Kirchspiel

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Kirchspiel bezeichnet ursprünglich einen Pfarrbezirk (Parochie), in dem die Ortschaften einer bestimmten Pfarrkirche und deren Pfarrer zugeordnet sind.[1] Nach dem Etymologischen Wörterbuch der deutschen Sprache ist ein Kirchspiel ein Bezirk, in dem ein Pfarrer predigen und die kirchlichen Amtspflichten ausüben darf.[2]

In einigen Regionen – wie zum Beispiel in den Herzogtümern Schleswig und Holstein oder in den Hansestädten Bremen und Hamburg – war ein Kirchspiel zugleich Verwaltungsbezirk, Gerichtsbezirk wie in Mittelhessen oder Bezirk für das militärische Aufgebot.[3][4]

Etymologie

Das Wort Kirchspiel ging im 13. Jahrhundert vom rheinischen Nordwesten aus, wo auch das niederländische dingspil zur Bezeichnung eines Rechtsgebietes galt[2] (Ding ist die kontinentalgermanische Lautung von Thing). Das zusammengesetzte Hauptwort „Kirchspiel“ meint eigentlich einen Kirchenpredigtbezirk. Im Grundwort steckt nicht „Spiel“, sondern althochdeutsch spël bzw. mittelhochdeutsch spël, spil mit der Bedeutung ‚Rede, Erzählung‘ bzw. im theologischen Kontext ‚Predigt‘. Das Grundwort spël ist auch im Wort Beispiel enthalten.[5]

In der altfriesischen Sprache lautete das Wort kerspel.[2]

Regionale Gebiete

Bremen

In der Demokratisierung der Freien Hansestadt Bremen hatten die vier Kirchspiele des 15. und 17. Jahrhunderts (benannt und eingeteilt nach vier damaligen Hauptkirchen der Stadt) vor allem als Stadt- bzw. Verwaltungsbezirke eine maßgebliche Funktion: sie waren die Wahlbezirke der unterprivilegierten Handwerker und Bürger, die den Aufstand der 104 Männer (1530–1532) gegen Bürgermeister, Bremer Rat, Kaufmannschaft (insbesondere der Elterleute) und Domkapitel der Stadt betrieben.

Die 104 waren jeweils viermal 26 Handwerker und Bürger aus den einzelnen Kirchspielen. Frustriert durch kleptokratische Verhaltensweisen der Stadtoberen und motiviert durch die sich seit 1517 ausbreitende Reformation bildeten sie eine erste de facto parlamentarische Vertretung der Bremer Bürger. Nach parlamentarischen, rechtlichen, kirchlichen und gewaltsamen Auseinandersetzungen, die Tote forderten und zeitweilig die Vertreibung von verschiedenen Oberschichtsangehörigen aus der Stadt zur Folge hatten, aber die Bürger der Stadt auch spalteten, wurde die Revolte 1532 niedergeschlagen. Die Stadtoberen versprachen eine Reform des Stadtrechtes (einschneidende Reformen zugunsten der Bürger gab es aber erst ab 1816 nach der Bremer Franzosenzeit), und die Rädelsführer wurden – zum Teil unter konstruierten Vorwürfen – verfolgt, enteignet, vertrieben oder auch hingerichtet.

Im Nachhinein werden die 104 als die erste Bremer Bürgerschaft (so der heutige Name des Bremer Parlaments) betrachtet. Während des Aufstandes stürmten die 104 auch den Bremer Dom (der seine Kirchspielfunktion im Jahrhundert davor abgab), vertrieben das ebenfalls an der weltlichen Herrschaft beteiligte Domkapitel und setzten durch, dass nur noch evangelisch und deutsch gepredigt wurde, wodurch der Reformation in der Stadt enorm Vorschub geleistet wurde; denn bereits zwei Jahre nach Niederschlagung des Aufstandes bekam Bremen 1534 eine neue kirchliche Verfassung.[4]

