Paul Oestreicher

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Dies ist eine alte Version dieser Seite, zuletzt bearbeitet am 30. September 2016 um 18:22 Uhr durch M Huhn (Diskussion | Beiträge) (Halbgeviertstrich). Sie kann sich erheblich von der aktuellen Version unterscheiden.
Zur Navigation springen Zur Suche springen
Oestreichers Wohnhaus in Meiningen (bis 1938)

Paul Oestreicher (* 29. September 1931 in Meiningen) ist ein anglikanischer Pfarrer und Domkapitular Emeritus. Er war Domkapitular und Leiter des Versöhnungszentrums der Kathedrale von Coventry in England und Vorsitzender der britischen Sektion von Amnesty International. Er ist Träger des Bundesverdienstkreuzes 1. Klasse und Ehrenbürger der Stadt Meiningen.

Leben

Paul Oestreicher wurde als Sohn des Kinderarztes Paul Oestreicher (1896–1981) in Meiningen (Thüringen) geboren. Bis kurz nach seiner Einschulung im Herbst 1938 verlebte er dort eine sorglose Kindheit. Aufgrund der jüdischen Abstammung seines Vaters musste seine Familie Deutschland 1939 verlassen. Sie fanden in Neuseeland Asyl, wo er weiterhin aufwuchs.

Von Paul Oestreicher und Barbara Einhorn gespendete Blutbuche im Schlosspark Meiningen

Von 1949 bis 1955 studierte er Germanistik und Politische Wissenschaft. 1955 bekam er für ein Jahr ein Forschungsstipendium beim Bonner Professor Helmut Gollwitzer über das Thema Christentum und Marxismus. Danach folgte von 1956 bis 1958 eine Ausbildung am Priesterseminar in Lincoln, England, dem sich bis 1959 eine Tätigkeit als Gast-Pfarrvikar in der evangelischen Kirche Hessen-Nassau anschloss.

1960 erhielt er in London die Diakons- und Priesterweihe und wurde Kaplan im Osten Londons. Von 1961 bis 1964 war er als Programmdirektor für die Abteilung Kirche und Gesellschaft bei der BBC zuständig. Anschließend war er bis 1969 als Osteuropareferent des Britischen Kirchenrates tätig; die Finanzierung der Stelle hatten die Quäker durch den Rowntree Charitable Trust übernommen – Oestreicher folgte hier im gewissen Sinn dem 1963 verstorbenen Richard Karl Ullmann nach.[1] An der Arbeit der Christlichen Friedenskonferenz nahm er anfänglich aktiv teil, als 1964 die II. Allchristliche Friedensversammlung in Prag stattfand, in deren Arbeitsausschuss er sich wählen ließ. 1968 wurde er wegen seiner Kritik an der von der Christlichen Friedenskonferenz unterstützten Niederschlagung des Prager Frühlings aus dem Leitungskreis ausgeschlossen.

Weitere Stationen seines Lebens waren von 1968 bis 1981 Gemeindepfarrer in Blackheath im Süden Londons und von 1981 bis 1985 Leiter des Außenamtes des Britischen Kirchenrates.

Seit 1983 ist er Mitglied in der „Religiösen Gesellschaft der Freunde“ (Quäker).

Von 1985 bis 1997 war er Domkapitular und Leiter des Internationalen Versöhnungszentrums der Kathedrale von Coventry. 1988 arrangierte er für Bärbel Bohley, Werner Fischer und Vera Wollenberger eine Einladung zu einem Studienaufenthalt nach Großbritannien, die es (je nach Einschätzung) ihnen möglich machte, aus der Haft freizukommen und die DDR zu verlassen bzw. den DDR-Behörden eine Möglichkeit gab, sie ins Ausland abzuschieben.

Seit 1998 ist er als Domkapitular Emeritus in Ruhestand. Paul Oestreicher ist seit 2001 in zweiter Ehe mit der Neuseeländerin Barbara Einhorn, Professorin an der Universität Sussex, verheiratet und lebt in Brighton, England. Einhorn war 1983 wegen ihrer Kontakte zu Frauengruppen kurzzeitig in der DDR in Haft, und Oestreicher war einer derjenigen, die ihre Entlassung erreichten.

