Neuzeit

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Dies ist eine alte Version dieser Seite, zuletzt bearbeitet am 17. Februar 2021 um 23:39 Uhr durch Zinnmann (Diskussion | Beiträge) (Schützte „Neuzeit“: Wiederkehrender Vandalismus ([Bearbeiten=Nur angemeldete, nicht neue Benutzer] (bis 17. Februar 2022, 21:39 Uhr (UTC)) [Verschieben=Nur angemeldete, nicht neue Benutzer] (bis 17. Februar 2022, 21:39 Uhr (UTC)))). Sie kann sich erheblich von der aktuellen Version unterscheiden.
Zur Navigation springen Zur Suche springen
Die Waldseemüller-Karte von 1507 ist die erste Karte, die die Neue Welt mit dem Namen „America“ zeigt, und die erste, die Nord- und Südamerika von Asien getrennt darstellt.

Die Neuzeit ist im europäischen geschichtswissenschaftlichen Gliederungsschema nach Frühgeschichte, Altertum und Mittelalter die vierte historische Großepoche. Ihr Anfang wird häufig vereinfacht mit dem Jahr 1500 angegeben, sie reicht bis in die Gegenwart.

Periodisierung

Beginn

Als Beginn der Neuzeit wird meist die Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert angesetzt. Dies entspricht mit einer gewissen zeitlichen Bandbreite der zeitgenössischen Wahrnehmung.

Als epochale Zäsuren angeführt werden zum Beispiel die osmanische Eroberung Konstantinopels im Jahr 1453 (schon bei Philipp Melanchthon), die Erfindung des Buchdrucks um 1450, die Entdeckung Amerikas 1492, die 1517 von Martin Luther auf den Weg gebrachte Reformation und die mit Nikolaus Kopernikus 1543 beginnende kopernikanische Wende, in der das geozentrische Weltbild durch das heliozentrische ersetzt wurde. Unter geisteswissenschaftlichen Gesichtspunkten sind Renaissance und Humanismus als Wendemarken in Europa anzusehen.

Ideengeschichtlich bestimmten einige historisch arbeitende Philosophen wie Wilhelm Kamlah und Jürgen Mittelstraß den Beginn der Neuzeit sehr viel später auf die Zeit um 1600. Ihr Ausgangspunkt ist die bis dahin etablierte Ausbildung der neuzeitlichen Wissenschaft im Sinne der modernen, prototypisch in der Physik ausgebildeten wissenschaftlichen Forschung als methodisch durchgeklärte Verbindung von mathematischer Theorie und technischer Empirie (Kamlah), die in der oberitalienischen Werkstättentradition entwickelt und Grundlage des modernen Szientismus wurde.

Unterteilung

An ein einleitendes Zeitalter der Entdeckungen schließt sich in Europa ein Zeitalter der Glaubenskriege, die Ära des Dreißigjährigen Krieges und das Zeitalter der Aufklärung an. Auf globaler Ebene folgen die Ära der industriellen Revolution, das „lange“ 19. und das „kurze“ 20. Jahrhundert, mit dem die zeitgeschichtliche Ebene erreicht wird.

Die Frühe Neuzeit reicht bis zur Französischen Revolution ab dem Jahre 1789.

Es schließt sich die (Neuere und) Neueste Geschichte an. Sie reicht bis in die Gegenwart. Gleichbedeutend werden auch die Begriffe „jüngere Neuzeit“,[1] selten „Späte Neuzeit“ verwendet. In geistesgeschichtlichen Kontexten wird diese Epoche oft „Moderne“ genannt.

Als Zeitgeschichte wird die jüngste Geschichte bezeichnet, zu der es noch Zeitzeugen gibt.[2]

Titelblatt von Galileis Dialog: Aristoteles, Ptolemäus und Copernicus diskutieren

Kritik

Die Unterteilung in Antike, Mittelalter und Neuzeit ist tief in der Geschichtswissenschaft verwurzelt. Dennoch wurde sie auch wiederholt kritisiert und hat daher ihre absolute Trennwirkung verloren. Überhaupt ist es fraglich, inwieweit sie außerhalb der europäischen Geschichte von Bedeutung ist. Viele Entwicklungen ziehen sich lange hin und überschneiden sich mit früher oder später verorteten.

