„Geschlechtsselektive Abtreibung“ – Versionsunterschied

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Zur Navigation springen Zur Suche springen
[ungesichtete Version][ungesichtete Version]
Inhalt gelöscht Inhalt hinzugefügt
Keine Bearbeitungszusammenfassung
→‎Literatur: ergänzt
Zeile 105: Zeile 105:
* {{Literatur |Titel= Preventing gender-biased sex selection|TitelErg= An interagency statement OHCHR, UNFPA, UNICEF, UN Women and WHO|Hrsg= [[Weltgesundheitsorganisation]] |Datum= 2011|Sprache= en |HrsgReihe= |ISBN=9789241501460 |Online= https://www.unfpa.org/sites/default/files/resource-pdf/Preventing_gender-biased_sex_selection.pdf|Format= PDF |Abruf=2020-04-25 }}
* {{Literatur |Titel= Preventing gender-biased sex selection|TitelErg= An interagency statement OHCHR, UNFPA, UNICEF, UN Women and WHO|Hrsg= [[Weltgesundheitsorganisation]] |Datum= 2011|Sprache= en |HrsgReihe= |ISBN=9789241501460 |Online= https://www.unfpa.org/sites/default/files/resource-pdf/Preventing_gender-biased_sex_selection.pdf|Format= PDF |Abruf=2020-04-25 }}
* [[Mara Hvistendahl]]: ''Das Verschwinden der Frauen. Selektive Geburtenkontrolle und die Folgen.'' dtv, München 2013, ISBN 978-3-423-28009-9.
* [[Mara Hvistendahl]]: ''Das Verschwinden der Frauen. Selektive Geburtenkontrolle und die Folgen.'' dtv, München 2013, ISBN 978-3-423-28009-9.
* {{Literatur | Autor=Laura Rahm | Titel=Gender-Biased Sex Selection in South Korea, India and Vietnam|TitelErg=Assessing the Influence of Public Policy | Verlag=Springer | Reihe=Demographic Transformation and Socio-Economic Development| BandReihe=11 | Datum= 2020 | ISBN=978-3-030-20233-0|DOI =10.1007/978-3-030-20234-7 }}
* {{Literatur |Herausgeber=Sharada Srinivasan, Shuzhuo Li | Titel=Scarce Women and Surplus Men in China and India|TitelErg=Macro Demographics versus Local Dynamics| Reihe= Demographic Transformation and Socio-Economic Development |BandReihe=8 | Verlag=Springer | Datum=2018 | ISBN=978-3-319-63274-2 | DOI= 10.1007/978-3-319-63275-9}}
* {{Literatur | Autor=Isabelle Attané | Titel=The Demographic Masculinization of China|TitelErg=Hoping for a Son | Verlag=Springer|Reihe=INED Population Studies |BandReihe=1 | Datum=2013 | ISBN=978-3-319-00235-4 | DOI=10.1007/978-3-319-00236-1}}
* {{Literatur |Titel= Watering the Neighbour’s Garden. The Growing Demographic Female Deficit in Asia |Hrsg= Isabelle Attané, Christophe Z. Guimoto |Verlag= Committee for International Cooperation in National Research in Demography|Ort= Paris|Datum= 2007|Sprache= en |ISBN= 2-910053-29-6 |Kommentar= Tagungsband|Online= http://www.cicred.org/Eng/Publications/pdf/BOOK_singapore.pdf |Format= PDF|KBytes= |Abruf=2020-04-23 }}
* {{Literatur |Titel= Watering the Neighbour’s Garden. The Growing Demographic Female Deficit in Asia |Hrsg= Isabelle Attané, Christophe Z. Guimoto |Verlag= Committee for International Cooperation in National Research in Demography|Ort= Paris|Datum= 2007|Sprache= en |ISBN= 2-910053-29-6 |Kommentar= Tagungsband|Online= http://www.cicred.org/Eng/Publications/pdf/BOOK_singapore.pdf |Format= PDF|KBytes= |Abruf=2020-04-23 }}



Version vom 29. April 2020, 16:56 Uhr

Dieser Artikel wurde am 17. April 2020 auf den Seiten der Qualitätssicherung eingetragen. Bitte hilf mit, ihn zu verbessern, und beteilige dich bitte an der Diskussion!
Folgendes muss noch verbessert werden: Feinschliff, insbesondere in Hinsicht auf die ENWs und die Links auf Begriffsklärungsseiten. Grüße, --Snookerado (Diskussion) 19:18, 17. Apr. 2020 (CEST)

Eine geschlechtsselektive Abtreibung ist ein Schwangerschaftsabbruch, der seinen Grund darin hat, dass das Kind nicht das von den Eltern gewünschte Geschlecht aufweist. Global betrifft dies vor allem Mädchen (weiblicher Fetozid bzw. pränataler Femizid), die vor allem in China und Indien millionenfach aufgrund ihres Geschlechts abgetrieben werden. Verschiedene kulturelle, soziale und wirtschaftliche Beweggründe können dafür angeführt werden, wenngleich der Männerüberschuss gravierende Probleme in ebendiesen Bereichen hervorruft. Die rechtliche Beurteilung variiert je nach Staat deutlich; oft geschehen geschlechtsselektive Abbrüche illegal.

