Vorklassisches Recht

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Das vorklassische Recht bezeichnet in der Geschichte des römischen Rechts eine antike Zeitspanne, die zwischen dem altrömischen Recht und dem klassischen Recht liegt. Daneben drückt der Begriff eine frühe Entwicklung zu einer Rechtswissenschaft aus. Sein Anfang reicht bis ins frühe 2. Jahrhundert v. Chr. zurück und endet am Übergang von der römischen Republik zum augustäischen Prinzipat im 1. Jahrhundert.

Historischer Kontext[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Das römische Reich profitierte in der Zeit zwischen den Punischen Kriegen und der Ära des ersten Kaisers Augustus von einem mächtigen Aufschwung. Dieser beeinflusste das politische, wirtschaftliche und kulturelle Leben erheblich, denn Rom wuchs weit über seine bisherigen Grenzen hinaus. Diesen Begebenheiten konnte sich das römische Recht – insbesondere das Privatrecht – nicht entziehen. Selbiges war herkömmlich von einer altrömischen Bürgerordnung gekennzeichnet, die sich zunehmend als sehr schwerfällig erwies. Immer problematischer wurde, dass deren Einrichtungen und Grundsätze mit den enormen Veränderungen im gesellschaftlichen Leben und im Wirtschaftsverkehr nicht mehr Schritt halten konnten und aus der Zeit fielen. So wuchsen die Erkenntnis und das Bedürfnis, das angepasste Rechtsleben ohne die übermäßigen sakraljuristischen Einengungen gestalten und sich des Balasts zu entledigen. Der Druck zu den notwendigen Veränderungen stieg im Rahmen der enormen äußeren Machtausbreitung des Reichs.

Rom stand vor großen organisatorischen Herausforderungen. Besonders akut war der staatsrechtliche Reformbedarf und auch verwaltungspolitische Schwierigkeiten mussten angegangen werden. Das Fremdenrecht, als ius gentium bezeichnet, musste modernisiert werden, denn auch die vielen Angehörigen der unterworfenen Völker, die peregrini, verdienten wirksamen Rechtsschutz. Da sie über ein Bürgerrecht nicht verfügten, waren sie erheblichen Rechtsbeschränkungen ausgesetzt. Zudem war der Geltungsbereich des Fremdenrechts – selbst nach dem Bundesgenossenkrieg – allein auf Italien beschränkt. Das Fremdenrecht war recht konturenarm gestaltet, bot aber den Vorteil, größere Handlungsspielräume nutzen zu können. Erschwerend war dabei sicherlich, dass sich kein einheitliches Rechtssystem bot, sondern unterschiedliche Rechtsschichten zu beachten waren, die mit Privilegien und Zurücksetzungen verbunden waren. Mit verschiedenen Wirkungen griffen grundsätzlich ius civile, ius honorarium und ius gentium nebeneinander. Daraus ergaben sich Widersprüche und Unschärfen in den Überschneidungszonen. Bei ihren Untersuchungen ist die Forschung mit dem zusätzlichen Problem konfrontiert, dass ein Verhältnis der verschiedenen Rechtsschichten zum Naturrecht (ius naturale) gefunden werden muss. Die historischen Quellen geben hierzu nur unzureichenden Aufschluss. Nur beispielsweise wirft sich die Frage auf, inwieweit aus naturrechtlichem Betrachtungswinkel zum Sach-Begriff der Vorklassiker Effektivität für den Rechtsschutz hergeleitet werden kann. Ausgangspunkt in der Vorklassik war, dass allein greifbare, „körperliche“ und damit sinnlich wahrnehmbare Vermögensstücke als Sachen galten.[1] Da die Frühzeit Roms aber von der Ontologie eines „spirituellen Materialismus“ geprägt war, konnten die den Sinnen entzogenen und damit „unkörperlichen“ Gegenstände begrifflich gleichwohl einbezogen werden.[2] Zwischen corporales res und incorporales res wurde dann in der Kaiserzeit unterschieden; incorporales res waren beispielsweise Forderungen oder Rechte, die an fremden Sachen bestanden.