In der Mediävistik wird vor allem auf die Wende um 1300 hingewiesen, nach der die Phase der Städtegründungen in Europa vorläufig beendet war. Damit einher gingen eine Ausbreitung der Schriftlichkeit, technische Innovationen und der Beginn moderner Verwaltung. Der Kulturhistoriker Egon Friedell sah beispielsweise die Pestpandemie seit 1348 als „Inkubationszeit der Neuzeit“ an. Der Nationalökonom und Soziologe Ferdinand Tönnies urteilte,[3] dass die Wurzeln der Neuzeit viel weiter ins Mittelalter zurückreichen; für ihn war der Beginn des lombardischen Fernhandels bereits frühneuzeitlich (vgl. die damalige Erfindung der Doppelten Buchführung).

Bedeutung

Kennzeichnend für den Beginn der Neuzeit ist auch das markante Anwachsen des Welthandels nach Amerika (entdeckt 1492), sowie nach Indien und Ostasien (Entdeckung des Seewegs 1498). Damit begann auch der von Europa ausgehende überseeische Kolonialismus, der zunehmend zu einer Vorherrschaft Westeuropas wurde und als Übergang zu einer neuen Zeit angesehen wird.

In der Geistesgeschichte bedeutet die Kopernikanische Wende nicht nur das Ende des geozentrischen Weltbildes nach Claudius Ptolemäus (ca. 150 n. Chr.) in der Astronomie, sondern auch das Ende seiner im Wesentlichen auf Aristoteles (4. Jahrhundert v. Chr.) zurückgehenden philosophisch-theologischen Begründung, die sich die katholische Kirche im ausgehenden Mittelalter weitgehend zu eigen gemacht hatte. Dies stellte eine Revolution des geographisch-astronomischen Weltbilds dar, die das Ende jenes ideologischen Monopols einläutete, das die Kirche im Mittelalter innegehabt hatte. Das Deutungsmonopol ging von der Kirche schrittweise zu den Naturwissenschaften über. In diesem Zusammenhang ist auch die Flucht vieler griechischer Gelehrter in den Westen nach der Eroberung Konstantinopels durch das Osmanische Reich zu sehen.

Die wirtschaftlichen und sozialen Umwälzungen wiederum (Krise des Feudalsystems) erlaubten den Beginn der Reformation, die ebenfalls die beiden Epochen voneinander abgrenzt.

Der starke soziale Wandel zur Neuzeit führte dazu, dass eintretende Katastrophen ein bedeutendes Moment der religiösen und Meinungskämpfe wurden. Noch die Aufklärung musste sich neuartiger religiöser Kritik erwehren. Einige Beispiele:

  • Ab 1348 wütete die Pest (vgl. dazu oben Friedell). Die hohe Sterblichkeit wirkte stark auf die Sozialverfassung vieler Gesellschaften ein (siehe auch Flagellanten). Auch begann nach der Entdeckung der Neuen Welt, vermutlich ab 1493, die Syphilis ihren verheerenden Zug durch Europa und veränderte das Sexualleben stark.
  • Ferner fiel die „Kleine Eiszeit“ in die frühe Neuzeit. So kam es zu vielen Hungerjahren und entsprechenden Migrationen, zuletzt noch nach der Hungersnot 1845–49 aus Irland.
  • Das große Erdbeben 1755 von Lissabon wurde geradezu ein Argument der jesuitischen Gegenreformation: Gott bestrafe die Reformpolitik Pombals.

Soziologie

Die Soziologie führt die Debatte um eine Analyse dieser Prozesse meist mit dem Begriff der „Moderne“, auch „reflexive Moderne“ usw. (statt „Neuzeit“), mit oft wechselnder Bedeutung (selbst z. B. im Werk Max Webers). Von Soziologen werden weniger Ereignisse als gesellschaftliche Prozesse betrachtet, mit Ausnahme entscheidender Dokumente wie dem Einsetzen der Moderne in den Schriften der Aufklärung und der Französischen Revolution 1789.