In zahlreichen Ländern Nordafrikas und Zentral- und Ostasiens werden Jungen gegenüber Mädchen bei Geburten bevorzugt. Seit es möglich ist, das Geschlecht durch Ultraschalluntersuchungen vor der Geburt zu bestimmen, wird in China, in indischen Bundesstaaten (Punjab, Delhi, Gujarat), Südkorea und im Südkaukasus (Aserbaidschan, Armenien, Georgien) ein sehr starker Überhang an registrierten Geburten von Jungen gegenüber Mädchen festgestellt, der nur durch (meist illegale) gezielte Abtreibung weiblicher Föten erklärbar ist.[1][2] Dies zeigt sich in abgeschwächter Form sogar an asiatischen Einwanderern in den USA und Großbritannien gegenüber den anderen Bevölkerungsgruppen.[3][4]

„Die Motive für den Mord an der ungeborenen Tochter entstammen einer sehr zeitgemäßen Einstellung – man will große Hochzeiten, große Geschenke und einen stolzen Sohn, aber keine wirtschaftlich unnütze Tochter. Über unsere Mädchen fegt ein tödlicher Tsunami, wir erleben einen ethischen Zusammenbruch unserer Gesellschaft, aber niemand regt sich auf.“

Shanta Sinha: Vorsitzende der nationalen Kommission für Kinderrechte in Indien[5]

Für Ärzte in Indien und China sind Abtreibungen ein einträgliches Geschäft, das durch moderne Technik erleichtert wird. General Electric und Siemens haben in den vergangenen Jahren neue Ultraschallgeräte entwickeln lassen, die nur einen Bruchteil des Preises der im Westen hergestellten Geräte kosten. Neue Modelle können mobil mit Solarenergie betrieben werden, um leichter flächendeckend verfügbar zu sein.[5]

Statistische Untersuchungen

Geschlecherverhältnis bei der Geburt 2012 nach den Daten der Weltbank-Datenbank[6]

Dem World Factbook (2019) zufolge kommen auf 100 Mädchengeburten in China 114 Jungen, in Armenien und Indien 112 und in Hong Kong sowie im Vietnam 110.[7] Im Jahr 2010 sollen in China sogar noch 120, in einigen ländlichen Gebieten (Anhui, Jiangxi, Shaanxi, Hunan and Guangdong) sogar 130 Jungen auf 100 Mädchen geboren worden sein.[8][9][10][11][12][13] Der Datenbank der Weltbank zufolge kamen im Jahr 2010 auf 100 Mädchengeburten in Aserbaidschan 116,1, in China 115,8 und in Armenien 114,3 Jungen.[6]

Große Aufmerksamkeit erlangte die These von Amartya Sen, der das Problem der missing women („fehlende Frauen“) bereits 1990 thematisierte und von insgesamt 100 Millionen fehlenden Frauen sprach und vor den sozioökonomischen Folgen warnte.[14] Die UN schätzte im Jahr 2010, dass 117 Millionen Frauen fehlten, zumeist in Indien und China; diese gehen aber nicht nur auf geschlechtsselektive Schwangerschaftsabbrüche zurück.

Es ist davon auszugehen, dass über eine Million Mädchen jährlich wegen ihres Geschlechts abgetrieben werden. Eine 2019 veröffentlichte statistische Analyse, die die Daten bis 2017 auswertete, geht von weltweit 23 Millionen geschlechtsselektiver Schwangerschaftsabbrüche aus, die seit 1970 durchgeführt wurden, wobei 11,9 Millionen auf China und 10,6 Millionen auf Indien entfallen. Insgesamt wurde für 12 Staaten eine statistisch signifikante Abweichung vom natürlichen Geschlechterverhältnis bei der Geburt ermittelt: Albanien, Armenien, Aserbaidschan, China, Georgien, Hong Kong, Indien, Südkorea, Montenegro, Taiwan, Tunesien und Vietnam.[15] Der Demographieforscher Christophe Guilmoto vom Institut für Entwicklung an der Universität Paris-Decartes schätzt, dass durch selektive Abtreibungen und Kindstötungen allein in Asien 117 Millionen Frauen fehlen. Ein UN-Bericht aus dem Jahr 2010 verzeichnet 85 Millionen verhinderte Frauenleben allein in China und Indien.[5]