Dithmarschen

In der Bauernrepublik Dithmarschen bildeten die Kirchspiele unabhängige Einheiten. Das erste Kirchspiel entstand im Pfarrbezirk Meldorf. Sie bildeten nicht nur den Einzugsbereich der Pfarrkirche, sondern waren zugleich Verwaltungsbereiche. Sie wurden von einem Kollegium aus zwölf Großbauern, den Schlütern, regiert. Zur Zeit ihrer größten Machtfülle um 1350 waren sie zuständig für Deichwesen, die Gerichtsgewalt, Feuerpolizei, Heeresaufgebot sowie den Abschluss von Verträgen mit auswärtigen Mächten. Aus ihnen wurden später die Kirchspielslandgemeinden gebildet, noch heute tragen zwei Ämter dort die Bezeichnung „Amt Kirchspielslandgemeinde“.

Mehrere Kirchspiele bildeten eine „Döfft“, die einem „Vogt“ unterstand. Dieser führte jährlich eine Heerschau durch und führte das bewaffnete Aufgebot im Konflikt.

Herzogtum Lauenburg, Westmecklenburg

Für den Kreis Herzogtum Lauenburg und Westmecklenburg gibt das Ratzeburger Zehntregister einen Überblick über die Parochialgemeinden um 1230 samt den dort eingepfarrten Dörfern.

Dänemark

In Dänemark bildeten die evangelischen Kirchspiele (sogn) seit 1791 die einheitliche Verwaltungsgrundlage auf kommunaler Ebene. Sie wurden ab 1842 von einer zunächst von den örtlichen Landbesitzern, ab 1901 von der gesamten ansässigen Bevölkerung gewählten Kirchspielsvorständen geleitet. Nur die Städte sowie in Nordschleswig die Flecken bildeten gesonderte Gemeinden. Die Landgemeinden von Stadtkirchen bildeten ebenfalls eigene Kirchspiele. Nur in wenigen Fällen waren Kirchspiele in mehrere Landgemeinden aufgeteilt. Ab den 1960er Jahren schlossen sich immer mehr Gemeinden angesichts einer bevorstehenden Kommunalreform zusammen. 1970 wurden die Kirchspiele mit den Städten und Flecken zu größeren Kommunen zusammengefasst. In der Funktion als Kirchgemeinde sind die sogne aber heute noch erhalten.

Auch in Schweden und Norwegen waren die Kirchspiele (schwedisch socken, norwegisch sogn bzw. sokn) unterste territoriale Einheiten des Staates und sind noch heute unterste kirchliche Einheit.

Weitere Länder

In Portugal bilden Kirchspiele unter der Bezeichnung Freguesias heute weltliche Verwaltungseinheiten auf Gemeindeebene, ebenso in einigen Regionen Spaniens und in Ecuador unter der spanischsprachigen Bezeichnung Parroquia. Dasselbe gilt für Parishes im englischsprachigen Raum, unter anderem im Vereinigten Königreich, in Kanada und dem US-Bundesstaat Louisiana, wo das Parish im Gegensatz zum üblichen Gebrauch für Kirchspiel als untere kommunale Einheit dem County in anderen Bundesstaaten äquivalent ist.[6]

Siehe auch

Weblinks

Wiktionary: Kirchspiel – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise

  1. Fritz Bolle: Knaurs Lexikon. Droemer, München 1956, Lemma Kirchspiel.
  2. a b c Friedrich Kluge: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. De Gruyter, Berlin/New York 1975, Lemma Kirchspiel.
  3. Klaus-Joachim Lorenzen-Schmidt, Ortwin Pelc (Hrsg.): Das neue Schleswig-Holstein Lexikon. Wachholtz, Neumünster 2006, Lemma Kirchspiel.
  4. a b Herbert Schwarzwälder: Geschichte der Freien Hansestadt Bremen. Band I. Edition Temmen, Bremen 1995, ISBN 3-86108-283-7, S. 184–206.
  5. Duden: Das Herkunftswörterbuch. Etymologie der deutschen Sprache. Mannheim 2007, Lemmata Kirchspiel und Beispiel.
  6. Dominik Nagl: No Part of the Mother Country, but Distinct Dominions – Rechtstransfer, Staatsbildung und Governance in England, Massachusetts und South Carolina, 1630–1769 LIT, Berlin 2013, S. 133 ff. online