Epigenetik

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Die Epigenetik (altgr. ἐπί epi ‚dazu‘, ‚außerdem‘ und Genetik) ist das Fachgebiet der Biologie, welches sich mit der Frage befasst, welche Faktoren die Aktivität eines Gens und damit die Entwicklung der Zelle zeitweilig festlegen. Sie untersucht die Änderungen der Genfunktion, die nicht auf Mutation beruhen und dennoch an Tochterzellen weitergegeben werden.

Grundlage sind Veränderungen an den Chromosomen, wodurch Abschnitte oder ganze Chromosomen in ihrer Aktivität beeinflusst werden. Man spricht auch von epigenetischer Veränderung bzw. epigenetischer Prägung.[1] Die DNA-Sequenz wird dabei jedoch nicht verändert. Die Veränderungen können in einer DNA-Methylierung, in einer Modifikation der Histone oder im beschleunigten Abbau von Telomeren bestehen. Diese Veränderungen lassen sich im Phänotyp, aber nicht im Genotyp (DNA-Sequenz) beobachten.[2]

Einführung

Funktion epigenetischer Veränderungen
Bei der Vererbung wird Erbgut weitergegeben. Epigenetische Fixierung bewirkt, dass die totipotenten Zellen reifen und sich spezialisieren. Der Reifungsprozess ist normalerweise nicht umkehrbar. (Jeder Pfeil deutet eine Zellteilung an. Dabei wird die Zelle verändert. Diese Veränderungen werden mit dem Erbgut an die Tochterzellen weitergegeben. Es handelt sich dabei nicht um Sequenzveränderungen der DNA.)

Nach der Befruchtung teilt sich die Eizelle. Bis zum 8-Zell-Stadium sind alle Tochterzellen gleichwertig. Man bezeichnet sie als totipotent, weil jede von ihnen noch alleine in der Lage ist, einen kompletten Organismus hervorzubringen. Danach finden sich Zellen mit einem unterschiedlichen inneren Programm, deren Entwicklungspotenzial von nun an eingeschränkt – d. h. mehr und mehr spezialisiert – wird. Wenn der Körper fertig ausgebildet ist, sind die meisten Körperzellen für ihre Funktion fest programmiert (lediglich die sogenannten adulten Stammzellen bewahren sich eine gewisse Flexibilität). Dabei bleibt die Sequenz des Erbgutes unverändert (abgesehen von wenigen zufälligen, genetischen Veränderungen = Mutationen). Die funktionelle Festlegung erfolgt durch verschiedene Mechanismen, einer davon beruht auf biochemischen Modifikationen an einzelnen Basen der Sequenz oder der die DNA verpackenden Histone oder beiden. Solche Veränderungen führen dazu, dass bestimmte Bereiche des Erbgutes „stillgelegt“, andere dafür leichter transkribiert (in RNA für Proteine umgeschrieben) werden können. Diese Modifizierungen sehen in Körperzellen ganz anders aus als in Stammzellen oder in Keimzellen (Eizellen und Spermien; auch Krebszellen haben meist abweichende [und dabei spezifische] Modifikationsmuster). Die wichtigsten Modifikationen sind die Methylierung von Cytidin-Basen in Cytosin-Guanosin-Nukleotid-Dimeren (CpG) (DNA-Methylierung) sowie die Seitenketten-Methylierung und -Acetylierung von Histonen.

Neben Methylierung haben Telomere eine wichtige epigenetische Bedeutung. Telomere schützen die Enden der Chromosomen bei der Zellteilung vor dem Abbau. Das Enzym Telomerase stellt dabei sicher, dass die Chromosomen intakt bleiben. Psychische Belastung kann die Aktivität dieses Enzyms verringern, was zu einer beschleunigten Verkürzung der Telomere im Alterungsprozess führen kann (Nobelpreis für Medizin 2009 an Elizabeth Blackburn).