Neben der Abtreibungspraxis gibt es in den betreffenden Ländern auch eine lange Kultur der Kindstötung bzw. des Infantizids, wovon ebenfalls überwiegend Mädchen betroffen sind. Die UN schätzte:

„Weltweit fehlen schätzungsweise 113 bis 200 Millionen Frauen, weil weibliche Föten gezielt abgetrieben, Mädchen als Babys getötet oder so schlecht versorgt werden, dass sie nicht überleben. Allein in Indien und China werden nach neuesten Schätzungen jährlich eine Million weibliche Föten abgetrieben.“

UNICEF: Starke Frauen – starke Kinder (2007)[16]

Medizinischer Hintergrund

Pränataldiagnostik

Im Fall von In-vitro-Fertilisation ist geschlechtliche Selektion medizinisch möglich (vgl. Artikel Präimplantationsdiagnostik, Abschnitt Selektion des Geschlechts ohne Krankheitsbezug). Bei natürlich empfangenen Kindern besteht die frühestmögliche pränataldiagnostische Feststellung des Geschlechts des Kindes in der Untersuchung der zellfreien fetalen DNA im mütterlichen Blutkreislauf. Dadurch kann ab der siebten Schwangerschaftswoche durch eine Blutuntersuchung der Mutter mit 98%iger Zuverlässigkeit das Geschlecht des Kindes bestimmt werden.[17][18]

Durch transvaginale oder transabdominale Sonografie („Ultraschalluntersuchung“) wird das Geschlecht des Kindes normalerweise festgestellt. In der zwölften Schwangerschaftswoche sind die sonographischen Ergebnisse hinsichtlich der Geschlechtsbestimmung zu etwa 75 % korrekt. Nach der 13. Schwangerschaftswoche sind die Resultate annähernd immer korrekt.[19]

Auch durch Chorionzottenbiopsie („Plazenta-Punktion“) und Amniozentese („Fruchtwasser-Punktion“) kann das Geschlecht des Ungeborenen bestimmt werden. Diese Methoden können zwar schon früher angewendet werden als die Sonographie, sind aber invasiv und daher risikoreicher. Da sie außerdem teurer sind, spielen sie im Kontext geschlechtsselektiver Abbrüche keine große Rolle.[20]

Natürliche Geschlechterverteilung

Das menschliche Geschlechterverteilung bei der Geburt liegt bei etwa 105 Jungen auf 100 Mädchen. Kommen mehr als 108 Jungen auf 100 Mädchen, ist von einer selektiven Abtreibung von Mädchen auszugehen, bei weniger als 102 Jungen von einer Selektion von Jungen.[21] Eine Autoren schließen bereits bei einer Abweichung von 105–107 Jungen auf geschlechtsselektive Abtreibungen. Dagegen werden natürlich bedingte Schwankungen der Geschlechterverteilung angeführt, deren Einfluss bislang nicht hinreichend geklärt ist. Hochrechnungen, die von der Geschlechterverteilung bei der Geburt auf die Zahl abgetriebener Mädchen schließt, sind daher mit einer gewissen Unsicherheit behaftet.

Situation in Asien

In Asien sind geschlechtsselektive Schwangerschaftsabbrüche besonders häufig.

Indien

Hinweisschild in einem indischen Krankenhaus, dass die vorgeburtliche Geschlechtsbestimmung nicht erlaubt ist

1979 wurde in Indien erstmals Ultraschalldiagnostik angewendet; seit den 2000er Jahren ist sie fast flächendeckend verfügbar.[22] In Indien hat der Mord an Töchtern auch wirtschaftliche Gründe. Schon früher war eine Tochter wegen der hohen Aussteuer bzw. Mitgift eine Last; heute fallen außerdem noch Schul- und Erziehungskosten an. Anfang der 1990er Jahre machten Abtreibungskliniken Werbung im öffentlichen Raum mit dem Slogan „Pay Rupees 500 now or 50,000 in eighteen years!“, wobei der vergleichsweise geringe Preis für einen Schwangerschaftsabbruch der damals üblichen und weitaus höheren Mitgift für eine Tochter gegenübergestellt wurde.[23]

1994 verbot das indische Parlament mit dem Pre-Conception and Pre-Natal Diagnostic Techniques (PCPNDT) Act die pränatale Geschlechtserkennung und stellte sie unter Strafe.[24]

Der männliche Geburtenüberschuss zeigt sich vor allem in den westlichen und nordwestlichen Teilen Indiens, etwa Maharashtra, Haryana, Jammu und Kashmir, während er im Süden und Osten Indiens kaum nachweisbar ist.[25]

