Sexuelle Selbstbestimmung

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Dies ist eine alte Version dieser Seite, zuletzt bearbeitet am 12. Juli 2016 um 22:05 Uhr durch GünniX (Diskussion | Beiträge) (Klammern korrigiert). Sie kann sich erheblich von der aktuellen Version unterscheiden.
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Sexuelle Selbstbestimmung als Rechtsgut bedeutet, dass jeder das Recht hat, über seine Sexualität frei zu bestimmen und vor Übergriffen oder Sexualdelikten Schutz zu finden (Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung). In der Schweiz wird die Bezeichnung Sexuelle Integrität (Straftaten gegen die sexuelle Integrität) verwendet, und in Österreich finden sich beide Begriffe (Strafbare Handlungen gegen die sexuelle Integrität und Selbstbestimmung). Daneben bezeichnet der Begriff eine Wertvorstellung, an deren Entwicklung zunächst maßgeblich die Frauenbewegung, später Menschenrechtsorganisationen und anschließend die Lesben- und Schwulenbewegung beigetragen haben. In der Bundesrepublik Deutschland wird das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung durch die Auslegung des GG, Art. 1, abgeleitet und schlägt sich in der Großen Strafrechtsreform vom 23. November 1973 beispielsweise in der Entkriminalisierung von Homosexualität oder vor- und außerehelichem Geschlechtsverkehr, aber auch in entscheidenden späteren Gesetzesänderungen wie der Strafbarkeit von Vergewaltigung in der Ehe nieder.[1]

Sexuelle Selbstbestimmung schließt neben der Freiheit vor Übergriffen verbaler, nonverbaler und körperlicher Art sowohl die sexuelle Orientierung als auch die freie Wahl der (erwachsenen) Sexualpartner ein. Auf die Geschlechtsidentität bezogen, kann sie sich als (Transgender, Intersexualität, Cisgender) realisieren und in der Form der (sexuellen) Beziehungsgestaltung variieren.

Geschichte

Haltung der Religionen

Ein weitgehendes Recht auf Selbstbestimmung entstand erst im Lauf der Geschichte und mit der Lockerung religiös begründeter Vorschriften zur Sexualethik und ist selbst in westlichen Gesellschaften noch nicht vollständig durchgesetzt. Zum Beispiel erlaubte das Alte Testament im 5. Buch Mose (5 Mos 22,21 EU), dass eine Frau, die bei der Eheschließung nicht mehr Jungfrau war, auf Verlangen ihres Ehemannes gesteinigt werden konnte.

In manchen Gebieten mit islamischer Rechtsordnung (Schari'a) werden noch heute außerehelicher Geschlechtsverkehr (Ehebruch) oder Homosexualität als Unzucht mit dem Tod bestraft. Seit längerer Zeit werden auch in ganz Europa sogenannte „Ehrenmorde“ von Immigranten meist islamischer Herkunft unter Missachtung der jeweiligen Rechtsordnung verübt, obwohl die Selbstjustiz im Islam als verboten gilt.

Nationalsozialismus

Homosexuelle Menschen wurden im Dritten Reich diskriminiert, verfolgt und mit Gefangenschaft im Konzentrationslager bedroht, die in der Mehrzahl der Fälle mit dem Tod endete. Auch Frauen und Mädchen mit promiskem Verhalten wurden als sexuell verwahrlost in Frauenkonzentrationslager verschleppt.

