Ruhrpolen

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Inschrift der Polnischen Arbeiterbank Bank Robotników e.G.m.b.H., Am Kortländer 2, Bochum
Nahaufnahme der Inschrift

Mit „Ruhrpolen“ sind die Menschen und deren Nachfahren gemeint, die seit etwa in den Jahren ab 1870 teils mit ihren Familien aus dem früheren Königreich Polen, aus Masuren, der Kaschubei und auch aus Oberschlesien ins Ruhrgebiet des Deutschen Reichs eingewandert sind und dort meist als Bergleute gearbeitet haben.

Geschichte

Voraussetzungen

Die Geschichte Polens im 18. Jahrhundert war geprägt durch die Teilungen Polens 1772, 1793 und 1795, als das Land nach und nach in drei Bereiche aufgeteilt wurde, die unter preußische, russische und österreichische Herrschaft kamen. So gab es in den Ostprovinzen Preußens Regionen mit überwiegend polnischsprachiger Bevölkerung – v. a. Großpolen – und Regionen mit starken polnischen Minderheiten.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kam es während der Industrialisierung in Deutschland zu tiefgreifenden Veränderungen. In den Schwerpunktgebieten der der Industrialisierung und später der Hochindustrialisierung wuchs der Bedarf an Arbeitskräften stark an.

Entwicklung

Aufgrund des stark steigenden Bedarfs an Arbeitskräften wanderten viele Menschen ins Ruhrgebiet. Neben Menschen aus dem unmittelbaren ländlichen Umfeld zogen auch Menschen aus ferner gelegenen Regionen zu, um in der Industrie zu arbeiten. Darunter waren viele aus den Ostprovinzen Preußens, so dass auch unter den inländischen Zuwanderern in die industriellen Ballungszentren viele Menschen waren, die polnisch sprachen und sich als Polen fühlten. Ein Großteil der als „Ruhrpolen“ bezeichneten Einwanderer sprach indes Regionalsprachen wie Masurisch, Kaschubisch und Wasserpolnisch.

Ab 1880 verstärkte sich die Ost-West-Wanderung aus dem preußischen Osten ins Ruhrgebiet. Die Arbeiter aus dem deutschen, österreich-ungarischen und russischen Polen sowie aus Masuren, das seit dem 13. Jahrhundert unter deutscher Herrschaft stand, und aus Oberschlesien, das seit dem 14. Jahrhundert zum Reichsgebiet gehörte, gewannen immer mehr an Attraktivität für Industrie und Landwirtschaft. Polnischsprachige Saisonarbeiter arbeiteten in der Industrie, vor allem im Bergbau, Hüttenwesen, Baugewerbe und in der Ziegelherstellung sowie im Osten in der Landwirtschaft. Insbesondere die ostelbischen Güter verlegten sich immer mehr auf die ca. 400.000 Billiglohnkräfte. Die Pendler waren ungelernt, saisonal, leisteten längere Arbeitszeiten und erhielten niedrigere Löhne als die deutschen Arbeitskräfte. Funktional dienten die polnischen Saisonarbeiter oft als Lohndrücker und Streikbrecher. 1890 führte die preußische Verwaltung das RegelwerkKarenzzeit“ ein, das die Zuwanderer verbindlich zwang, nach Ablauf der Saison das Land zu verlassen.[1]

