisation of Black Africa (1780s-1880s). Routledge, New York 2004 (Routledge Studies in Modern European History). ISBN 978-1-138-87014-7
  • Nantes. Éditions Palantines, Plomelin 2003. ISBN 2-911434-29-3
  • Les Traites négrières. Essai d’histoire globale, Gallimard, Paris 2004. ISBN 2-07-073499-4
  • zusammen mit Pieter C. Emmer/Jessica V. Roitman (Hrsg.): A Deus ex Machina Revisited. Colonial Trade and European Economic Development (1500-1940). Brill Academic Publishers, Leiden 2005. ISBN 978-90-04-15102-4
  • Abolir l'esclavage. Un réformisme à l'épreuve (France, Portugal, Suisse, XVIIIe-XIXe siècles). Presses universitaires de Rennes, Rennes 2008. ISBN 978-2-7535-0664-0
  • (Hrsg.): Dictionnaire des esclavages, Éditions Larousse, Paris 2010. ISBN 978-2-03-583785-1
  • Qu'est-ce que l'esclavage? Une histoire globale. Gallimard, Paris 2014. ISBN 978-2-07-078617-6

Unter dem Namen Olivier Grenouilleau[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Et le marché devint roi : Essai sur l'éthique du capitalisme. Flammarion, Paris 2013. ISBN 978-2-08-129001-3
  • Qu'est-ce que l'esclavage? Une histoire globale. Gallimard, Paris 2014 ISBN 978-2-07-078617-6[12]
  • Quand les Européens découvraient l'Afrique intérieure. Afrique occidentale, vers 1795-1830, Tallandier, Paris 2017. ISBN 979-10-210-0335-4
  • La révolution abolitionniste. Gallimard, Paris 2017. ISBN 978-2-07-014756-4
  • Nos petites patries. Identités régionales et État central en France, des origines à nos jours. Gallimard, Paris 2019 ISBN 978-2-07-276378-6
  • Fortunes de mer, sirènes coloniales. Économie maritime, colonies et développement: la France, vers 1660-1914. CNRS Èditions, Paris 2019. ISBN 978-2-271-12521-7
  • Christianisme et esclavage. Gallimard, Paris 2021. ISBN 978-2-07-286850-4

Auszeichnungen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Anmerkungen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. amerikanisch-kanadischer Historiker und Afrikanist, emeritierter Professor der University of Toronto

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Julie Clarini: Olivier Grenouilleau, l'artisan historien. Ce chercheur entend écrire l’histoire de l’esclavage, sa spécialité, «honnêtement et sérieusement». Même si son objet, très politique, lui a valu de se trouver, à son corps défendant, au centre de violentes polémiques. Le Monde, 3. Juli 2014 (zuletzt aufgerufen am 24. November 2022)
  2. Le Monde, 3. August 1988: CONCOURS Agrégation (zuletzt aufgerufen am 14. November 2022)
  3. Académie des Sciences dʼOutre-mer (zuletzt aufgerufen am 14. November 2022)
  4. Guillaume Daudin: Olivier Pétré-Grenouilleau, L'Argent de la traite. Milieu négrier, capitalisme et développement : un modèle, Editions Aubier, 1996, Rezension in Revue d’histoire moderne & contemporaine, 2005/5 (n° 52-4bis), S. 112
  5. Homepage des IUF: Olivier PéTRé-GRENOUILLEAU (zuletzt aufgerufen am 18. November 2022)
  6. Christian Sauvage: Un prix pour "Les traites négrières". Interview mit Olivier Pétré-Grenouilleau. Journal du dimanche, n° 3049, 12. Juni 2005
  7. Patrick Manning, US-amerikanischer Historiker; 1993–96 Distinguished Professor of History and African American Studies und 1997–2004 Direktor des the World History Center an der Northeastern University, Boston; 2006–2016 Andrew W. Mellon Professor of World History und 2008–2015 Direktor des World History Center an der University of Pittsburgh; 2016 Präsident der American Historical Association
  8. Jean-Baptiste de Montvalon: Le collectif DOM retire sa plainte contre un historien de l'esclavage, Le Monde, 4. Februar 2006; Antoine de Baecque: Il s'est fait traiter. Libération am 15. März 2006 (zuletzt aufgerufen am 24. November 2022)
  9. Liberté pour l'histoire. Une pétition pour l'abrogation des articles de loi contraignant la recherche et l'enseignement de cette discipline. Libération, 13. Dezember 2005 (zuletzt aufgerufen am 24. November 2022)
  10. Catherine Coquery-Vidrovitch: Enjeux politiques de l'histoire coloniale. Agone, Marseille 2009. ISBN 978-2-7489-0105-4. S. 123–124
  11. « Voyage des frères Lander aux Bouches du Niger ou Kouârâ » (zuletzt aufgerufen am 17. November 2022) in der Revue des Deux Mondes, période initiale, tome 6, 1832 (S. 228-239)
  12. Samuel Lempereur, « Olivier Pétré-Grenouilleau, Qu’est-ce que l’esclavage ? Une histoire globale », L'Homme. Revue française d'anthropologie, 225, 2018, 204-207.
  13. Académie des sciences dʼoutre-mer (zuletzt aufgerufen am 16. November 2022)
  14. 2018 Guizot-Institut de France Prize (zuletzt aufgerufen am 15. November 2022)
  15. Académie des sciences d'outre-mer (zuletzt aufgerufen am 16. November 2022)
  16. Académie des sciences morales et politiques (zuletzt aufgerufen am 16. November 2022)
  17. Homepage der Académie française (zuletzt aufgerufen am 16. November 2022)
  18. Homepage des Senats (zuletzt aufgerufen am 16. November 2022)
  19. Conseil départemental des Hauts-de-Seine (zuletzt aufgerufen am 16. November 2022)