Mit der Expansion und der Machtentfaltung des Reichs nahm die Wirtschaft Fahrt auf. Es erschlossen sich viele neue Versorgungsquellen. Die altbäuerliche Ordnung des römischen Güteraustauschs war damit überfordert, dringende Reformen standen an. Der Handel, der über die Reichsgrenzen hinausging, florierte so sehr, dass dem Leistungssystem „Ware“ ein neues Gegenleistungssystem gegenübergestellt werden musste. Es entstand der „Geldverkehr“. Gestalterische Elastizität verlangte insbesondere gerade der grenzübergreifende Wirtschaftsverkehr. Das Kaufmannsrecht trat als Sonderrecht hervor und das Kreditverkehrsrecht wurde erheblich ausgebaut.[3]

Rechtsgestaltende Einflüsse[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Präsentation der XII Tafeln in Rom

Den Beginn des vorklassischen Zeitalters bildet – nach allgemeiner Auffassung – ein dreiteilig aufgebautes zwölfbändiges Grundlagenwerk, die sogenannte Tripertita. Dieses Werk wird dem Juristen Sextus Aelius Paetus Catus zugeschrieben, der im Jahr 198 v. Chr. Konsul war. Den Autor interessierte ein Dreifaches: Im ersten Teil fasste er die XII Tafeln, die einzige Kodifikation, die Rom je haben sollte, entgegen aller bisherigen Gewohnheit erstmals literarisch. Damit die Gesetzessammlung systemgerecht ausgelegt wird, schuf er im Mittelteil und nach altbewährter Tradition Kommentare und Interpretationshilfen.[4] Im dritten Teil ging er aus Praktikabilitätserwägungen der Frage nach, wie Ansprüche durchgesetzt werden können. Er ergänzte einen Katalog von Klagewegen, die auf die eigene Initiative ausgelegten Klagen (actiones) und Einwendungen, die der Verteidigung im Prozess dienten (exceptiones). Alle im Legisaktionenverfahren (legis actiones) entwickelten Prozessformeln wurden zusammengefasst,[5] was ersten systematischen Schritten in der Methodik einer Wissenschaft gleichkommt. Auch wurden Rechtsinstitute hinzugefügt, sodass insgesamt eine Prozessordnung entstand. Die seit der Königszeit mündlich überlieferten Sitten und Gebräuche fanden sich somit in einem komplexen Nachschlagewerk zur Zwölftafelgesetzgebung wieder. Sein revolutionärer Charakter wurde als „Wiege des Rechts der Stadt Rom“, als „Quelle des gesamten öffentlichen und Privatrechts“ („fons omnis publici privatique est iuris“) beschrieben und gepriesen.[6] Neugestaltet wurden in der späten Republik viele Teile des Privatrechts und des Zivilprozessrechts (Inhalte vieler Justizedikte).

Die seit altrepublikanischer Zeit bekannte Zuständigkeit der Magistraten für die Volksgesetzgebungsverfahren (leges) wurde abgelöst. Ab der Mitte des 3. Jahrhunderts v. Chr. kümmerte sich vornehmlich der Plebs um die Volksbeschlüsse. Es entstanden die plebiscita. Die Volkstribunen prägten die Gesetzgebung noch in der späten Republik. Als Quellen für die Entwicklung des Rechts können einerseits Gesetze genannt werden, dem gegenüber stand andererseits die überaus schöpferische Kreativität der Gerichtsmagistraten, in erster Linie waren das die Prätoren. Die mit oft ungleicher Geltungskraft aufgestellten Rechtsgrundsätze unterlagen allerdings noch kaum einem System. Sie standen oft nebeneinander, ersetzten sich auch. Gleichwohl gelten sie in der Gesamtschau als qualitativ hochwertig. Das Fehlen einer Systematik war bereits immanentes Merkmal der XII Tafeln, zumal diese Kodifikation in einem Wurf aus einem Sammelsurium von gewohnheitsrechtlichen Partikeln entstand. Die ersten systematischen Gehversuche gründen daher bei Gaius’ Schuljurisprudenz im 2. Jahrhundert, der in seinen Institutionen das Lehrbucheinteilungsprinzip nach „personaeresactiones“ einführte.[7][8] Unter das Personenrecht fielen auch das Familien- und Erbrecht.[9]

