Schöninger Speere

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Bei den Schöninger Speeren handelt es sich um acht hölzerne Wurfspeere aus der Altsteinzeit, die zwischen 1994 und 1998 im Braunkohletagebau Schöningen, Lkr. Helmstedt, unter der Leitung von Dr. Hartmut Thieme vom Niedersächsischen Landesamt für Denkmalpflege (NLD) gefunden wurden. Mit einem Alter von über 300.000 Jahren sind sie die ältesten vollständig erhaltenen Jagdwaffen der Welt und gelten als der wichtigste Beleg für die aktive Jagd des Homo heidelbergensis. Die Funde haben das Bild der kulturellen und sozialen Entwicklung des frühen Menschen nachhaltig verändert.


Die Fundstelle

Die Fundstelle der Speere (Schöningen 13/II Verlandungsfolge 4) ist eine von 13 altsteinzeitlichen Fundplätzen im Braunkohlentagebau Baufeld Süd, die im Zuge der Prospektion der quartären Deckschichten von 1992 bis 2009 ausgegraben wurden. Der vom Kohleabbau ausgenommene, ca. 3900 m² große Grabungssockel repräsentiert einen kleinen Ausschnitt einer ehemaligen Uferzone, die über Jahrtausende – zwischen Elster- und Saaleeiszeit – von Mensch und Tier aufgesucht wurde. Der Sockel weist fünf mächtige Schichtpakete (Verlandungszonen) auf, die durch schwankende Wasserstände des Sees und Verlandungsprozesse entstanden. Der schnellen, luftdichten Bedeckung der Fundschichten durch Mudden ist die außergewöhnlich gute Erhaltung der organischen Materialien zu verdanken. In der Abfolge der Verlandungszonen sind mit einer sehr hohen Auflösung Veränderungen des Klimas von einer warmtrockenen Phase mit lichten Laubwäldern zu einer Kältesteppe abzulesen. Die Speere selbst stammen aus einem etwa 10 Meter breiten und 50 Meter langen Streifen parallel zum ehemaligen Seeufer in der Verlandungszone 4, der ausgehenden Holstein-Warmzeit. Die darunter liegenden Fundschichten sind bislang nur partiell ausgegraben und seit 2010 Ziel einer Forschungsgrabung. Zusammen mit den Speeren wurden einige wenige Steinartefakte und über 10.000 Tierknochen gefunden, darunter 90% vom Pferd, gefolgt von Rothirsch und Wisent [1]. Die Pferdeknochen stammen von Equus mosbachensis und lassen auf mindestens 20 Individuen schließen. Sie weisen zahlreiche Schnittspuren von Steingeräten, aber nur geringe Spuren von Tierfraß auf. Die Fundsituation interpretiert der Ausgräber Hartmut Thieme als die Zeugnisse eines Jagdereignisses sowie der daran anschließenden Zerlegung und Aufbereitung der Beute. Seinem Szenario zufolge gab das dichte Schilf am Seeufer den Jägern Deckung, aus der die Pferde, eingekeilt zwischen Jägern und See, mit gezielten Speerwürfen erlegt wurden. Da sich unter den Pferdeknochen auch Reste von Jungtieren befinden, schließt er auf eine Jagd im Herbst [2]. Weiter sieht er in den zwischen den Überresten der Jagdbeute zurückgelassenen Speeren Hinweise auf eine rituelle Handlung [3].