Ferdinand Tönnies hingegen benutzte „Neuzeit“ genau im Sinne seines theoretischen Werks Gemeinschaft und Gesellschaft als exakten Gegenbegriff zum „Mittelalter“: In Letzterem seien die Menschen geneigt gewesen, alle sozialen Kollektive als „Gemeinschaften“ zu verstehen, ganz anders als in der Neuzeit, wo sie diese sämtlich eher als „Gesellschaften“ wahrnähmen. Im Mittelalter sei also ein großer Fernhandels- und Bankkonzern wie der Templerorden eher als religiöse „Gemeinschaft“ aufgefasst worden, in der Neuzeit sogar die Ehe als rein „gesellschaftliches“ Geschöpf eines Vertrages.

Der Wandel vom Mittelalter zur Neuzeit

Gesellschaft

Die Zugehörigkeit zu einem Nationalstaat und das Leben in seinen Grenzen sind in der Frühen Neuzeit nicht das zentrale Kriterium der Unterscheidung unter den Menschen. Als rechtlicher und sozialer Deutungsrahmen gilt die Ständeordnung, die bis zur Französischen Revolution existiert hat. Sie teilte Menschen in drei Gruppen mit unterschiedlichen Funktionen ein. Diese sind der Klerus, der Adel und die Bauern. Diese Vorstellung, das Grundprinzip der Verfassungs- und Rechtsverhältnisse sei eine gottgewollte Dreiteilung der Menschen, hat sich im Laufe des Mittelalters herausgebildet. Doch sind in dem Übergangszeitraum vom Mittelalter zur Neuzeit, bis ins 18. Jahrhundert hinein, eine Reihe von Veränderungen eingetreten. Zu Anfang der Frühen Neuzeit ist mit dem Begriff „Stand“ eine sich oft überschneidende und im Laufe des Lebens verändernde Zugehörigkeit zu verschiedenen Gruppen gemeint (Altersgruppe, Lebensform, Minderheiten usw.).

Auch das Leben auf dem Land veränderte sich grundlegend. Während im Mittelalter noch der Grundherr die zentrale Rolle auf dem Land erfüllte, wurde gegen Ende des Mittelalters diese Rolle mehr und mehr von der dörflichen Gemeinde übernommen. An die Stelle des komplizierten Systems von Abhängigkeiten zwischen Herr und Knecht traten die Familien und Haushalte, die ihre Angelegenheiten weitgehend selbstständig regelten.

Auch verlagerten sich langsam die Machtstrukturen. Während im Mittelalter die Höfe die Zentren für die administrativen Aktivitäten der zahlreichen Adeligen Herren darstellten, verlagerte sich in der Frühen Neuzeit die Macht auf wenige, meist städtische Orte. Es entstanden neue bürokratische Institutionen. Ein typisches Phänomen der Neuzeit ist auch der starke Anstieg der lohnarbeitenden Stadtbevölkerung. Begünstigt durch den expandierenden Handel mit der Neuen Welt, entwickelten sich in den Küstenregionen große Wirtschaftsmetropolen, die die Menschen in großen Massen anzogen. Aus diesem Trend resultierten auch viele neue Gewerbezweige, die meist aus der Spezialisierung bereits vorhandener Handwerkerberufe hervorgingen. So entstanden z. B. neben dem traditionellen Bäcker von Brot, auch Bäcker von Kuchen, Zuckerwerk, Oblaten oder Pasteten. Nicht alle Einwohner der Städte erfüllten aber die Bedingungen für den Bürgerstatus, was für die Neuzeit größtenteils als typisches Phänomen bezeichnet werden kann. Typisch für die neuzeitliche Stadt ist auch eine abgestufte Ordnung der Einwohner mit verschiedenen rechtlichen Ansprüchen und Pflichten. So verfügte die Mehrheit der Stadtbewohner nur über eine begrenzte Partizipation am Bürgerstatus. Ein weiteres Phänomen im Zuge des Bevölkerungswachstums ist das soziale Gefälle innerhalb der Städte. Je größer eine Stadt war, desto erheblicher waren auch die sozialen Differenzen.