Nach den gegenständlichen Bereichen wurden ius publicum und ius privatum unterschieden, Begriffe, die sich – nach heutigem Verständnis deckungsgleich mit der Interessentheorie – an den Angelegenheiten des Staates und des Einzelnen orientieren. Dieser Gegensatz findet sich bei Cicero,[10] wurde später aber erst von den Spätklassikern wieder aufgegriffen.[11] Die Zurückhaltung bei der Verwendung der beiden Begriffe offenbart, dass den Terminologien eine systematische Bedeutung noch fehlte.[12] Nachdem eine zusammenfassende Prozessordnung bereits geschaffen war, wurde das Klagwesen selbst radikal umgebaut. Die archaischen Legisaktionen fielen einem weniger förmlichen Prozesstyp zum Opfer, dem Formularprozess. Dabei wurde insbesondere das Eigentums- und Deliktsrecht aufgegriffen und fortentwickelt.

Rechtswissenschaft[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Lehrbetrieb in der platonischen Akademie (Paul Buffet, geschaffen 1904).
Büste des Zenon von Kition, dem Begründer der Stoa (Archäologisches Nationalmuseum Neapel, Inventarnummer 6128.)

Die Gestaltung von Recht war stets Ausdruck originärer Schöpfungskraft der Römer. Seine Schöpfungshöhe hatte Rom allerdings den einfließenden Kräften des Hellenismus mit zu verdanken. Ab dem 3. Jahrhundert v. Chr. werden deutlich die Einflüsse der zenonischen Stoa bemerkbar.[13] Ab der Jugendzeit Ciceros schärfte die Rhetorik der skeptischen Erkenntnislehre der platonischen Akademie die Redekunst der Juristen und Gerichtsredner, die dem Oratoren die Rolle des Gründers und Erhalters von Recht zuwies. Die Skeptiker postulierten – zusammengefasst – nicht an der Orientierung zugunsten der „unerreichbaren Wahrheit“ (Platon) festzuhalten, denn zur Sicherung einer rationalen Lebensführung genüge der „ausreichende Wahrheitswert der Wahrscheinlichkeit“ (methodischer Zweifel als Zielvorstellung). Okko Behrends fasst so zusammen, dass das, was der Mensch wissen kann, bestenfalls in hochwahrscheinlichen, immer wieder überprüften Meinungen bestünde.[14] Bereits die früher verfassten XII Tafeln profitierten von der griechisch geprägten Philosophie der Antike,[15] dies zu einer Zeit, als der herbeibeschworene Götterfrieden (pax deum) der Auguralreligion der pontifices den Rechtsfrieden bestimmte.

Diese Einflüsse wirkten auf den Tatendrang und die Kreativität der römisch-republikanischen Juristen ein und bewirkten Synergien für das Rechtsdenken. Methodisch erhielt das System Ordnung, so bei der Formulierung von Begriffen. Dabei habe eine bedeutende Rolle der in Rom wirkende griechische Exilant Philon von Larisa gespielt, der seinen Lehrauftrag in die Tradition der Sophisten um Protagoras stellte. Rom erhielt somit Zugang zu einer theoretischen Betrachtung von Recht.