Die Speere

Die aufgrund des auflastenden Sedimentdrucks deformierten Speere sind mit einer Ausnahme – Speer IV ist aus Kiefernholz gefertigt – aus schlanken, geraden Fichtenstämmchen gearbeitet und besitzen Abmessungen zwischen 1,80 m und 2,50 m. Sie sind sehr sorgfältig bearbeitet und zeugen von hohem technologischen Können und einer handwerklichen Tradition. Wie bei heutigen Wettkampfspeeren liegt der größte Durchmesser und damit der Schwerpunkt im vorderen Drittel des Schaftes. Die Spitzenpartien sind symmetrisch aus der Basis der Stämmchen gearbeitet, wobei die Spitzenenden gezielt seitlich neben dem zentralen Markstrahl, dem schwächsten Teil des Stammes, ausgebildet wurden. In ihren Wurfeigenschaften sind die Schöninger Holzspeere modernen Wettkampfspeeren ebenbürtig. Bei Tests konnten Sportler originalgetreue Nachbauten bis zu siebzig Meter weit werfen [4] [5]. Die Auswahl des Holzes ist wohl in erster Linie klimatisch bedingt, da das Vorkommen von Nadelhölzern in Schöningen im kühleren Klima am Ende des Interglazials nachgewiesen ist [6].


Weitere Funde

Aus der Fundstelle des Wildpferdjagdlagers stammen weitere einzigartige Holzartefakte: ein angekohlter Holzstab („Bratspieß“) sowie ein als Wurfstock interpretiertes, zweiseitig zugespitztes Holzgerät [7]. Die Steingeräte des Fundplatzes setzen sich aus verschiedenen Schaber- und Spitzenformen zusammen. Belege für eine Grundformproduktion fehlen; zahlreiche Retuschierabfälle belegen das Nacharbeiten der mitgebrachten Werkzeuge. Sensationell sind weiter die auf der Fundstelle 12 geborgenen so genannten Klemmschäfte. Aus den äußerst harten Astansätzen der Weißtanne gefertigt und an einem Ende deutlich eingeschnitten, dienten sie möglicherweise als Schäftung für Steinklingen. Ist die Interpretation korrekt, handelt es sich hierbei um die ältesten Kompositwerkzeuge der Menschheit [8]. Dank der guten Erhaltungsbedingungen liegen von allen Fundstellen zahlreiche Funde von Kleintieren, darunter Kleinsäuger, Fische, Mollusken und Insekten vor. Zusammen mit den karpologischen Resten erlauben sie ungewöhnlich detailreiche Rekonstruktionen von Klima und Umwelt während des Ablaufs einer Warmzeit.


Die Bedeutung der Schöninger Speere

Die Speere und der Fundplatz Schöningen haben das Bild der kulturellen und sozialen Entwicklung des frühen Menschen revolutioniert. So konnte die ehemals weit verbreitete Forschungsmeinung widerlegt werden, nach welcher der Homo heidelbergensis (ein naher Verwandter des Homo erectus) und sogar noch der sehr viel jüngere Neandertaler primitive, sprachlose Wesen waren, die sich von Pflanzen und Aas ernährten. Denn die Speere und ihr Fundzusammenhang zeugen von hohen technologischen Fähigkeiten und liefern den ersten eindeutigen Beleg für eine aktive (Großwild-) Jagd. Eine erfolgreiche Jagd auf schnell fliehende Herdentiere ist ohne ausgefeilte Jagdstrategien, ein komplexes Sozialgefüge und entwickelte Formen der Kommunikation (Sprachfähigkeit) nicht denkbar. Der Homo heidelbergensis verfügte damit bereits über intellektuelle und kognitive Fähigkeiten wie das vorausschauende, planende Denken und Handeln, die bislang erst dem modernen Menschen zugeschriebenen wurden [9] [10].


Ähnliche Funde

Holzartefakte aus der Altsteinzeit sind äußerst selten überliefert. Neben Schöningen sind Funde aus Clacton-on-Sea (Südengland) [11], Torralba (Spanien) [12], Ambrona (Spanien) [13] und Bad Cannstatt (Baden-Württemberg) [14] bekannt, wobei nur das als Lanzenbruchstück interpretierte Holz von Clacton-on-Sea noch erhalten ist. Die kalzifizierten Hölzer vom Fundplatz Bilzingsleben sind in ihrem Artefaktcharakter umstritten [15] [16]. Die ebenfalls aus Niedersachsen stammende hölzerne Stoßlanze aus Lehringen dagegen ist mit einem Alter von ca. 125.000 Jahren sehr viel jünger. Mit ihr wurde wahrscheinlich ein Waldelefant, unter dessen Skelett sie gefunden wurde, erlegt [17].