Herrschaft

Beim Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit vollzogen sich entscheidende Schritte von dem mittelalterlichen Personenverband zu einem neuzeitlichen Territorial- und Nationalstaat. Die separaten Rechtsverhältnisse des Spätmittelalters wurden vereinheitlicht und gebündelt. Die Macht zentralisierte sich in den Residenzen. Die monarchischen Anfänge, die relativ fest um eine einzelne Person herum geknüpft waren, wurden ausgebaut. Somit kam es zu einer Verdichtung der Herrschaft. Während Herrschaft zuvor eher spirituell gedacht war, entstand in der Neuzeit ein klar definiertes „Territorium“, das zu der konkreten Basis von Herrschaft aufgewertet wurde. Gefördert wurde dieser Prozess vor allem durch die Spaltung der Kirche im Zuge der Reformation. Die Herrscher verfügten somit über die zentrale Entscheidungsmacht sowohl über weltliche als auch religiöse Fragen und standen über den persönlichsten Bedürfnissen ihrer Untertanen. Im Zuge dieser Veränderungen entschieden Herrscher z. B. über die Konfessions­zugehörigkeit ihrer Untertanen.

Ein weiterer damit verbundener, neuzeitlicher Prozess war die Herausbildung pluraler Staatenwelten. Es kristallisierten sich Staaten mit einheitlicher Sprache, Religion und Kultur heraus. Zwar gab es auch im Mittelalter Nationen mit festen Staatsgrenzen, die Staatsgebiete voneinander abgrenzten, die Grenzen waren aber mehr oder weniger fließend und es erfolgte eine geringere Abgrenzung nach außen. Die Staaten in der Neuzeit grenzten sich jedoch immer mehr voneinander ab, was zu vermehrten kriegerischen Auseinandersetzungen führte. Die Staaten der Neuzeit waren somit ständig mit der Neudefinition ihres Herrschaftsraumes und mit Abgrenzungen gegenüber Nachbarn beschäftigt. Dieser Prozess hatte auch auf das Leben im Inneren zahlreiche Folgen, wie z. B. Steuererhöhungen oder die Zusammenstellung stehender Heere.

Religion

Die Reformation mit ihren Folgen für Europa bildete ein konstituierendes Element für die Neuzeit. Im Zuge der Reformationsbewegung kam es zu einer Spaltung des Christentums in verschiedene Konfessionen. Während im Mittelalter die römisch-katholische und die griechisch-orthodoxe Kirche ein Monopol für die Sinndeutung des Menschen innehatte, kam es im 15. Jahrhundert zu einer Ausdifferenzierung des religiösen Milieus. Der universale Glaubenskosmos, der im Mittelalter prägend war, ist durch die Reformation in Teile zerbrochen. Antiklerikale Feindseligkeiten gab es aber auch schon vor der Reformation im Mittelalter und speziell dann in der Zeit der beginnenden Glaubensspaltung, sie richteten sich gegen den Papst, die reichen Bischöfe und die Ordensleute, waren aber nicht religionskritisch in einer Weise, die das Glaubensgebäude in seiner Gesamtheit infrage stellte. Somit wurden die Grundsteine der Reformation bereits im Mittelalter gelegt.

Tod für den Glauben: Gemälde der Bartholomäusnacht, die 23./24. August 1572 in Paris zahlreiche Flüchtlingsströme auslöste.

Diese religiösen Veränderungen der Frühen Neuzeit brachten viele Probleme mit sich. Die frühneuzeitliche Gesellschaft war nicht auf Toleranz aufgebaut, so dass religiösem Anderssein mit Unverständnis, Verfolgung und Gewalt begegnet wurde. Viele Kriege der Frühen Neuzeit waren religiös motiviert. Diese Einstellung entsprach der des Mittelalters. Erst mit der Aufklärung entwickelte sich der Gedanke der Toleranz, besonders der religiösen Toleranz und wurde zu einem Leitgedanken dieser Geisteshaltung und einem Maßstab für das Durchdringen aufklärerischer Ideen in den einzelnen Staaten.