Solidarische (gemeinwohlorientierte) Werte wurden dabei nicht formuliert, denn man ging davon aus, dass sie in der Natur der menschlichen Gesellschaft längst verankert seien. Exemplarisch für solche Grundsätze können der Vertrauensschutz (bona fides) oder die allgemeine verkehrsrechtliche Sorgfalt (diligentia) herangezogen werden.[16] Auch die bereits verankerten sozialethischen Grundwerte sollten in der Praxis durchsetzbar sein, weshalb eine weitere Ordnungsquelle Bedeutung erlangte, die des Prätors. Der erhielt umfassende Handlungsbefugnis für die Wahl seiner Rechtsmittel. Delegitimiert erst in der klassischen Kaiserzeit, erhielten die naturrechtlich begründeten Solidar- und Sozialwerte (verankert ja in der Natur des Menschen und damit in der Gesellschaft) ein eigenes Solidarprinzip. Es galt das Argument der Skeptiker zu überwinden, die Werte krankten an Bestimmtheit, seien lediglich „wahrscheinlich“. Dem Prätor war ein Handwerkzeug in die Verantwortung gelegt, dem solidarischen Wertesystem ein neues Fundament zu geben, das dem „Rechtsfrieden“ dient und Gewaltzustände zu überwinden hilft.[16]

Ein weiteres Attribut der hellenistischen Vorbilder ist der Gebrauch der Schrift. Schriftzeugnisse erleichterten den Rechtsverkehr erheblich, denn es konnten zur Nachweissicherheit Zeugenurkunden (testationes) hergestellt oder Quittungen (chirographa) ausgestellt werden. Von einer der vier römischen Vertragsformen – dem Litteralvertrag – wird vermutet, dass sein Ursprung in das griechische Bankwesen zurückreicht. Die Litteralkontraktsform entstand als einheitliches Vertragssystem. In das literarische Zentrum der Rechtswissenschaft rückte immer mehr die Werksgattung des klassischen Edikts, wobei gleichwohl nicht verkannt werden darf, dass die Rechtsprechung intuitiv und an Einzelfällen ausgerichtet blieb. Von einer „Theorie der Allgemeinbegriffe“ oder dem Betrieb eines „Begriffssystems“ kann kaum gesprochen werden,[17] solange jedenfalls nicht, bis eine wissenschaftliche Rechtsbetrachtung unter den Einflüssen der griechischen Philosophie (analytische und synthetische Methodenlehre) in der späten Republik möglich wurde.[18]

Als Autoren erster rechtswissenschaftlicher Arbeiten traten Manius Manilius,[19] Marcus Iunius Brutus[20] und Publius Mucius Scaevola[21] hervor, weshalb sie als Wegbereiter von Rechtswissenschaft und Rechtslehre gelten. Mit ihnen erhielt das von den frühen Juristen der Priesterkollegien entwickelte ius civile ein akademisches Fundament. Der Einzug der Methodik der Verwissenschaftlichung von Recht führte dazu, dass ihre Protagonisten Rechtsschulen begründeten, als fundatores auf sich aufmerksam machten. Das ius civile, das es zu bearbeiten galt, war ganz vornehmlich althergebrachtes ungeschriebene Gewohnheitsrecht. In vereinzelter Hinsicht war es auch tradiertes Gesetzesrecht. Prominent sind das von den Decemvirn mit den XII Tafeln geschaffene Recht und das in kollegialer Zusammenarbeit in den Komitien ausgehandelte Recht der Tribunen.