Laufende Forschungen

Die Ausgrabungen auf dem Grabungssockel werden seit 2010 im Rahmen eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekts des Niedersächsischen Landesamtes für Denkmalpflege in Hannover und der Eberhard Karls Universität Tübingen, Abteilung für Ältere Urgeschichte und Quartärökologie des Instituts für Ur- und Frühgeschichte und Archäologie des Mittelalters, fortgesetzt. An der Aufarbeitung und den Auswertungen der Grabungen sind zahlreiche Kooperationspartner aus dem In- und Ausland beteiligt: Rijksuniversiteit Leiden (Paläontologie), Universität Leuphana (Palynologie), Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseum in Frankfurt a. Main, Leibniz Universität Hannover (Geologie), Institut für quartäre Hölzer Langnau (Holzanatomie), Römisch-Germanisches Zentralmuseum Mainz u.v.m.


Forschungs- und Erlebniszentrum Schöninger Speere

2009 stellte das Land Niedersachsen aus Aufstockungsmitteln zum Konjunkturpaket II Fördermittel für den Aufbau eines Forschungs- und Erlebniszentrum zur Verfügung. Das unweit der Fundstelle der Speere gelegene Zentrum wird sich der interdisziplinären Erforschung der Schöninger Fundstellen sowie der pleistozänen Archäologie widmen und in einer erlebnisorientierten, modernen Ausstellung die originalen Funde präsentieren. Der transparente Forschungs- und Laborbereich sowie ein interaktives Besucherlabor verknüpfen die Bereiche Forschung und Museum. Landschaftsbiotope, darunter eine Weide mit Wildpferden, veranschaulichen auf dem 24 Hektar großen Außengelände typische Pflanzengesellschaften der Warmzeit. Der Ort ist als Außerschulischer Lernort geplant. Bauherr ist die Stadt Schöningen. Mit der Konzeption und inhaltlichen Planung des Projekts ist das Niedersächsische Landesamt für Denkmalpflege betraut. Das Zentrum wird Anfang 2013 eröffnet werden.


Literatur

  • Die größte archäologische Ausgrabung in Niedersachsen. Bedeutende Entdeckungen zur Urgeschichte im Tagebau Schöningen. In: M. Fansa u. a. (Hrsg.): Archäologie I Land I Niedersachsen. 25 Jahre Denkmalschutzgesetz – 400.000 Jahre Geschichte. Ausstellungskatalog (Archäologische Mitteilungen aus Nordwestdeutschland, Beiheft 42). Stuttgart 2004, S. 294-299.
  • Hartmut Thieme: Lower Palaeolithic hunting spears from Germany. In: Nature 385, 1997, 807-11
  • Hartmut Thieme: Altpaläolithische Holzgeräte aus Schöningen, Lkr. Helmstedt. Bedeutsame Funde zur Kulturentwicklung des frühen Menschen.In: Germania 77, 1999, S. 451- 487
  • Hartmut Thieme: The Lower Palaeolithic art of hunting. The case of Schöningen 13 II-4, Lower Saxony, Germany. In: C. Gamble & M. Porr (Hrsg.): The hominid individual in context. Archaeological investigations of Lower and Middle Palaeolithic landscapes, locales and artefacts. Oxford 2005, S. 115-132
  • Hartmut Thieme (Hrsg.): Die Schöninger Speere. Mensch und Jagd vor 400000 Jahren. Ausstellungskatalog. Stuttgart 2007, ISBN 978-3-89646-040-0.