Begriff

Epigenetisch sind alle Prozesse in einer Zelle, die als „zusätzlich“ zu den Inhalten und Vorgängen der Genetik gelten. Conrad Hal Waddington hat den Begriff Epigenetik erstmals benutzt. Im Jahr 1942 (als die Struktur der DNA noch unbekannt war) definierte er Epigenetik als the branch of biology which studies the causal interactions between genes and their products which bring the phenotype into being („der Zweig der Biologie, der die kausalen Wechselwirkungen zwischen Genen und ihren Produkten, die den Phänotyp hervorbringen, untersucht“). Zur Abgrenzung vom allgemeineren Konzept der Genregulation sind heutige Definitionen meist spezieller, zum Beispiel: „Der Begriff Epigenetik definiert alle meiotisch und mitotisch vererbbaren Veränderungen in der Genexpression, die nicht in der DNA-Sequenz selbst codiert sind.“[3] Andere Definitionen, wie die von Adrian Peter Bird, einem der Pioniere der Epigenetik, vermeiden die Einschränkung auf generationsübergreifende Weitergabe. Epigenetik beschreibe „die strukturelle Anpassung chromosomaler Regionen, um veränderte Zustände der Aktivierung zu kodieren, zu signalisieren, oder zu konservieren.“[4]

Epigenese

Mit dem Ausdruck Epigenese werden die graduellen Prozesse der embryonalen Morphogenese von Organen beschrieben. Diese beruhen auf Mechanismen auf der Ebene von Zellen und Zellverbänden, das sind Turing-Mechanismen oder allgemein Musterbildungsprozesse in der Biologie. Beispiele hierfür findet man etwa bei der Erklärung der embryonalen Extremitätenentwicklung der Wirbeltiere.

Zugehörige Begriffe

Zu den epigenetischen Prozessen zählt man die Paramutation, das Bookmarking, das Imprinting, das Gen-Silencing, die X-Inaktivierung, den Positionseffekt, die Reprogrammierung, die Transvection, maternale Effekte (paternale Effekte sind selten, da wesentlich weniger nicht-genetisches Material mit dem Spermium „vererbt“ wird), den Prozess der Karzinogenese, viele Effekte von teratogenen Substanzen, die Regulation von Histonmodifikationen und Heterochromatin sowie technische Limitierungen beim Klonen.

Epigenetik im Vergleich zur Genetik

Man kann den Begriff Epigenetik verstehen, wenn man sich den Vorgang der Vererbung vor Augen führt:

  • Vor einer Zellteilung wird die Erbsubstanz verdoppelt. Jeweils die Hälfte des verdoppelten Genoms wird dann auf eine der beiden Tochterzellen übertragen. Bei der sexuellen Vermehrung des Menschen, der Fortpflanzung, werden von der Eizelle die Hälfte des mütterlichen Erbguts und vom Spermium die Hälfte des väterlichen Erbguts miteinander vereint.
  • Die Molekulargenetik beschreibt die Erbsubstanz als Doppelhelix aus zwei Desoxyribonukleinsäure-Strängen, deren Rückgrat aus je einem Phosphat-Desoxyribosezucker-Polymer besteht. Die genetische Information ist durch die Reihenfolge der vier Basen Adenin (A), Cytosin (C), Guanin (G) und Thymin (T) bestimmt, die jeweils an einen der Desoxyribose-Zucker angehängt sind.
  • Die Basen des einen Stranges paaren sich fast immer mit einer passenden Base des zweiten Stranges. Adenin paart sich mit Thymin, und Cytosin paart sich mit Guanin.
  • In der Reihenfolge der Bausteine A, C, G, T (der Basensequenz) ist die genetische Information verankert.

Einige Phänomene der Vererbung lassen sich nicht mit dem gerade beschriebenen DNA-Modell erklären:

  • Bei der Zelldifferenzierung entstehen im Verlauf von Zellteilungen Tochterzellen mit anderer Funktion, obwohl das Erbgut in allen Zellen gleich ist. Die Festlegung der funktionellen Identität einer Zelle ist ein Thema der Epigenetik.
  • Es gibt Eigenschaften, die nur vom Vater her (paternal) „vererbt“ werden, so wie es Eigenschaften gibt, die nur von der Mutter (maternal) stammen und die nicht mit der Basensequenz in Zusammenhang stehen. Störungen dieses Zustandes führen zu schweren Krankheiten.
  • Bei der Rückumwandlung von funktionell festgelegten Zellen (terminal differenzierte Zellen) in undifferenzierte Zellen, die sich wieder in verschiedene Zellen entwickeln können und die bei der Klonierung von Individuen (z. B. von Dolly) eingesetzt werden, müssen epigenetische Fixierungen aufgehoben werden, damit eine Zelle nicht auf eine einzige Funktion festgelegt bleibt, sondern wieder alle oder viele Funktionen erwerben und vererben kann.
Struktur eines Nukleosoms mit Histonen der Taufliege
Die DNA ist um den Kern aus acht Histon-Untereinheiten (je zwei H2a, H2b, H3 und H4) gewickelt und macht etwa 1,7 Umdrehungen. An das Stück DNA zwischen zwei Nukleosomen bindet Histon 1 (H1). Die Enden der Histone sind für epigenetische Modifizierung verfügbar: Methylierung, Acetylierung oder Phosphorylierung. Dadurch wird die Verdichtung oder Ausdehnung des Chromatins beeinflusst.[5]

Histone und ihre Rolle bei der epigenetischen Fixierung

DNA liegt im Zellkern nicht nackt vor, sondern ist an Histone gebunden. Acht verschiedene Histonproteine, jeweils zwei Moleküle von Histon 2A, Histon 2B, Histon 3 und Histon 4 bilden den Kern eines Nukleosoms, auf das 146 Basenpaare eines DNA-Stranges aufgespult sind. Die Enden der Histonstränge ragen aus dem Nukleosom heraus und sind Ziel von Histon-modifizierenden Enzymen. Vor allem Methylierungen und Acetylierungen an Lysin, Histidin oder Arginin, außerdem Phosphorylierungen an Serinen sind die bekannten Modifizierungen. Außerdem spielt es eine Rolle, ob die Lysin-Seitenkette mit ein, zwei oder drei Methyl-Gruppen belegt ist. Durch vergleichende Analyse postuliert man eine Art von „Histon-Code“, der in direktem Zusammenhang mit der Aktivität des von den Histonen jeweils gebundenen Gens stehen soll.

Einfluss von Methylierung und Acetylierung auf die Konformation des Chromatins
Die Histonseitenketten in den Nukleosomen können enzymatisch verändert werden. Dadurch ändert sich das Volumen eines Gensegments. Kleinere Volumina, geschlossene Konformation, Chromosomkondensierung und Inaktivität eines Gens stehen auf der einen Seite, größere Volumina, offene Konformation und Gen-Aktivität auf der anderen. Zwischen beiden Seiten ist ein Übergang möglich, der durch Anheftung und Abspaltung von Methylgruppen an Cytidin-Basen, durch Methylierung, Demethylierung, Acetylierung oder Deacetylierung mit Hilfe von Enzymen bewirkt wird.

Generell kann man sagen, dass Anheftung von Acetyl-Gruppen an die Lysin-Seitenketten der Histone zur Öffnung der Nukleosomen-Konformation führt, wodurch das Gen für die Transkription durch die RNA-Polymerase verfügbar wird. Durch eine verstärkte Anheftung von Methyl-Gruppen an Lysin-Seitenketten werden Proteine angeheftet wie z. B. das Methyl-bindende Protein MeCB, die die Genexpression unterdrücken, reprimieren, daher auch Repressorproteine genannt, wodurch die Histon-Konformation geschlossen wird und keine Transkription möglich ist.

Methoden der epigenetischen Forschung

Restriktionsendonukleasen, die nur an demethylierten CG-Dimeren schneiden

HpaII (Die zweite Restriktionsendonuklease aus Haemophilus parainfluenza) schneidet CCGG-Palindrome nur, wenn die CG-Dimere nicht methyliert sind, im Vergleich zu BsiSI (aus Bacillus), die auch methylierte CmeCGG-Palindrome schneidet. Tryndiak und Mitarbeiter zeigen damit, dass bei Zellen auf dem Weg zum Mammakarzinom ein fortschreitender globaler Verlust von DNA-Methylierung mit einer fehlgeleiteten Bildung der DNMT1, meCG-bindender Proteine und Veränderungen in den Histonen einhergeht.[6]

Bisulfit-Sequenzierung

Durch Behandlung von DNA mit Natriumhydrogensulfit (alter Name „Bisulfit“) wird Cytosin (C) in Uracil (U) umgewandelt. Bei einer anschließenden Sequenzierung findet man daher an den Stellen, wo vorher ein C war, nun ein U/T. Da bisulfit-behandelte DNA sehr labil ist, wird daher das Gen, das man analysieren möchte, mittels PCR wieder amplifiziert. Bei der nachfolgenden Sequenzierung werden dann T bzw. TG (Thymin-Guanosin-Dimere) identifiziert, wo in der unbehandelten DNA Cytosin bzw. CG-Dimere existierten.