Zeichen der Vielschichtigkeit der römischen Rechtsordnung zeigte das gegen das ius civile abzugrenzende ius honorarium auf, das Amtsrecht der Jurisdiktionsmagistraten (praetor urbanus für Rechtsstreitigkeiten unter Bürgern, praetor peregrinus für Rechtstreitigkeiten mit Beteiligung von Fremden (Völker(gemein)recht) und kurulische Ädile für die Marktgerichtsbarkeit). Ius honorarium, im Hinblick auf die Kompetenzperson für den Erlass von Rechtsschutzprogrammen auch ius praetorium genannt, diente der prozessualen Durchsetzung von ius civile. Es ergänzte noch und korrigierte bisweilen das über das ius civile hinausgehende neu geschaffene Klagerecht.[22] In diesem Zusammenhang erstellte Scaevolas Sohn Quintus Mucius Scaevola eine achtzehnbändige Zusammenfassung zum ius civile, ein Gesamtwerk, das erhebliche Auswirkungen auf die rechtswissenschaftliche Entwicklung hatte und über Jahrhunderte zur Etablierung eines prominenten Familiennamens bei späteren Rechtsgelehrten führte. Erhalten geblieben sind lediglich Epitome über die Zivilgerichtsbarkeit, perpetuiert in den justinianischen Digesten.[23]

Einer der letzten Gelehrten der Vorklassik gilt als einer der bedeutendsten, Servius Sulpicius Rufus,[24] Schüler des Gaius Aquilius Gallus,[25] von dem sein Zeitgenosse Cicero als dem wahren „Begründer der wissenschaftlichen Jurisprudenz“ (ars iuris) schwärmte.[26] Zugeschrieben wird Rufus die Abfassung vieler Rechtsbücher, darunter erste Kommentare zum prätorischen Edikt. Die von den vorklassischen Juristen entwickelten Edikte enthielten Kataloge von Rechtsmitteln zur prozessualen Durchsetzung von Ansprüchen. Verfeinert wurden diese erst während der klassischen Zeit. Der Nachwelt sind die (prätorischen) Edikte bestenfalls fragmentarisch erhalten und über Zitate und Hinweise in den Werken anderer Autoren nachweisbar.[27]

Typisches Kennzeichen des (vor-)klassischen Rechts war die hohe Autoritätsgebundenheit. Der römische Jurist stützte sich entweder auf seine eigene Autorität, oder auf die eines bedeutenden Vorgängers (veteres). Nach heutigem Verständnis waren sie insoweit keine Rechtstheoretiker, die ihre Entscheidungen aus der Sachmaterie heraus dogmatisch argumentiert hätten. Max Kaser spricht insoweit von einem „in der Praxis der Rechtspflege gewachsene[m] Recht“.[28] Die Rechtsfindung folgte in dieser Phase weniger einer rationalen Vorgehensweise, eher einem Rechtsgefühl, das Kaser „Intuition“[29] nannte, Wieacker das „Judiz“[30] der römischen Juristen. Auch blieben die Prinzipien der Rechtsformen weitgehend von den objektiven Wortbedeutungen beherrscht. Bedeutende Rechtsgeschäfte, wie etwa die formgebundene Stipulation, wurden traditionell nicht zur Verwirklichung individueller Vorstellungen der Parteien ausgelegt und umgesetzt, eine Hypothek noch des frührömischen Sakralrechts der Priesterkollegien, deren Gremien aus Auguren, Fetialen und Pontifices mit elitärem Rechtswissen (Entscheidungsvorbehalt über (Gerichtstage), Beherrschung des Kalenders, Hoheit über Klagformeln und Rechtsschöpfungsakte) bestanden. Den Verfahren wohnte ein erzieherischer Charakter inne, der der Gesellschaft Rechtssicherheit vermitteln sollte.[31] Dort aber, wo das traditionelle Recht schwieg, wurden die Freiräume zunehmend persönlicher und im Sinne des Wirtschaftsverkehrs kreativ genutzt.[32]

Theoretisch-abstrahierende Rechtssätze kannte die Rechtsordnung der Republik nicht. Tendenzen dazu kamen in Ansätzen frühestens in Zeiten der späten Republik auf. Die Falllösungen – anfänglich waren sie streng an die gesetzliche Wortbedeutung gebunden – wurden technisch zunehmend abgeleiteter vorgenommen und unterlagen dabei einer fallvergleichenden Abfolge. So wurde der Ausgangsfall herangezogen, um ihn mit einem abgeschlossenen Fall zu vergleichen und gegebenenfalls Erkenntnisse zu übertragen. Entweder lag dem Vergleichsfall eine wirksame Regel zugrunde, die sinnvoll herangezogen werden konnte, oder es konnte eine Regel herausgebildet werden, die über den Vergleichsfall nachgewiesen wurde.[33]