Deepak Dahiya, der ehemalige Gesundheitsamtsleiter des Bundesstaates Haryana, in welchem besonders viele Mädchen abgetrieben wurden, wirkte sehr für die Umsetzung des Gesetzes. Er brachte 30 Ärzte, die illegal Ultraschalluntersuchungen durchgeführt hatten, in den Jahren von 2001 bis 2005 vor Gericht. Die Mädchengeburten in Haryana zogen aufgrund des harten Durchgreifens an. Seit der Pensionierung von Dahiya im Jahr 2005 nahm der Femizid jedoch wieder zu, da kein politischer Wille zur Durchsetzung des Gesetzes mehr erkennbar ist.[5]

Die Geschlechtsselektion in Indien kann nicht ausschließlich auf mangelnde wirtschaftliche Ressourcen zurückgeführt werden. „Vielmehr sei gerade in wohlhabenderen Schichten ein Anstieg der Kindsmorde zu beobachten, der durch den wachsenden Materialismus ausgelöst worden sei. Fortschritt und Modernisierung konnten dem tiefverwurzelten Wunsch nach männlichen Nachfolgern bislang wenig entgegenwirken.“[26][27]

China

Aufschrift, wonach des verboten ist, weibliche Babys zu diskriminieren, misshandeln oder auszusetzen. Danshan, Sichuan, China.

Schon die legistischen Texte des Han Fei aus dem 3. vorchristlichen Jahrhundert sprechen unkritisch von der nachgeburtlichen Tötung von Mädchen wegen ihres Geschlechts. Die Tötung neugeborener Babys in China ist seit dem späten 16. Jahrhundert durch christliche Missionare bezeugt, damals oft durch Ertränken. Dass davon überwiegend Mädchen betroffen sind, kann für die gesamte Qing-Dynastie als gesellschaftlich akzeptiert angenommen werden. In der kommunistischen Phase der Republik China (1912–1949) scheint diese Praxis unterbunden worden zu sein.

1979 erstmals eingeführt, ist die Technik für pränatale Geschlechtserkennung in China seit etwa 2001 flächendeckend verfügbar.[28] Die 1979/1980 eingeführte „Ein-Kind-Politik“ steigerte den Wunsch vieler Eltern nach männlichen Nachkommen erheblich. Wesentlich scheinen dafür kulturelle Gründe, etwas dass Jungen den Familiennamen weitertragen. Gemäß der patriarchalen Tradition gehören in China Frauen der Familie des Ehemanns; einem alten chinesischen Sprichwort zufolge sind Frauen „wie Wasser, das man wegschüttet“. In China ist die Staatliche Kommission für Gesundheitswesen und Familienplanung verantwortlich für die Abtreibungspolitik und ihre Auswirkungen. Ihre Vorsitzende, Li Bin, versprach 2012, im nächsten Fünfjahresplan für ein größeres Geschlechtergleichgewicht zu sorgen. Effektive Maßnahmen wurden bislang nicht getroffen.[5]

Pakistan

Für Pakistan ist die Datenlage besonders unklar. Schwangerschaftsabbrüche sind aufgrund der islamisch geprägten Gesetzgebung weithin illegal, finden aber häufig unter prekären Bedingungen statt. Die geringere Verbreitung von Ultraschallgeräten verunmöglicht dabei die pränatale Geschlechtsselektion. Allerdings ist die Tötung neugeborener Mädchen in Pakistan, die schon im 19. Jahrhundert belegt ist, häufig. So wurden im Jahr 2010 allein in den Großstädten Pakistans 1210 getötete, nicht selten auf Müllhalden deponierte Babys dokumentiert, „überwiegend Mädchen.“[29][30]

Südkorea

In Südkorea war die geschlechtsselektive Abtreibung von Mädchen von Mitte der 1980er bis Anfang der 1990er Jahre verbreitet. 1991 kamen etwa 119 Jungen- auf 100 Mädchengeburten. In den 1990er Jahren begann eine Kampagne der Regierung, die über die negativen Folgen des diskriminierend verschobenen Geschlechterverhältnisses aufklärte und das Verbot geschlechtsselektiver Abtreibungen effektiver umsetzte. Einhergehend mit der allgemeinen wirtschaftlichen und soziokulturellen Entwicklung (Industrialisierung, Verstädterung, Förderung der Bildung von Frauen, staatliches Rentensystem, sodass Eltern in ihrer Altersvorsorge weniger von verdienenden Söhnen abhängig sind) sank die Zahl der geschlechtsselektiven Abtreibungen seither erheblich.[31][32]

Situation in Europa

Auch in einzelnen Staaten auf dem europäischen Kontinent sind selektive Abtreibungen wegen des Geschlechts dokumentiert.