Eine weitere bedeutsame religiöse Gruppe, neben dem Christentum, war das Judentum, dessen Schicksal von Ablehnung und Verfolgung geprägt war. So gab es sowohl im Mittelalter als auch in der Neuzeit Phasen der relativen Toleranz, die zur Entfaltung und Blüte der jüdischen Kultur führten (z. B. Südspanien im frühen und hohen Mittelalter). Diese Phasen wechselten mit Perioden der Vertreibung und Verfolgung, wie z. B. am Beginn der Neuzeit, wo Juden aus Spanien und England, aber auch aus Mitteleuropa vertrieben wurden. Zu einer vollen Emanzipation der Juden kam es im Zuge der Französischen Revolution 1791, diese rechtliche Grundlage wurde durch den Code civil unter Napoleon in Europa verbreitet.

Der Islam war eine weitere religiöse Gruppe des frühneuzeitlichen Epochenabschnittes. Beim Wandel vom Mittelalter zur Neuzeit spielte der Islam eine zentrale Rolle. Die erste Epoche der Ausbreitung des Islam fällt ins frühe und hohe Mittelalter, wo im Süden der Iberischen Halbinsel Staaten der Araber bestanden. Diese kulturell blühenden Gesellschaften, deren Kulturtransfer in den Westen Europas nicht zu unterschätzen ist, wurden durch die Reconquista zurückgedrängt und vernichtet. Das Ende dieser Rückeroberung, die Einnahme von Granada 1492, kann als Epochenjahr des Beginns der Neuzeit gesehen werden, weil der Auftrag an Christoph Kolumbus unmittelbar damit zusammenhängt. Die Zwangsbekehrung, Vertreibung und Vernichtung der Muslime und ihrer Kultur waren eine Folge dieser Reconquista. Im Laufe des späteren Mittelalters drang im Südosten Europas ein anderer islamischer Staat vor, das Osmanische Reich. Im Zuge dieser Ausbreitung wurde der Islam in der Neuzeit mit dem Osmanischen Reich identifiziert, Türke und Muslim waren gewissermaßen Synonyme. Das Bild des Islam war daher furchterregend, geprägt vom Fanatismus beider Seiten, die Auseinandersetzung zwischen dem Kaiser, Italien und Spanien auf der einen und dem Osmanischen Reich auf der anderen Seite war ideologisch überhöht, man bekämpfte nicht nur den weltlichen Gegner, sondern auch die „Ungläubigen“, die „falsche Religion“ der anderen Seite.

Mentalität

Individualität

In der Phase um 1500 erfolgte ein Individualisierungs­prozess auf der Grundlage breiterer Bildungschancen und höherer Alphabetisierungsraten. Man geht in der Geschichtswissenschaft davon aus, dass in der Renaissance unter Rückbezug auf die Antike, die Individualität „erfunden“ wurde. In einer für die Zukunft Europas bestimmenden Weise habe eine diesseitsorientierte Wahrnehmung des einzelnen Menschen und seines besonderen Eigenwertes die mittelalterliche Tradition kollektiver und jenseitsorientierter Muster des Selbst überwunden. Der Anfang einer solchen Haltung wird in der Frühen Neuzeit vermutet; sie wird als eine Abgrenzung zur Vergangenheit gesehen. So galt im Mittelalter ein exzessiver Selbstbezug nicht als Tugend. Vielmehr definierte die Person sich primär über ihre Zugehörigkeit zu verschiedenen Gemeinschaften. Von einem gottgefälligen Menschen wurde ein Leben in Demut und Bescheidenheit erwartet und die Bereitschaft, sich in sein ihm bestimmtes Schicksal zu fügen. Somit stellte die sich neu entwickelnde Individualität der Neuzeit einen Kontrast dar zur mittelalterlichen Einstellung zur eigenen Persönlichkeit.