Betreffend das alte Verbandsrecht, lässt sich der privat-gesellschaftliche Wandel anhand der zunehmenden Rückbildung der Sippenrechte (gentes) verdeutlichen, einem Prozess, bei dem sich die Familie als organisatorische Einheit zunehmend isolierte und auch modifizierte; die Manusehe wurde abgedrängt, Frauen erhielten mehr Freiheiten, den Hauskindern wurden beschränkte Sondervermögen eingeräumt. Aufgrund der zurückgedrängten Sittenaufsicht der Zensoren, entwickelte sich dabei eine bisweilen willkürliche Rechtshandhabung, die allerdings erst in der fürsorglicher und wohlfahrtsstaatlicher orientierten klassischen Zeit des Prinzipats durch Senatsbeschlüsse wieder eingefangen wurde.[34] Das römische Persönlichkeitsbewusstsein manifestiert sich in prominenten Rechtsansichten zur „Allmacht durch patria potestas“ oder zur „Freiheit in der Eigentumsgestaltung“ und der daraus hergeleiteten „Testierfreiheit“ (testamentum). Unterentwickelt bleibt hingegen korporatives Recht, Recht betreffend Körperschaften, Gesellschaften, eheliche Gütergemeinschaften oder Erbengemeinschaften.[35]

Überlieferung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Viele Zeugnisse sind es nicht, die zur Erhellung der vorklassischen Periode zur Verfügung stehen. Sie sind aber hinreichend genug, um sich eine Gesamtvorstellung machen zu können. Unter den Erkenntnisquellen befinden sich einige Inschriften, einige Gesetze (leges) und anderweitig gesetztes Recht. Fragmentarisch haben einige Texte in den Digesten überdauert. Von den Juristenschriften, die ab dem 2. Jahrhundert v. Chr. einsetzten, wurden etliche Zitate von nichtjuristischen Schriftstellern aufgegriffen. Sie geben im Rahmen von Komödien Aufschluss, so etwa in denen von Plautus und Terenz. Dabei sind allerdings Unwägbarkeiten zu beachten, da erhebliche Vermischungen mit den Leitbildern der griechischen Antike bestehen.[15]

Als zuverlässiger gelten Werke des Polyhistors Varro, auch die des Cato und insbesondere des großen Gerichtsredners Cicero. Cicero ist schon deshalb die bedeutendste Quelle, weil er – obgleich ebenfalls kein Jurist – mit seinem rhetorischen Talent und seiner philosophischen Gesamtbildung das notwendige Rüstzeug für die Analyse von juristisch relevanten Tatsachen und für die abschließende rechtliche Bewertung mitbrachte.[36]

Überliefert ist noch, dass Augustus bei seinem Machtantritt Konzeptionen Caesars für eine Kodifikation des Zivilrechts (ius civile) vorgefunden haben soll. Der Plan sah vor, dass das vorklassische Juristenrecht einbezogen werden sollte.[37][38]