Die Arbeitsmigration entstand aus der Nachfrage nach Arbeitskräften während der Industrialisierung. 1871 zogen nach dem Deutsch-Französischen Krieg Bergarbeiter aus Oberschlesien, polnischsprachige Landarbeiter aus Ost- und Westpreußen sowie aus der Provinz Posen ins Ruhrgebiet. Die Zechen­unternehmer konnten damit den sprunghaft gestiegenen Bedarf an Arbeitskräften im Ruhrbergbau decken. Die deutsche Arbeiterschaft nahm die „Ruhrpolen“ als fremd wahr wegen ihrer zum Teil streng katholischen Konfession und ihrer ungewohnten Sprache. Folglich bildeten die Polen ein eigenständiges Arbeitermilieu in den Städten des Ruhrgebiets, hauptsächlich in Essen, Dortmund und Bochum. Gelsenkirchen wurde hingegen Zentrum der evangelischen Masuren, die sich bewusst von den Polen absetzten. So wurden z. B. in Bochum komplett eigenständige Strukturen geschaffen wie die einflussreiche polnische Gewerkschaft Zjednoczenie Zawodowe Polskie, die Arbeiterzeitung Wiarus Polski und die Polnische Arbeiterbank. Eine wichtige Rolle spielte dabei Jan Brejski. Das Zusammenspiel der verschiedenartigen Traditionen brachte die industrielle Kultur hervor, für die das Ruhrgebiet noch heute bekannt ist.

Tatsächlich ist jedoch nur noch eine Minderheit der Nachkommen der Ruhrpolen in Deutschland ansässig. Etwa ein Drittel kehrte in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg in den wiederhergestellten polnischen Staat zurück. Ein weiteres Drittel der Ruhrpolen wanderte im Laufe der 1920er Jahre in die nordfranzösischen Kohlereviere von Lille und Lens ab.[2] Das verbliebene Drittel aber assimilierte sich restlos, stark befördert auch durch die gegen polnische Eigenheiten gerichtete deutsche Politik. Weil dem entsprechend polnisch nicht als Zweitsprache dauerhaft beibehalten wurde, unterscheiden sich die Nachkommen der Einwanderer, von einigen kulturellen Resten und den vielfach polnischen Nachnamen abgesehen, so gut wie nicht von der angestammten Bevölkerung.

Kontroverse um den FC Schalke 04

Der bekannte Gelsenkirchener Fußballverein FC Schalke 04 bekam schon vor dem Ersten Weltkrieg den abwertend gemeinten Namen „Polackenverein“. Ein Großteil der Spieler der Mannschaft, die in den 1930er Jahren Schalke zum stärksten Verein im Deutschen Reich machten, hatte polnisch klingende Familiennamen. Als Schalke 1934 erstmals deutscher Fußballmeister geworden war, machte die Warschauer Sportzeitung Przegląd Sportowy (Sportrundschau) mit der Schlagzeile auf: „Die deutsche Meisterschaft in den Händen von Polen. Triumph der Spieler von Schalke 04, der Mannschaft unserer Landsleute.“[3] In dem Bericht hieß es, dass Schalke bislang wegen der „polnischen Nationalität“ der Spieler vom Deutschen Fußball-Bund benachteiligt wurde, nun aber allen Widerständen zum Trotz doch Fußballmeister geworden sei. Das Warschauer Blatt berichtete weiter, dass u. a. die Spieler Emil Czerwinski, Ernst Kalwitzki, Ernst Kuzorra, Hermann Mellage, Fritz Szepan, Otto Tibulski, Adolf Urban und Ferdinand Zajons Polen seien, „Söhne von nach Westfalen ausgewanderten polnischen Bergleuten“. Außerdem hieß es, die Namen der „einst wegen ihrer Herkunft verhassten Fußballspieler“ würden nun verehrt.

Andere polnische Zeitungen zogen nach und stellten die Leistungen der Landsleute heraus, ohne die der Gelsenkirchener Verein nicht deutscher Meister geworden wäre. Der Kicker veröffentlichte einige dieser polnischen Pressestimmen.

Die Schalker Vereinsführung verschickte daraufhin einen Offenen Brief an den Kicker sowie an mehrere Zeitungen im Ruhrgebiet. Die Buersche Zeitung gab dem Brief die Überschrift „Alle deutsche Jungen“, in der Unterzeile war von „unbegründeten Gerüchten“ die Rede.[4] In dem Brief wurden die elf Spieler der Meisterschaft und zwei Reservisten namentlich mit ihren Geburtsorten aufgeführt sowie auch ihre Eltern mit den Geburtsorten. Sämtliche dreizehn Spieler waren demnach im Ruhrgebiet geboren, acht der Elternpaare stammten aus Masuren, dem protestantischen Teil Ostpreußens. Zwei Elternpaare waren Einheimische, je eines stammte aus Oberschlesien, aus der Posener Gegend und aus Ostfriesland, nämlich die Familie des Torwarts Hermann Mellage. Bergleute waren unter den Vorfahren der Schalker Spieler nicht vorhanden, einige arbeiteten jedoch nach ihrer Ankunft im Ruhrgebiet im Bergbau.