Südosteuropa

In einer Resolution des Europarats vom November 2011[33] heißt es, die „pränatale Geschlechtsselektion hat besorgniserregende Ausmaße angenommen“. Albanien, Aserbaidschan, Armenien und Georgien werden dafür gerügt und zu Maßnahmen aufgerufen, die der Geschlechtsselektion von Mädchen und der mangelnden Gleichberechtigung entgegenwirken. Eine statistische Untersuchung den Staaten der ehemaligen Sowjetunion errechnete im Jahr 2013 für Aserbaidschan, Armenien und Georgien, dass dort 10% zu wenig Mädchen geboren werden. Unter den erstgeborenen Kindern kamen in Armenien beispielsweise 138 Jungen auf 100 Mädchen; wenn das Erstgeborene ein Mädchen ist, kamen auf 100 zweitgeborene Mädchen sogar 154 Jungen.[34]

Weil Abtreibung dem Gesundheitsbereich zugeordnet wird, und nicht der Menschenrechtspolitik, gibt es derzeit in der Europäischen Union keine rechtliche Handhabe, gegen die Abtreibungspraxis bei EU-Kandidaten auf dem Balkan vorzugehen.

Schweden

Der schwedische Nationale Gesundheits- und Wohlfahrtsrat Socialstyrelsen stellte 2009 ausdrücklich fest, dass geschlechtsselektive Schwangerschaftsabbrüche nicht zurückgewiesen werden dürfen. Jede schwangere Frau hat bis zur 18. Woche das Recht auf eine Abtreibung ohne Angabe von Gründen (SFS 1974:595), wobei die Feststellung des Geschlechts auch vor dieser Frist nicht beschränkt ist.[35][36]

Deutschland

In Deutschland darf das Geschlecht gemäß § 15 Art. 1 GenDG erst nach Ablauf der 12. Schwangerschaftswoche mitgeteilt werden; spätere Abbrüche sind nur nach bestimmten Indikationen straffrei.[37]

Situation in Afrika

In vielen afrikanischen Ländern werden Söhne bevorzugt und geschlechtsselektive Abtreibungen kommen vor, sofern die erforderliche Technik zur Verfügung steht. In einer Studie von 2019 erscheint Tunesien als einziges afrikanisches Land mit einem statistisch signifikanten Mädchenüberschuss bei der Sexualproportion der Geborenen.[15] In den meisten afrikanischen Ländern ist die Sexualproportion der Geborenen ausgeglichen oder es werden sogar verhältnismäßig mehr Mädchen geboren. Die meisten afrikanischen Länder haben ein restriktives Abtreibungsrecht; zudem sind die Fertilitätsraten (Zahl der Kinder pro Frau) oft hoch.

Situation in Nordamerika

In den Vereinigten Staaten von Amerika kommt es vor allem in asiatischen Einwandererfamilien zu einer Bevorzugung männlicher Nachkommen und geschlechtsselektiven Schwangerschaftsabbrüchen, welche in einzelnen Bundesstaaten explizit verboten wurden. Verlässliche Daten gibt es aber nicht. Ein Gesetzesentwurf zum bundesweiten Verbot geschlechtsselektiver Abbrüche scheiterte 2012 im Repräsentantenhaus.[38]

In Kanada, wo es bislang keine gesetzliche Einschränkungen für Abtreibungen gibt, das Geschlechterverhältnis der Geborenen insgesamt aber ausgewogen ist, wird im Parlament derzeit (26. Februar 2020) über einen Gesetzesentwurf für einen Sex-selective Abortion Act diskutiert, der geschlechtsselektive Abtreibungen unter Strafe stellen soll.[39]

Folgen

Die ethische Kontroverse bezüglich Schwangerschaftsabbrüchen und Menschenrechten betrifft bei der geschlechtsselektiven Abtreibung insbesondere das Verhältnis von weiblicher Selbstbestimmung (der Schwangeren) und weiblicher Diskriminierung (der ungeborenen Mädchen) bzw. von Freiheitsrechten und patriarchalen Einstellungen. Auch in (westlichen) Ländern ohne klaren Trend bezüglich des Wunschgeschlechts der Kinder wird die Legitimität geschlechtlicher Selektion in der Bioethik diskutiert.[40]

Als globale Folge selektiver Abtreibungen droht nach Ansicht einiger Experten noch in diesem Jahrhundert das größte Geschlechterungleichgewicht der Menschheitsgeschichte. Der Demographieforscher Christopher Guilmoto nennt diese Entwicklung eine „alarmisierende Maskulinisierung“ der Welt.[5] Die Ökonomin Jayati Ghosh von der Jawaharlal-Nehru-Universität in Delhi sieht in dem langfristigen Mangel an Frauenarbeitskraft eine akute Bedrohung für das Wachstum in den dynamischsten Volkswirtschaften der Welt in Asien.[5]