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Anmerkungen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Digesten 1, 8, 1, 1.
  2. Okko Behrends: Die geistige Mitte des römischen Rechts: Die Kulturanthropologie der skeptischen Akademie, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte (Romanistische Abteilung), Band 125, Heft 1, 2008. S. 45.: Im Gegensatz dazu kannte die klassische Ontologie auch körperliche Gegenstände.
  3. Max Kaser: Das Römische Privatrecht. Erster Abschnitt. Das altrömische, das vorklassische und klassische Recht. C. H. Beck, München 1955 (Zehnte Abteilung, Dritter Teil, Dritter Band, Erster Abschnitt) § 46, S. 159 f.
  4. Jan Dirk Harke: Römisches Recht. Von der klassischen Zeit bis zu den modernen Kodifikationen. Beck, München 2008, ISBN 978-3-406-57405-4 (Grundrisse des Rechts), § 1 Rnr. 9 (S. 9).
  5. Marie Theres Fögen: Römische Rechtsgeschichten. Über Ursprung und Evolution eines sozialen Systems. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2002 (italienisch: Bologna 2006), ISBN 3-525-36269-2, 175 ff.
  6. Titus Livius 3, 34, 1–2; 6–7.
  7. Vgl. unter vielen, Franz Wieacker: SZ 70 (1953), S. 93 ff.; derselbe: Privatrechtsgeschichte der Neuzeit unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Entwicklung. 2. Auflage. Göttingen 1967, DNB 458643742 (1996, ISBN 3-525-18108-6). S. 228 f.
  8. Siehe auch mit eigenen Herleitungen, Okko Behrends: Die geistige Mitte des römischen Rechts: Die Kulturanthropologie der skeptischen Akademie, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte (Romanistische Abteilung), Band 125, Heft 1, 2008. S. 32 ff. (persona) und S. 44 ff. (res).
  9. Jakob Fortunat Stagl: Das didaktische System des Gaius, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte (Romanistische Abteilung). Band 131, Heft 1, 2014. S. 337.
  10. Cicero, Divinatio in Q.Caecilium (ad Caec. div.) 5, 18.
  11. Ulpian, Digesten, 1, 1, 1, 2; Adolf Berger: Iura 1, (1953). S. 102 ff; 112 f.
  12. Max Kaser: Studia et documenta historiae et iuris, Rom 17, 277 ff.
  13. Okko Behrends: Die geistige Mitte des römischen Rechts: Die Kulturanthropologie der skeptischen Akademie, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte (Romanistische Abteilung), Band 125, Heft 1, 2008. S. 44 ff.
  14. Okko Behrends: Die geistige Mitte des römischen Rechts: Die Kulturanthropologie der skeptischen Akademie, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte (Romanistische Abteilung), Band 125, Heft 1, 2008. S. 61 ff (hier S. 61 f.).
  15. a b Fritz Schulz: History of the Roman Legal Science. Oxford 1946 (Neudruck 1953). S. 62 ff.
  16. a b Okko Behrends: Die geistige Mitte des römischen Rechts: Die Kulturanthropologie der skeptischen Akademie, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte (Romanistische Abteilung), Band 125, Heft 1, 2008. S. 83 ff. (92).
  17. Max Kaser: Das Römische Privatrecht. Erster Abschnitt. Das altrömische, das vorklassische und klassische Recht. C. H. Beck, München 1955 (Zehnte Abteilung, Dritter Teil, Dritter Band, Erster Abschnitt) § 46, S. 160 f.; anders aber Okko Behrends, der von einer „Rechtstheorie“ der Römer sprach (siehe oben: Die geistige Mitte des römischen Rechts: Die Kulturanthropologie der skeptischen Akademie, S. 25 ff.)
  18. Max Kaser: Das Römische Privatrecht. Erster Abschnitt. Das altrömische, das vorklassische und klassische Recht. C. H. Beck, München 1955. § 1, S. 2.