Für die epigenetische Analyse ist wichtig, dass nur nicht-methylierte C-Basen konvertiert werden, während meC in CG-Dimeren nicht in Thymin konvertiert werden. Man kann daher mit dieser Methode exakt analysieren, welche CG-Dimere in einer bestimmten Zelle methyliert waren. Indem man das bisulfit-behandelte Genstück, das man analysieren möchte, nach der PCR-Amplifikation kloniert und verschiedene Klone sequenziert, erhält man eine Abschätzung, ob ein bestimmtes CG-Dimer gar nicht, vollständig oder nur partiell methyliert war. Bei der Methode des Pyrosequencing ist dieses Verfahren noch verfeinert und erlaubt genauere quantitative Aussagen: Man kann zum Beispiel den Schweregrad einer Tumorentartung mit dem Methylierungsgrad von CG-Inseln einzelner sogenannter Tumor-Suppressorproteine vergleichen und stellt fest, dass in bestimmten Tumoren des blutbildenden System (Hämatopoietisches System) bestimmte meCG-Dimere mit steigenden Schweregrad immer stärker methyliert sind.

Chromatin-Immunpräzipitation

Bei dieser Methode kann man bestimmen, ob ein bestimmtes Protein an ein gegebenes DNA-Stück bindet: Durch Behandlung mit Formaldehyd werden die bindenden Proteine mit der DNA chemisch verknüpft. Durch Behandlung mit Ultraschall wird die DNA dann in Bruchstücke von 50 bis 1000 Basenpaare fragmentiert mit den gebundenen Proteinen an der DNA hängend. In einem nächsten Schritt werden mit Antikörpern gegen das bindende Proteine die an ein Protein gebundenen Gene geFISHt. Nach der Auftrennung der chemischen Verknüpfung durch Hitzebehandlung in 300 mM Kochsalz-Lösung kann man mit einer PCR das interessierende Genstück amplifizieren und schließlich bestimmen, ob eine Amplifikation stattgefunden hat oder nicht. Im ersteren Fall war das Protein an das Gen assoziiert, im zweiten Fall nicht. Je nach dem, welches Protein man mit Antikörpern versucht zu FISHen, kann man z. B. sagen:

  • Die RNA-Polymerase hat an dem Gen gebunden, daher wurde es transkribiert, das Gen war aktiv.
  • Das meCG-bindende Protein (MeCP) war an das Gen gebunden, daher wurde dieses nicht transkribiert und war ruhiggestellt (engl. silencing).

Electrophoretic Mobility Shift Assay

Die unterschiedlichen DNA-Moleküle weisen unterschiedliche Laufverhalten in einer Gelelektrophorese auf.

Epigenetische Veränderungen im Lebenslauf

Epigenetik beschränkt sich nicht auf Vererbungsfälle. Zunehmende Beachtung finden epigenetische Forschungsergebnisse im Zusammenhang mit anhaltenden Veränderungen im Lebenslauf sowie im Zusammenhang mit der Ausbildung von Krankheiten. So konnte an 80 eineiigen Zwillingen nachgewiesen werden, dass sie im Alter von drei Jahren epigenetisch noch in hohem Maß übereinstimmen, nicht mehr aber im Alter von 50 Jahren, wenn sie wenig Lebenszeit miteinander verbrachten und/oder eine unterschiedliche medizinisch-gesundheitliche Geschichte hinter sich haben. So war der Methylierungsgrad bis zu zweieinhalb mal höher bei einem Zwilling, sowohl in absoluten Zahlen als auch was die Verteilung der epigenetischen Marker angeht. Ältere Zwillinge sind demnach trotz ihrer genetischen Identität epigenetisch um so verschiedener, je unterschiedlicher das Leben der Zwillinge verläuft. Der Grund liegt neben der erlebten Umwelt auch in der Ungenauigkeit bei der Übertragung von Methylgruppenmustern bei jeder Zellteilung. Schleichende Veränderungen summieren sich damit im Lauf eines Lebens immer stärker auf.[7]