Soziologen zufolge könnte der Frauenmangel eine zukünftige Ursache für soziale Gewalt und Krieg sein.[41] Männerplus und Kapitalakkumulation können eine verstärkte Militarisierung zur Folge haben. Die Schweizer Abgeordnete im Europarat Doris Stump warnt außerdem vor einer Zunahme von Frauenhandel, Prostitution und Gewalt in Familien. Politiker in China müssen in Zukunft Wege finden, wie sich ein Sozialsystem stabilisieren lässt, in dem eine große Anzahl junger Männer ohne Aussicht auf verlässliche soziale Bindung bleiben wird. Prognosen zufolge könnten fünfzehn bis zwanzig Prozent der Männer im heiratsfähigen Alter keine Partnerin finden. In China haben diese Männer zu 97 % keinen höheren Schulabschluss; kulturübergreifend werden Gewaltverbrechen zumeist von jungen, unverheirateten Männern mit niedrigem Status begangen.[42] Eine andere Folge dieser Entwicklung ist schon heute der Frauenraub. Auf Jobmessen kommt es immer wieder zu Entführungen von jungen Wanderarbeiterinnen, die später an Junggesellen verkauft werden.[43] Es wird von Frauen aus Vietnam, Myanmar und Nordkorea berichtet, die für Zwangsheiraten nach Festlandchina gehandelt werden.[44]

Siehe auch

Literatur

  • Weltgesundheitsorganisation (Hrsg.): Preventing gender-biased sex selection. An interagency statement OHCHR, UNFPA, UNICEF, UN Women and WHO. 2011, ISBN 978-92-4150146-0 (englisch, unfpa.org [PDF; abgerufen am 25. April 2020]).
  • Mara Hvistendahl: Das Verschwinden der Frauen. Selektive Geburtenkontrolle und die Folgen. dtv, München 2013, ISBN 978-3-423-28009-9.
  • Laura Rahm: Gender-Biased Sex Selection in South Korea, India and Vietnam. Assessing the Influence of Public Policy (= Demographic Transformation and Socio-Economic Development. Band 11). Springer, 2020, ISBN 978-3-03020233-0, doi:10.1007/978-3-030-20234-7.
  • Sharada Srinivasan, Shuzhuo Li (Hrsg.): Scarce Women and Surplus Men in China and India. Macro Demographics versus Local Dynamics (= Demographic Transformation and Socio-Economic Development. Band 8). Springer, 2018, ISBN 978-3-319-63274-2, doi:10.1007/978-3-319-63275-9.
  • Isabelle Attané: The Demographic Masculinization of China. Hoping for a Son (= INED Population Studies. Band 1). Springer, 2013, ISBN 978-3-319-00235-4, doi:10.1007/978-3-319-00236-1.
  • Isabelle Attané, Christophe Z. Guimoto (Hrsg.): Watering the Neighbour’s Garden. The Growing Demographic Female Deficit in Asia. Committee for International Cooperation in National Research in Demography, Paris 2007, ISBN 2-910053-29-6 (englisch, cicred.org [PDF; abgerufen am 23. April 2020] Tagungsband).