  19. Vgl. hierzu, Detlef Liebs: Manius Manilius. In: Werner Suerbaum (Hrsg.): Die archaische Literatur. Von den Anfängen bis Sullas Tod (= Handbuch der lateinischen Literatur der Antike. Bd. 1). C. H. Beck, München 2002, ISBN 3-406-48134-5, S. 562 f.
  20. Tomasz Giaro, Wolfgang Will: Iunius [III 1]. In: Der Neue Pauly (DNP). Band 6, Metzler, Stuttgart 1999, ISBN 3-476-01476-2, Sp. 70.
  21. Vgl. hierzu Detlef Liebs: Q. Mucius Scaevola (Pontifex). In: Werner Suerbaum (Hrsg.): Die archaische Literatur. Von den Anfängen bis Sullas Tod (= Handbuch der lateinischen Literatur der Antike, Band 1). C. H. Beck, München 2002, ISBN 3-406-48134-5, S. 566–569.
  22. Digesten, 1, 1, 7, 1: „Ius praetorium est, quod praetores introduxerunt adiuvandi, vel supplendi, vel corrigendi iuris civilis gratia propter utilitatem publicam“.
  23. Vgl. hierzu Detlef Liebs: Q. Mucius Scaevola (Pontifex). In: Werner Suerbaum (Hrsg.): Die archaische Literatur. Von den Anfängen bis Sullas Tod (= Handbuch der lateinischen Literatur der Antike, Band 1). C. H. Beck, München 2002, ISBN 3-406-48134-5, S. 569–571.
  24. Jan Dirk Harke: Römisches Recht. Von der klassischen Zeit bis zu den modernen Kodifikationen. Beck, München 2008, ISBN 978-3-406-57405-4 (Grundrisse des Rechts), § 1 Rnr. 10 (S. 9 f.).
  25. Cicero, Brutus 41, 154.
  26. Cicero, Brutus 41, 152.
  27. Pomponius, Digesten 1, 2, 2, 43.
  28. Max Kaser: Das Römische Privatrecht. Erster Abschnitt. Das altrömische, das vorklassische und klassische Recht. C. H. Beck, München 1955 (Zehnte Abteilung, Dritter Teil, Dritter Band, Erster Abschnitt) § 46, S. 162.
  29. Max Kaser: Zur Methode der römischen Rechtsfindung. Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Philologisch-historische Klasse. Göttingen 1962, 2. Auflage 1969. S. 49, 54.
  30. Franz Wieacker: Römische Rechtsgeschichte. Quellenkunde, Rechtsbildung, Jurisprudenz und Rechtsliteratur (= Handbuch der Altertumswissenschaft, Abt. 10, Teil 3); Abschnitt 1: Einleitung, Quellenkunde, Frühzeit und Republik, Beck, München 1988, ISBN 978-3-406-32987-6. S. 45 f.
  31. Scaevola, Digesten 42.8.24.
  32. Max Kaser in Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht 12, 1938. S. 326 ff.
  33. Jan Dirk Harke: Argumenta Iuventiana – Argumenta Salviana. Entscheidungsbegründungen bei Celsus und Julian. In: Schriften zur Rechtsgeschichte (RG), Band 157, Duncker & Humblot, Berlin 2012. S. 14 f.; 16 f.; 29.
  34. Beschreibungen zu den Freiheitsgedanken in der römischen Rechtsordnung, vgl. insoweit Leopold Wenger, in: Studia et documenta historiae et iuris. Band 15 (1949), S. 60 ff.; Ulrich von Lübtow: Blüte und Verfall der römischen Freiheit. Betrachtungen zur Kultur- und Verfassungsgeschichte des Abendlandes. Berlin 1953.
  35. Max Kaser: Das Römische Privatrecht. Erster Abschnitt. Das altrömische, das vorklassische und klassische Recht. C. H. Beck, München 1955 (Zehnte Abteilung, Dritter Teil, Dritter Band, Erster Abschnitt) § 46, S. 164.
  36. Max Kaser: Das Römische Privatrecht. Erster Abschnitt. Das altrömische, das vorklassische und klassische Recht. C. H. Beck, München 1955 (Zehnte Abteilung, Dritter Teil, Dritter Band, Erster Abschnitt) § 46, S. 168.
  37. Sueton, De vita Caesarum 44.
  38. Javier Paricio: Labeo: Zwei rechtshistorische Episoden aus den Anfängen des Prinzipats. In: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. (Romanistische Abteilung). Band 117, Heft 1, 2000. S. 432–444 (440).