Die Umstellung der Ernährung bei Arbeiterbienen nach Ablauf der ersten Wochen des Larvenstadiums auf eine einfache Pollen und Honigkost im Vergleich zur Königin verursacht eine hochgradige epigenetische Umprogrammierung des Larvengenoms. Mehr als 500 Gene wurden identifiziert, die von den umweltspezifisch verursachten Methylierungsveränderungen betroffen sind. Nicht nur Aktivierung bzw. Nichtaktivierung von Genen ist die Folge des Ernährungswandels sondern sogar alternatives Splicing und veränderte Genprodukte. [8]

Epigenetische Veränderungen als Erklärung von Krankheiten

Die Erklärung von Stressfaktoren bildet einen Schwerpunkt der epigenetischen Forschung. Individuen mit frühen traumatischen Lebenserfahrungen, zum Beispiel ausgelöst durch mangelnde Mutterschaftsfürsorge von Rattenmüttern, wurden dafür herangezogen. Stress setzt eine Kaskade von Hormonausschüttungen zu seiner Kontrollierung in Gang, deren Kette im Hypothalamus, einem Teil des Zwischenhirns beginnt. Nachgewiesen werden konnte, dass ein Glucocorticoid-Gen bei den betreffenden Individuen auffallend unterschiedliche Methylierungen aufweist. Entsprechend ist das Gen bei Vorliegen von Stressvergangenheit gehemmt. Das Genprodukt in der Nebennierenrinde als Endstation der Hormonkette ist in der Folge unterschiedlich.[9][10][11] Mehr als 900 Gene werden im Gehirn als Folge mütterlicher Verhaltensweisen herauf- oder herunterreguliert.

Die Ergebnisse konnten bei Menschen ebenfalls bestätigt werden. Das Rezeptorgen im Hippocampus stimmt beim Mensch mit dem anderer Säugetiere weit gehend überein. Epigenetische Veränderungen sind daher ähnlich wie bei den Ratten. Eine Studie mit Suizidkandidaten teilte Betroffene in zwei Gruppen auf, solche mit Missbrauchserfahrungen in der Kindheit und solche ohne. Nur bei den Kandidaten mit Mißbrauchsvergangenheit war das Rezeptorgen mit Methylierung blockiert.[12] Ein Trauma, das die Mutter in der Schwangerschaft erlebt, kann nach demselben epigenetischen Muster sogar anhaltende Folgen für das werdende Kind nach sich ziehen, die für das Kind Jahrzehnte lang bestehen bleiben.[13] Bei Mäusen führt regelmäßige Kokaingabe zu einem veränderten Muster epigenetischer Marker von einigen hundert Genen im Belohnungszentrum des Gehirns. Dies erhöht die Empfindlichkeit für die Drogenwirkung und steigert die Suchtgefahr.[14]

Die Größenordnung epigenetischer Veränderungen ist im Lebensverlauf um ein Vielfaches höher als die genetischer Mutationen. Die Wissenschaft erwartet daher künftige weitere neue Antworten auf eine Vielzahl von Krankheiten im alternden Organismus, die genetisch heute nicht erklärbar sind, darunter Schizophrenie, Alzheimer-Krankheit, Krebs, Altersdiabetes, Nervenkrankheiten und andere.[15]

„Vererbung“ epigenetischer Prägungen?

Von den Befunden zu epigenetischen Veränderungen werden vor allem in der Populärwissenschaft immer wieder Parallelen zum Lamarckismus gezogen und ein Widerspruch zur klassischen Genetik gesehen. Bisher existieren allerdings nur sehr wenige Hinweise, dass erlernte und erworbene Fähigkeiten von einer Generation zur anderen über die Keimzellen weitergegeben werden können.[16] Auch ist eine Weitergabe an die nachfolgende Generation noch kein Beweis für eine genetische Manifestation, auch wird häufig der Begriff „Generation“ als Beginn eines Individualzyklus falsch interpretiert.