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Übersicht in Therese Hesketh & Zhu Wei Xing (2006): Abnormal sex ratios in human populations: Causes and consequences. Proceedings of the National Academy of Sciences USA Vol. 103 No. 36: 13271-13275. doi:10.1073/pnas.0602203103 (open access)
  2. Der Tod der ungeborenen Mädchen im Kaukasus. In: www.welt.de. 12. Dezember 2013, abgerufen am 3. November 2019.
  3. James F. X. Egan, Winston A. Campbell, Audrey Chapman, Alireza A. Shamshirsaz, Padmalatha Gurram, Peter A. Benn (2011): Distortions of sex ratios at birth in the United States; evidence for prenatal gender selection. Prenatal Diagnostics 31: 560–565. doi:10.1002/pd.2747
  4. Sylvie Dubuc & David Coleman (2007): An Increase in the Sex Ratio of Births to India-born Mothers in England and Wales: Evidence for Sex-Selective Abortion. Population and Development Review 33(2): S. 383–400.
  5. a b c d e f g Georg Blume: Der mörderische Makel Frau. Die Zeit, 15. März 2012, S. 4, abgerufen am 7. Mai 2013.
  6. a b The Wold Bank DataBank, Gender Statistics, Sex ratio at birth. (Unter „Layout“, „Format Numbers“, „Precision“ 0.0000 auswählen!)
  7. Sex ratio. In: Central Intelligence Agency (Hrsg.): The World Factbook.
  8. China faces growing sex imbalance. BBC News, 11. Januar 2010, abgerufen am 18. April 2020 (englisch).
  9. Xinhua: China's sex ratio declines for two straight years. english.news.cn, 16. August 2011, archiviert vom Original am 22. Februar 2015; abgerufen am 18. April 2020 (englisch).
  10. Kang C, Wang Y. Sex ratio at birth. In: Theses Collection of 2001 National Family Planning and Reproductive Health Survey. Beijing: China Population Publishing House, 2003, S. 88–98.
  11. Poston, Dudley L Jr. et al.: China's unbalanced sex ratio at birth, millions of excess bachelors and societal implications. In: Vulnerable Children and Youth Studies. Band 6, Nr. 4, 2011, S. 314–320, doi:10.1080/17450128.2011.630428 (englisch).
  12. UNFPA Asia and the Pacific Regional Office (Hrsg.): Sex Imbalances at Birth. Current trends, consequences and policy implications. 2012, ISBN 978-974-680-338-0 (englisch, demographie.net [PDF; abgerufen am 25. April 2020]).
  13. Tania Branigan: China's Great Gender Crisis. The Guardian, 2. November 2011, abgerufen am 18. April 2020 (englisch).
  14. Vgl. Amartya Sen: More than 100 million women are missing, New York Review of Books, S. 61–66.
  15. a b Chao, Fengqing; Gerland, Patrick; Cook, Alex R.; Alkema, Leontine: Systematic assessment of the sex ratio at birth for all countries and estimation of national imbalances and regional reference levels. In: Proceedings of the National Academy of Sciences. 116. Jahrgang, Nr. 19, 7. Mai 2019, S. 9303–9311, doi:10.1073/pnas.1812593116, PMID 30988199, PMC 6511063 (freier Volltext).
  16. Starke Frauen – starke Kinder (2007), Information von unicef.de.
  17. Devaney SA, Palomaki GE, Scott JA, Bianchi DW: Noninvasive Fetal Sex Determination Using Cell-Free Fetal DNA. In: JAMA. 306. Jahrgang, Nr. 6, 2011, S. 627–636, doi:10.1001/jama.2011.1114, PMID 21828326, PMC 4526182 (freier Volltext).
  18. Michelle Roberts: Baby gender blood tests 'accurate' In: BBC News Online, 10 August 2011 
  19. Mazza V, Falcinelli C, Paganelli S, et al: Sonographic early fetal gender assignment: a longitudinal study in pregnancies after in vitro fertilization. In: Ultrasound Obstet Gynecol. 17. Jahrgang, Nr. 6, Juni 2001, S. 513–6, doi:10.1046/j.1469-0705.2001.00421.x, PMID 11422974.
  20. Alfirevic Zarko, von Dadelszen P.: Instruments for chorionic villus sampling for prenatal diagnosis. In: Cochrane Database Syst Rev. Nr. 1, 2003, S. CD000114, doi:10.1002/14651858.CD000114, PMID 12535386.
  21. Report of the International Workshop on Skewed Sex Ratios at Birth United Nations FPA (2012).
  22. Mevlude Akbulut-Yuksel, Daniel Rosenblum: The Indian Ultrasound Paradox. In: IZA Discussion Paper. Nr. 6273, Januar 2012. SSRN 1989245.
  23. Slogan zitiert in Mala Sen: Death by Fire. Sati, Dowry Death and Female Infanticide in Modern India, London 2001, S. 187; vgl. Romy Klimke: Schädliche traditionelle und kulturelle Praktiken im internationalen und regionalen Menschenrechtsschutz (= Armin von Bogdandy, Anne Peter [Hrsg.]: Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Beiträge zum ausländischen öffentlichen Recht und Völkerrecht. Band 281). Springer, Berlin, Heidelberg 2019, ISBN 978-3-662-58756-0, S. 105–107, doi:10.1007/978-3-662-58757-7.
  24. Pre- Conception & Pre- Natal. Diagnostic Techniques Act, 1994 and Rules with Amendments Ministry of Health and Family Welfare, Indien.