Einzelnachweise

  1. [1] Voormolen B. 2008: Ancient Hunters, Modern Butcher Schöningen 13II -4, a kill-butchery site dating from the northwest European Lower Palaeolithic. Leiden
  2. [2] Musil R. 2007: Die Pferde von Schöningen: Skelettreste einer ganzen Wildpferdherde in: Thieme H. (ed.) Die Schöninger Speere – Mensch und Jagd vor 400 000 Jahren. S. 136-140, Konrad Theiss Verlag, Stuttgart IBSN 3896460404
  3. [3] Thieme H. 2007: Warum ließen die Jäger die Speere zurück? in: Thieme H. (ed.) 2007: Die Schöninger Speere – Mensch und Jagd vor 400 000 Jahren. S. 188-190 Konrad Theiss Verlag, Stuttgart IBSN 3896460404
  4. [4] Thieme H. 1999: Altpaläolithische Holzgeräte aus Schöningen, Lkr. Helmstedt. In: Germania Nr. 77, S. 451-487
  5. [5] Golek M & Rieder H 1999: Erprobung der Altpalaolithischen Wurfspeere von Schöningen in: Stadion, Internationale Zeitschrift für Geschichte des Sports Nr. XXV Academia Verlag Sankt Augustin, S. 1-12
  6. [6] Urban B. 2007: Interglacial Pollen Records from Schöningen, North Germany in: F. Sirocko et al. (ed.): The Climate of Past Interglacials. Development in Quaternary Science Vol.7, S. 417-444
  7. [7] Thieme H. 1999: Altpaläolithische Holzgeräte aus Schöningen, Lkr. Helmstedt. Germania 77, S. 451-487
  8. [8] Thieme H. 1999: Altpaläolithische Holzgeräte aus Schöningen, Lkr. Helmstedt. Germania 77, S. 451-487
  9. [9] Thieme H. 2007. Der große Wurf von Schöningen: Das neue Bild zur Kultur des frühen Menschen in: Thieme H. (ed.) 2007: Die Schöninger Speere – Mensch und Jagd vor 400 000 Jahren. S. 224-228 Konrad Theiss Verlag, Stuttgart IBSN 3896460404
  10. [10] Haidle M.N. 2006: Menschenaffen? Affenmenschen? Mensch! Kognition und Sprache im Altpaläolithikum. In Conard N.J. (ed.): Woher kommt der Mensch. S. 69-97. Attempto Verlag. Tübingen IBSN 3893083812
  11. [11] Oakley, K. P., Andrews, P., Keeley, L. H. u. Clark, J. D. 1977: A reappraisal of the Clacton spearpoint. Proceedings of the Prehistoric Society 43, S. 13–30.
  12. [12] Freemann L.G. & Butzer K.W. 1966: The Acheulean Station of Torralba (Spain): A Progress Report in: Quaternaria 8: S. 9-22.
  13. [13] Tyldesley J.A. & Bahn P.G. 1983: Use of Plant in the European Palaeolithic: A review of the evidence. in: Quaternary Science Review Vol.2, S. 53-81
  14. [14] Wagner E. 1995: Cannstatt I. Großwildjäger im Travertingebiet. Forschungen und Berichte zur Vor- und Frühgeschichte in Baden-Württemberg, Band 061 Konrad Theiss Verlag Stuttgart ISBN: 978-3-8062-1196-2
  15. [15] Mania D. & Mania U. 1998: Geräte aus Holz von der altpaläolithischen Fundstelle bei Bilzingsleben. Praehistorca Thuringica 2, S. 32-72
  16. [16] Steguweit L. 2003: Gebrauchsspuren an Artefakten der Hominidenfundstelle Bilzingsleben (Thüringen). Tübinger Arbeiten zur Urgeschichte 2. Verlag Marie Leidorf, Rhaden/Westf. IBSN 3896468529
  17. [17] Thieme H. & Veil S. 1985: Neue Untersuchungen zum eemzeitlichen Elefanten-Jagdplatz Lehringen, Ldkr. Verden. in: Die Kunde 36, S. 11–58.


Koordinaten: 52° 8′ 14″ N, 10° 59′ 18″ O