Eine Vererbung epigenetischer Prägungen wurde 2003 von Randy Jirtle und Robert Waterland mittels Mäuseexperimenten vorgeschlagen.[17][18] Weiblichen Agoutimäusen wurde vor der Paarung und während der Schwangerschaft eine bestimmte Zusammensetzung an Nährstoffen verabreicht. Es zeigte sich, dass ein Großteil der Nachkommen nicht den typischen Phänotyp aufweist.

In einer Humanstudie untersuchten die beiden Genetiker Marcus Pembrey und Lars Olov Bygren sowie Mitarbeiter verschiedene Faktoren, die Aufschluss über die Lebensmittelverfügbarkeit und Sterbefälle der kleinen schwedischen Stadt Överkalix gaben.[19] Es zeigte sich, dass die meisten Personen, deren Großeltern in ihrer Kindheit genug zu essen hatten, mit zunehmendem Alter an Diabetes erkrankten.[20] Die Erkrankung trat allerdings nach einem bestimmten Muster auf, was auf epigenetische Veränderungen auf den Geschlechtschromosomen schließen lässt. So waren zum Beispiel, wenn der Großvater sehr viel zu essen hatte, von den Enkeln nur die männlichen Enkel betroffen.

Nach einer Hypothese von William R. Rice, Urban Friberg und Sergey Gavrilets aus dem Jahr 2012 könnte die Entstehung der menschlichen Homosexualität durch epigenetische „Vererbung“ verursacht sein. So würde bei einigen Individuen die sexuelle Präferenz der Mutter an den Sohn und die Präferenz des Vaters auf die Tochter übertragen. Das passiere dann, wenn die Epi-Marks bei den Genen, die für die sexuelle Ausrichtung verantwortlich sind, bei der Keimzelle erhalten blieben. So bilde dann beispielsweise ein Embryo zwar männliche Geschlechtsorgane aus, die sexuelle Ausrichtung auf das männliche Geschlecht wäre aber dieselbe wie bei der Mutter. Die Homosexualität des Menschen ist nach dieser Hypothese angeboren. Die Hypothese erklärt, weshalb das Vorkommen von Homosexualität beim Menschen über die Zeit statistisch stabil bleibt. Allerdings schreiben die Autoren um Rice auch, dass es sich lediglich um eine Hypothese handele, es hingegen bislang keine empirischen Hinweise für einen Zusammenhang zwischen Homosexualität und Epigenetik gebe.[21][22] Eine kritische Analyse der Hypothese von Rice et al. hat Heinz J. Voss vorgenommen.[22]