In der Tat waren fast alle Leistungsträger des Clubs evangelisch. Masuren war im 16. Jahrhundert als Teil Preußens lutherisch geworden. Die Bevölkerung orientierte sich daher nicht am katholischen Polen, sondern am fernen Berlin und Potsdam. Dort wurde sie auch die „altpreußische Bevölkerung“ genannt.[5] Es war kein Zufall, dass unter den Masuren der Vorname Fritz besonders beliebt war; nach dem „alten Fritz“, dem in Polen verhassten Preußenkönig Friedrich II., wurde auch der spätere Fußballstar Fritz Szepan getauft. Nirgendwo im Deutschen Reich war die Stimmung antipolnischer als in Masuren und unter den masurischen Einwanderern im Ruhrgebiet. Dass die Nationalsozialisten in den zwanziger Jahren die Verteidigung Ostpreußens vor polnischen Ansprüchen propagierten, brachte ihnen unter den Masuren zahlreiche Anhänger ein.[6] Auch Kuzorra und Szepan traten der NSDAP bei und ließen sich von der NS-Propaganda instrumentalisieren.[7]

Um sich von polnischen Einwanderern abzugrenzen, nutzten viele der preußisch geprägten Einwanderer aus Masuren die von den Behörden angebotene Möglichkeit, ihre polnisch klingenden Familiennamen zu germanisieren. Auch bei Schalke sind einige Fälle belegt: Zurawski wurde zu Zurner, Regelski zu Reckmann, Zembrzycki zu Zeidler. Der Linksaußen der Meistermannschaft von 1934, Emil Czerwinski, änderte seinen Familiennamen in Rothardt, was eine sinngemäße Übersetzung darstellt – „czerwony“ heißt auf deutsch „rot“.[8]

Schalke wurde dennoch als „Polackenverein“ bezeichnet, weil die einheimischen Westfalen nicht zwischen evangelischen Masuren, katholischen Oberschlesiern und katholischen Polen unterschieden.[9] Letztere organisierten sich vorzugsweise in den nationalpatriotisch ausgerichteten Sokol-Vereinen (sokół = Falke).[10]

Zahlen

Die Gesamtbevölkerung im Ruhrgebiet wuchs von etwa 375.000 um 1852 zunächst auf etwa 536.000 um 1871 an, dann erfolgte bis 1910 ein besonders deutlicher Anstieg auf etwa 3 Millionen und auf schließlich 3,7 Millionen um 1925. Damit war in etwa 70 Jahren eine Verzehnfachung der Gesamtbevölkerung des Ruhrgebiets eingetreten. Die Zahl der aus dem polnischen Volks- und Kulturkreis stammenden Einwanderer (preußischer bzw. deutscher und polnischer Nationalität) in das Ruhrgebiet erreichte 1910 mit einer halben Million den höchsten absoluten Wert und zugleich den höchsten Anteil an der dortigen Gesamtbevölkerung.