  25. C. Chandramouli, Registrar General & Census Commissioner, India: Child Sex Ratio in India (2011). Archivversion. Siehe auch Datei:2011 Census sex ratio map for the states and Union Territories of India Boys to Girls 0 to 1 age group.svg.
  26. Slogan zitiert in Mala Sen: Death by Fire. Sati, Dowry Death and Female Infanticide in Modern India, London 2001, S. 187; vgl. Romy Klimke: Schädliche traditionelle und kulturelle Praktiken im internationalen und regionalen Menschenrechtsschutz (= Armin von Bogdandy, Anne Peter [Hrsg.]: Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Beiträge zum ausländischen öffentlichen Recht und Völkerrecht. Band 281). Springer, Berlin, Heidelberg 2019, ISBN 978-3-662-58756-0, S. 107, doi:10.1007/978-3-662-58757-7. Dies betrifft bspw. Haryana und Punjab, bei denen es sich jeweils um reiche Staaten mit Bauern und Großgrundbesitzern handelt, vgl. Mala Sen: Death by Fire. Sati, Dowry Death and Female Infanticide in Modern India, London 2001, S. 271.
  27. Vgl. Renate Syed: „Ein Unglück ist die Tochter“. Zur Diskriminierung des Mädchens im alten und im heutigen Indien. Wiesbaden 2001, ISBN 978-3-447-04334-2, S. 66.
  28. Chu Junhong: Prenatal Sex Determination and Sex-Selective Abortion in Rural Central China. In: Population and Development Review. 27. Jahrgang, Nr. 2, 2001, S. 260, doi:10.1111/j.1728-4457.2001.00259.x.
  29. AFP: Infanticide on the rise: 1,210 babies found dead in 2010, says Edhi – The Express Tribune. In: Tribune. 28. Januar 2011, abgerufen am 29. April 2020 (englisch).
  30. Imtiaz Ahmad: Illegitimate newborns murdered and discarded. Deutsche Welle, 22. April 2014, abgerufen am 17. April 2020.
  31. Christina Hitrova: Female Infanticide and Gender-based Sex-selective Foeticide. In: Laurent/Platzer/Idomir (Hrsg.): Femicide. A Global Issue that demands action. Wien 2013, ISBN 978-3-200-03012-1, S. 74–77, 77 (englisch, genevadeclaration.org [PDF; abgerufen am 21. April 2020]).
  32. Pliillan Joun: Ethische Probleme der selektiven Abtreibung. Die Diskussion in Südkorea. Hrsg.: Zentrum für Medizinische Ethik Bochum (= Medizinethische Materialien. Heft 147). 2004, ISBN 3-931993-28-0 (ruhr-uni-bochum.de [PDF; abgerufen am 25. April 2020]).
  33. Resolution 1829 (2011) Prenatal sex selection. Europarat, 3. Oktober 2011, archiviert vom Original (nicht mehr online verfügbar) am 30. Oktober 2013; abgerufen am 13. Mai 2013 (englisch).
  34. Marc Michael et al.: The mystery of missing female children in the Caucasus. An analysis of sex ratios by birthorder. In: International perspectives on sexual and reproductive health. Band 39, Nr. 2, 2013, ISSN 1944-0391, S. 97–102, doi:10.1363/3909713 (englisch).
  35. Sweden rules 'gender-based' abortion legal. The Local, 20. Mai 2009, abgerufen am 18. April 2020 (englisch).
  36. Susanne Kummer: Genderzid. Gezielte Abtreibung von Mädchen – ein weltweites Problem. In: Imago Hominis. Band 20, Nr. 1, 2013, S. 10–12 (imabe.org [abgerufen am 18. April 2020]).
  37. Holger Dambeck: Abtreibungen: Ärzte sollen Geschlecht von Föten geheim halten. Spiegel Online, 13. September 2011, abgerufen am 29. April 2020.
  38. Jennifer Steinhauer: House Rejects Bill to Ban Sex-Selective abortions. The New York Times, 31. Mai 2012, abgerufen am 18. April 2020 (englisch).
  39. Parliament of Canada: Bill C-233 (First Reading), February 26, 2020, auf parl.ca, abgerufen am 29. April 2020.
  40. Irmgard Nippert: Perspektiven der Geschlechtsselektion. In: Wolfgang van den Daele (Hrsg.): Biopolitik (= Leviathan. Band 23). VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2005, ISBN 978-3-531-14720-8, S. 201–233, doi:10.1007/978-3-322-80772-4_8.
  41. Sebastian Schnettler, Andreas Filser: Demographische Maskulinisierung und Gewalt. Ein Forschungsbericht aus evolutionstheoretischer und sozialwissenschaftlicher Perspektive. In: Gerald Hartung, Matthias Herrgen (Hrsg.): Interdisziplinäre Anthropologie. Jahrbuch 2/2014: Gewalt und Aggression. Springer, Wiesbaden 2015, ISBN 978-3-658-07409-8, S. 130–142, doi:10.1007/978-3-658-07410-4_10.
  42. Therese Hesketh, Li Lu, Zhu Wei Xing: The consequences of son preference and sex-selective abortion in China and other Asian countries. In: CMAJ. Band 183, Nr. 12, 6. September 2011, S. 1374–1377, doi:10.1503/cmaj.101368 (englisch).
  43. Angela Köckritz, Elisabeth Niejahr: China: Die Einsamkeit der vielen. In: Zeit Online. 17. November 2012, abgerufen am 24. Juni 2015 (Nr. 46/2012).
  44. Jonathan V. Last: The War Against Girls. The Wall Street Journal, 24. Juni 2011, abgerufen am 24. Juni 2015.