Literatur

Übersichtsartikel

Nachschlagewerke und Sachbücher

Anderes

Weblinks

Portale

Einzelbeiträge

Einzelnachweise

  1. Rudolf Hagemann: Epigenetik und Lamarckismus haben nichts gemeinsam! In: Laborjournal 4/2009; S. 12
  2. Benjamin Lewin: Gene. Lehrbuch der molekularen Genetik, 2. Auflage, VCH, Weinheim 1991, S. 885
  3. „The term epigenetics defines all meiotically and mitotically heritable changes in gene expression that are not coded in the DNA sequence itself.“ In: Gerda Egger et al.: Epigenetics in human disease and prospects for epigenetic therapy. Nature 429, S. 457-463 (2004)
  4. „... the structural adaptation of chromosomal regions so as to register, signal or perpetuate altered activity states.“ In: Adrian Peter Bird: Perceptions of epigenetics. In: Nature. Band 447, Nummer 7143, Mai 2007, S. 396–398, doi:10.1038/nature05913, PMID 17522671.
  5. Abbildung von Clapier et al., Proteindatenbank 2PYO; Clapier, CR. et al. (2007): Structure of the Drosophila nucleosome core particle highlights evolutionary constraints on the H2A-H2B histone dimer. In: Proteins 71 (1); 1–7; PMID 17957772; PMC 2443955 (freier Volltext)
  6. Tryndiak, VP. et al. (2006): Loss of DNA methylation and histone H4 lysine 20 trimethylation in human breast cancer cells is associated with aberrant expression of DNA methyltransferase 1, Suv4-20H2 histone methyltransferase and methyl-binding proteins. In: Cancer Biol Ther. 5(1), 65–70; PMID 16322686; PDF (freier Volltextzugriff, engl.)
  7. Mario F. Fraga, Esteban Ballestar, Maria F. Paz, Santiago Ropero, Fernando Setien, Maria L. Ballestar, Damia Heine-Suñer, Juan C. Cigudosa, Miguel Urioste, Javier Benitez, Manuel Boix-Chornet, Abel Sanchez-Aguilera, Charlotte Ling, Emma Carlsson, Pernille Poulsen, Allan Vaag, Zarko Stephan, Tim D. Spector, Yue-Zhong Wu, Christoph Plass, and Manel Esteller. Epigenetic differences arise during the lifetime of monozygotic twins. Proceedings oft he National Academy of Sciences oft he United States of America. 2005. July 26, 2005. Vol. 102. No. 30
  8. Frank Lyko, Sylvain Foret u. a.: The Honey Bee Epigenomes: Differential Methylation of Brain DNA in Queens and Workers. In: PLoS Biology. 8, 2010, S. e1000506, doi:10.1371/journal.pbio.1000506.
  9. Carlson NR: Physiology of Behavior. 11th Auflage. Allyn & Bacon, New York 2010, ISBN 978-0-205-23939-9, S. 605.
  10. Belanoff JK, Gross K, Yager A, Schatzberg AF: Corticosteroids and cognition. In: Journal of Psychiatric Research. 35. Jahrgang, Nr. 3, 2001, S. 127–45, doi:10.1016/S0022-3956(01)00018-8, PMID 11461709.
  11. Sapolsky RM: Glucocorticoids, stress and exacerbation of excitotoxic neuron death. In: Seminars in Neuroscience. 6. Jahrgang, Nr. 5, Oktober 1994, S. 323–331, doi:10.1006/smns.1994.1041.
  12. Patrick O McGowan, Aya Sasaki u. a.: Epigenetic regulation of the glucocorticoid receptor in human brain associates with childhood abuse. In: Nature Neuroscience. 12, 2009, S. 342, doi:10.1038/nn.2270.
  13. [‪https://www.gesundheitsindustrie-bw.de/de/fachbeitrag/pm/gewalt-an-schwangeren-veraendert-genetik-der-kinder/?pdf=1&nocache=1‪. Gewalt an Schwangeren verändert Genetik der Kinder]
  14. Maze, L. Nestler, E.J. TheEpigenetic Landscape of Addiction. in Annals of the New York Academy of Sciences 1216, S.99-113, 2011.
  15. Tsankova, N. et al. Epigenetic Regulation in Psychiatric Disorders. in. Nature Reviews Neuroscience 8, S. 355-367. 2007
  16. spiegel.de: Epigenetik: Mütter können Erfahrungen vererben, 4. Februar 2009.
  17. Ernährung aktuell, (Von der Österreichischen Gesellschaft für Ernährung wird viermal im Jahr die Zeitschrift „Ernährung aktuell“ herausgegeben.) 1/2007 S. 1-6
  18. Waterland, RA. und Jirtle, RL. (2003): Transposable elements: targets for early nutritional effects on epigenetic gene regulation. In: Mol Cell Biol. 23(15); 5293-5300; PMID 12861015; PMC 165709 (freier Volltext)
  19. M. E. Pembrey, L. O. Bygren, G. Kaati, S. Edvinsson, K. Northstone, M. Sjöström, J. Golding: Sex-specific, male-line transgenerational responses in humans. In: European journal of human genetics : EJHG. Band 14, Nummer 2, Februar 2006, S. 159–166, doi:10.1038/sj.ejhg.5201538, PMID 16391557; PDF (freier Volltextzugriff, engl.)
  20. scinexx.de: Umwelt oder Gene? Die Antwort der Zwillinge, 26. Februar 2013.
  21. William R. Rice, Urban Friberg, and Sergey Gavrilets: Homosexuality as a Consequence of Epigenetically Canalized Sexual Development. The Quarterly Review of Biology, Vol. 87, Nr. 4, Dezember 2012, PMID 23397798; ... Die Autoren verwendeten "published data ... to develop a new model for homosexuality."
  22. a b Heinz J. Voß: Epigenetik und Homosexualität (PDF; 564 kB).