Beispiel Bottrop

Bottrop zählte gegen Ende des 19. Jahrhunderts 6600 Einwohner (1875), bis 1900 vervierfachte sich die Zahl der Einwohner; 40 Prozent der Bevölkerung waren polnischer, oberschlesischer, kaschubischer oder masurischer Abstammung. 1915 hatte Bottrop 69.000 Einwohner, die einheimische Wohnbevölkerung war in der Minderheit. 1911 stellten die Migranten 36 Prozent der Belegschaften der Zechen.[11]

Siehe auch

Literatur

  • Dittmar Dahlmann u. a. (Hrsg.): Schimanski, Kuzorra und andere. Polnische Einwanderer im Ruhrgebiet zwischen Reichsgründung und Zweitem Weltkrieg. Essen 2005, ISBN 3-89861-689-4.
  • Wilhelm Brepohl: Der Aufbau des Ruhrvolks im Zuge der Ost-West Wanderung. Recklinghausen 1948.
  • Friedrich Heckmann: Ethnische Minderheit, Volk und Nation. Stuttgart 1993.
  • Christoph Kleßmann: Polnische Bergarbeiter im Ruhrgebiet: 1870–1945. Göttingen 1978, ISBN 3-525-35982-9.
  • Andreas Kossert: "Echte Söhne Preußens". Die polnischsprachigen Masuren in Westfalen und ihre Frömmigkeit. Westfälische Zeitschrift 155, 2005, S. 331-350.
  • Britta Lenz: „Gebürtige Polen“ und „deutsche Jungs“. Polnischsprachige Zuwanderer im Ruhrgebietsfußball im Spiegel von deutscher und polnischer Presse der Zwischenkriegszeit. In: D. Blecking, L. Pfeiffer, R. Traba (Hrsg.): Vom Konflikt zur Konkurrenz. Deutsch-polnisch-ukrainische Fußballgeschichte. Göttingen 2014, ISBN 978-3-7307-0083-9, S. 100–113.
  • Bernd Seeberger: Altern in der Migration – Gastarbeiter ohne Rückkehr. Köln 1998.
  • Mark Terkessidis: Migranten. Leipzig 2000.

Weblinks

Fußnoten

  1. Mark Terkessidis, 2000.
  2. Geschichte: Die Nazis lösen alle polnischen Vereine auf. In: Die Zeit. Nr. 50/2010 (online).
  3. Przegląd Sportowy, 30. Juni 1934, S. 1.
  4. s. Faksimilie in: Stefan Goch: Polen nicht deutscher Fußballmeister. Die Geschichte des FC Gelsenkirchen-Schalke 04. In: Diethelm Blecking, Gerd Dembowkski (Hrsg.): Der Ball ist bunt. Fußball, Migration und die Vielfalt der Identitäten in Deutschland. Frankfurt a. M. 2010, S. 239.
  5. vgl. Thomas Urban: Schwarze Adler, Weiße Adler. Deutsche und polnische Fußballer im Räderwerk der Politik. Verlag Die Werkstatt, Göttingen 2011, ISBN 978-3-89533-775-8, S. 51–54.
  6. Andreas Kossert: Kuzorra, Szepan und Kalwitzki – Polnischsprachige Masuren im Ruhrgebiet. In: Dieter Dahlmann, Albert S. Kotowski, Zbigniew Karpas (Hrsg.): Schimanski, Kuzorra und andere. Polnische Einwanderer im Ruhrgebiet zwischen der Reichsgründung und dem Zweiten Weltkrieg. Essen 2005, S. 180.
  7. Zitiert nach: Gerhard Fischer, Ulrich Lindner: Stürmer für Hitler. Vom Zusammenspiel zwischen Fußball und Nationalsozialismus. Göttingen 1999, S. 159.
  8. Stefan Goch: Schalke 04, Vorzeigefußballer im Mainstream. In: Lorenz Peiffer, Dietrich Schulze-Marmeling (Hrsg.): Hakenkreuz und rundes Leder. Fußball im Nationalsozialismus. Göttingen 2008, S. 407–410.
  9. Georg Röwekamp: Essen und das Ruhrgebiet – zwischen Lackschuhvereinen und Arbeitersportlern. In: D. Schulze-Marmeling (Hrsg.): Davidstern und Lederball. Göttingen 2003, S. 167.
  10. Diethelm Blecking: Die Geschichte der nationalpolnischen Turnorganisation „Sokól“ im Deutschen Reich 1884–1939. Münster 1987.
  11. Heckmann, 1992: 19.