Im Herbst 2010 reiste Oestreicher durch Deutschland, um Veranstaltungen durchzuführen.[2] Seit einigen Jahren ist er im Sommer auf Hiddensee in der Urlauberseelsorge tätig.[3][4] Oestreicher besucht mit seiner Frau regelmäßig seine Heimatstadt Meiningen, wo er Ehrenbürger ist und sich mit ihr nach wie vor eng verbunden fühlt. Hier feierte er seinen 80. Geburtstag, verlegte gemeinsam mit Gunter Demnig Stolpersteine[5] und pflanzte von ihm gespendete Bäume.[6]

Barbara und Paul Oestreicher im Sommer 2013 im Gemeindehaus Neuendorf/Hiddensee.

Am 22. September 2013 hielt Paul Oesterreicher auf dem Jenaer Eichplatz die Predigt beim Abschlussgottesdienst des Kirchentages der Evangelischen Landeskirche Mitteldeutschlands.

Leistungen

Paul Oestreicher ist Journalist und Publizist auf den Gebieten Menschenrechte, Friede, Glaube und Gesellschaft. Als Vorsitzender der britischen Sektion von Amnesty International trat er für politische Gefangene in Osteuropa und Südafrika ein. Weiterhin förderte er als anglikanischer Pfarrer die Beziehungen zu den Kirchen in der DDR und in Südafrika.

Einen entscheidenden Anteil an der Ost-West-Versöhnung im Kalten Krieg hatte er als Vorsitzender des Versöhnungswerkes der Kathedrale von Coventry und als Vereinsgründer der „Dresden Trust“, die den britischen Anteil zum Wiederaufbau der Frauenkirche in Dresden beisteuerte.

Ehrenämter

  • 1975 bis 1979: Vorsitzender der britischen Sektion von Amnesty International
  • seit 1986: Vizepräsident der CND, die zentrale Friedensbewegung Großbritanniens
  • seit 2004: Mitarbeiter der Hochschulseelsorge an der Universität Sussex in Brighton

Auszeichnungen

Durch seine vielfältigen Bestrebungen für Versöhnung und Menschenrechte erhielt Paul Oestreicher eine Reihe von bedeutenden Auszeichnungen: das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse, die Ehrenmedaille der Stadt Coventry und den Verdienstorden des Freistaates Sachsen (2004). Weiterhin wurde er zum Dr. litt. h.c. der Universität Coventry ernannt, ist Wartburgpreisträger und seit 1995 Ehrenbürger seiner Geburtsstadt Meiningen. Am 1. Juli 2008 erhielt er einen theologischen Ehrendoktor (DD), der von Rowan Williams, dem Erzbischof von Canterbury als Lambeth Degree verliehen wird.[7]

Veröffentlichungen

  • Die Krankheit unserer Zeit als Problem für Arzt und Seelsorger. Friedrich, Pyrmont 1965.
  • Erinnern und Gedenken. Steinmann 1991, ISBN 3-927043-15-X.
  • Aufs Kreuz gelegt. Wichern-Verlag, Berlin 1993, ISBN 3-88981-040-3.
  • Die Quäker: Ein Orden in der Gemeinschaft der Christen? Verlag Religiöse Gesellschaft der Freunde, Bad Pyrmont 1997, ISBN 3-929696-23-1.
  • Der 9. November - ein deutscher Schicksalstag? Überlegungen zum 9. November im vergangenen Jahrhundert anläßlich der Eröffnung der Versöhnungskapelle am Standort der Potsdamer Garnisonkirche am 9. November 2006. Volltext (PDF; 81 kB)

Quellen/Literatur

  • Ursula Engel, in: Der Tagesspiegel. gedruckte Ausgabe von 10. November 2001.
  • FW Meininger Tageblatt. Ausgabe 29. September 2006.
  • Aktion Sühnezeichen Friedensdienste e.V., Berlin.
  • Dieter Schneeberger, in: Sonntagsblatt. vom 8. Oktober 2006.

Einzelnachweise

  1. Merrilyn Thomas: Communing with the enemy: covert operations, Christianity and Cold War politics in Britain and the GDR. Peter Lang, Frankfurt am Main u. a. 2005, ISBN 3-03910-192-7, S. 125.
  2. Abrahamsfest Herbst 2010 zweisprachig deutsch-türkisch, darin am 10. November 2010 mit Paul Oestreicher und anderen, bei der CIAG Marl
  3. Ein Leben für die Hoffnung auf Versöhnung, Mitteldeutsche Kirchenzeitung vom 26. September 2011, abgerufen am 11. Dezember 2011.
  4. Angelika Reiser-Fischer: Politologe Paul Oestreicher kehrt in Thüringer Heimat zurück, thueringer-allgemeine.de, 24. August 2011.
  5. Weltkulturwoche.de
  6. Juden in Meiningen
  7. Pressemitteilung von Lambeth Palace zur Verleihung des DD

Weblinks