„Erbgesunde deutsche Frauen“ sollten viele Kinder gebären. Abtreibungen waren bei ihnen verboten, 1933 wurden Abtreibungsmittel verboten und 1943 wurde das Strafmaß verschärft. Auch wurde der Zugang zu Verhütungsmitteln erschwert und für rassisch „wertvolle“ unverheiratete Frauen mit Kindern, meist von SS-Männern, gab es ab 1935 mit Lebensborn die Hilfe, ihre Kinder auszutragen. Ja, verheiratete Mitglieder der SS wurden geradezu aufgefordert, ihrer „völkischen Verpflichtung“ nachzukommen und auch außerehelichen Kontakt mit hoch gewachsenen blonden „arischen“ Frauen zu pflegen, um erbgesunde Kinder zu zeugen. Auf der anderen Seite wurde im Juli 1933 in bestimmten Fällen eine Sterilisation unter Aufsicht der Behörden gefördert und mit einer Änderung 1935 waren in diesen Fällen auch Abtreibungen möglich. Mit den Nürnberger Gesetzen war die Eheschließung und der außereheliche Geschlechtsverkehr zwischen Juden und Nichtjuden verboten, später wurde dies auf andere, als „minderwertig“ erachtete Personengruppen (Fremdvölkische) ausgedehnt. Mit der Straferhöhung für Abtreibung wurde gleichzeitig die Abtreibung bei Personen „nichtdeutscher Volkszugehörigkeit“ straffrei gestellt und gefördert. In den Konzentrationslagern wurden Lagerbordelle mit „asozialen“ und „fremdvölkischen“ Frauen eingerichtet als Vergünstigung zur Steigerung der Arbeitsleistung der Häftlinge.

Jüngste Geschichte

Der Begriff der sexuellen Verwahrlosung wurde in der alten Bundesrepublik noch bis in die 1970er Jahre verwendet, um Mädchen und junge Frauen mit von den Normen abweichendem Verhalten in Erziehungsheime einzuweisen. Dies geschah teilweise auch mit den Opfern sexuellen Missbrauchs.[2] Extreme Formen hatte die Sanktionierung sexueller Verhaltensnormen in Irland, wo bis in die 1990er Jahre mehrere zehntausend Frauen in Heimen des Magdalenenordens (siehe Magdalenenheim), oft auf bloßen Verdacht hin, zwangsweise festgehalten wurden und unbezahlte Arbeit verrichten mussten.

Besonderer Schutz für Kinder

Soweit das Ausleben der Sexualität die Beteiligung von Kindern einschließt, ist die autonome Selbstbestimmung in vielen Ländern rechtlich eindeutig geregelt:

Kinder genießen einen besonderen rechtlichen Schutz. Seit dem 4. Gesetz zur Reform des Strafrechts vom 23. November 1973 gilt in der deutschen Rechtswissenschaft als geschütztes Rechtsgut die von vorzeitigen sexuellen Erlebnissen ungestörte Gesamtentwicklung des Kindes. Nach deutschem Recht können Kinder, das heißt Personen unter 14 Jahren, nicht rechtlich wirksam in sexuelle Handlungen einwilligen, da analog zur Strafmündigkeit im Strafrecht davon ausgegangen wird, dass sie die Folgen altersbedingt nicht verantwortlich einschätzen können. Sexuelle Handlungen mit Kindern stellen sich daher stets als strafbarer sexueller Missbrauch von Kindern dar.

Homosexualität

Die Akzeptanz der sexuellen Selbstbestimmung ist Ausdruck eines Wertewandels in den westlichen modernen Gesellschaften. Juristisch drückte dieser sich am Beispiel männlicher Homosexualität in der Reform des (1994 ersatzlos abgeschafften) Paragraphen 175 in der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1969 aus, bei der einvernehmliche sexuelle Handlungen zwischen erwachsenen Männern nicht mehr als opferlose Straftat eingestuft wurden. Die Ausübung der Homosexualität galt von 1969 bis 1994 grundsätzlich als erlaubt, solange Einvernehmen zwischen den erwachsenen Beteiligten bestand. 1994 fiel auch das Erfordernis des Erwachsenenalters weg.

Auch in anderen westlichen Industrieländern entwickelte sich die Rechtsprechung seit der Aufklärung ähnlich, wobei in manchen Regionen der Welt restriktive Gesetze erst durch die europäischen Kolonialmächte eingeführt worden waren.

Die Todesstrafe für homosexuelle Handlungen von Männern kommt fast nur noch in islamischen Staaten vor (siehe auch Gesetze zur Homosexualität). Hinrichtungen von männlichen Homosexuellen finden heute noch im Iran, in Saudi-Arabien, Sudan und im Jemen statt. In Mauretanien besteht noch die theoretische Möglichkeit der Todesstrafe.

Für eine Ausweitung des staatlichen Schutzes von Partnerschaften und Lebensgemeinschaften, beispielsweise für Menschen mit homosexueller Orientierung, setzen sich verschiedene Initiativen der Lebensformenpolitik, so in Österreich das Rechtskomitee Lambda, oder in den USA die Plattform "Beyond Marriage" ein.

Inzest

Eine besondere Einschätzung besteht bei inzestuösen Beziehungen, die in Deutschland und einigen weiteren Staaten bestraft werden, in anderen Staaten Europas und einigen Bundesstaaten der USA jedoch nicht. Im April 2012 entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, dass der in Deutschland geltende § 173 StGB mit der Europäischen Menschenrechtskonvention vereinbar ist.[3]

Sexuelle Selbstbestimmung weltweit

Fehlende sexuelle Selbstbestimmung von Teilen oder Gruppen einer Gesellschaft ist immer Ausdruck unzureichender sozialer Bildung. In der Mehrheit der nationalen oder regionalen Gesellschaften dominieren Männer die sozialen Bedingungen, insbesondere der Sexualität. In der Mehrheit der Gesellschaften bestimmen archaische Traditionen die problematische Situation sexueller Selbstbestimmung von Frauen oder allgemein von wirtschaftlich Abhängigen. Eine Verbesserung der Situation von Frauen oder anderen wirtschaftlich Abhängigen wird ausschließlich durch eine hinreichende sozialen Bildung aller Mitglieder der Gesellschaften einschließlich der Männer und abseits ritueller oder religiöser Verhaltensmuster und insbesondere einer geschlechts-unabhängigen ausreichenden beruflichen Bildung insbesondere der Frauen erreicht.

In einigen Kulturen, weitverbreitet vor allem in Nordafrika, stellt die weibliche Genitalverstümmelung einen tiefgreifenden Einschnitt in das Sexualleben dar. Auch bei der in einigen Kulturen praktizierte Zirkumzision ohne medizinische Indikation gehen wichtige sexuelle Funktionen verloren. Genitalverstümmelung kann daher als Eingriff in die sexuelle Selbstbestimmung verstanden werden.

Charta der Grundrechte der Europäischen Union

In der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist über den Artikel 21 (Nichtdiskriminierung) die Diskriminierung aufgrund der sexuellen Ausrichtung verboten. Da die Charta erst mit dem Vertrag von Lissabon am 1. Dezember 2009 in Kraft getreten ist, ist die Tragweite des Artikels 21 hinsichtlich der Wirksamkeit einer Gewährung eines Rechtes auf sexuelle Selbstbestimmung noch nicht absehbar.

Wortlaut des Artikels 21:

(1) Diskriminierungen, insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der ethnischen oder sozialen Herkunft, der genetischen Merkmale, der Sprache, der Religion oder der Weltanschauung, der politischen oder sonstigen Anschauung, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung, sind verboten.

(2) Im Anwendungsbereich des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft und des Vertrags über die Europäische Union ist unbeschadet der besonderen Bestimmungen dieser Verträge jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verboten.

Siehe auch

Einzelnachweise

  1. Endlich: Vergewaltigung in der Ehe gilt künftig als Verbrechen Bericht in DIE ZEIT vom 16. Mai 1997
  2. Sind wir wirklich so schwach? Rückblick eines ehemaligen Heimleiters taz.de, 2. Dezember 2002
  3. http://hudoc.echr.coe.int/sites/eng/pages/search.aspx?i=001-111961