Körper und Sexualität

Zur alltäglichen Selbstwahrnehmung des Menschen gehörte auch seine Leiblichkeit. Das Verhältnis zwischen Körper und Geist war im christlichen Mittelalter durch eine starke Abwertung des Körpers gekennzeichnet. Der Leib galt lediglich als das irdische Gefäß für die Seele, die unsterblich ist. Im Gegensatz zum Geist wurde der Körper als eine zu beherrschende Größe angesehen, deren Bedürfnisse eingedämmt werden müssen, da sie als sündig galten. Das geistige Prinzip wurde durch die Keuschheit repräsentiert. Es galt als christliches Ideal, die Sinne zu beherrschen, um eine Reinheit zu erlangen, die sich auf die Gedanken bezieht. In der Renaissance wurde der menschliche Körper ebenfalls als ein Gefäß der Seele gesehen, eine Vorstellung, die der des Mittelalters sehr ähnlich war. Unterschiedlich war, dass der Körper in der Kunst als nackter Körper zunehmend ohne Vorwand dargestellt und von der Wissenschaft (Anatomie) untersucht wurde. Zusammenhängend mit dieser Entwicklung ist auch die Sexualität anzusehen. Der mittelalterliche Umgang mit körperlichen Begierden war zumindest theoretisch von asketischem Gedankengut dominiert. Im Vergleich zum Mittelalter gab es in der Frühen Neuzeit, bezüglich der Sexualität, eine Entkrampfung. Begünstigt wurde dieser Prozess durch die Reformation. Doch forderten auch die neuen konfessionellen Gemeinschaften die Disziplinierung des Sexualtriebes, teilweise verschärften sie diese asketische Haltung gegenüber dem Mittelalter sogar. Angesichts der reformatorischen Herausforderung bemühte sich die katholische Kirche um eine neue Definition der Sexualität. Sie bekräftigte dabei deutlich den Zölibat, z. B. auf dem Trienter Konzil (1545–1563). Trotzdem wurde in der Frühen Neuzeit das asketische Gedankengut immer mehr zurückgedrängt und die Sexualität kam zur Entfaltung.

Sterben und Tod

Der Tod war auch in der Neuzeit nicht nur eine Grundkonstante des Lebens, sondern ähnlich wie im Mittelalter religiös und kulturell allgegenwärtig. Dazu trug auch die hohe Sterblichkeitsrate, besonders der Kinder, bei, die ständig daran erinnerte, wie nahe der Tod war. Auch in der Frühen Neuzeit war die Einstellung zum Sterben ähnlich wie im Mittelalter von der Vorstellung des guten Todes geprägt (Vorstellung, dass man selbst seinen eigenen Tod gestalten und dadurch seine Schrecken „zähmen“ kann). Man wusste, wann man starb, und regelte seine Angelegenheiten in der Welt und vor Gott. Durch die Reformation wandelte sich diese Vorstellung. Das Sterben mit Beichte und Kommunion gehörte im katholischen Bereich zum Ritual des Todes, daher fürchtete man den plötzlichen Tod, der einem keine Möglichkeit ließ, seine Sünden zu beichten und sich die ewige Seligkeit zu sichern. Die Reformation brachte einen klaren Bruch der Todes- und Jenseitsvorstellungen, was eine starke Mentalitätsveränderung bedeutete. Die mittelalterliche Vorstellung des guten Todes war zwar auch noch in der Frühen Neuzeit allgegenwärtig, ist aber im Verlauf der Epoche immer mehr zurückgegangen. Vielmehr habe sich die Angst vor dem plötzlichen und unvorbereiteten Sterben durchgesetzt, das keine Gelegenheit mehr gab, Buße zu tun. Erst im Laufe der späten Neuzeit kam es zu einer institutionellen und mentalen Verdrängung des Todes. Im Zusammenhang mit der zunehmenden Säkularisierung der Welt wurde der Tod nicht mehr als Übergang in ein anderes, besseres Leben gesehen, sondern als Ende des Daseins.

Literatur

Monografien, Sammelbände

  • Egon Friedell: Kulturgeschichte der Neuzeit. Die Krisis der europäischen Seele von der schwarzen Pest bis zum Weltkrieg. 3 Bände, Beck, München 1927–1931.
  • Ferdinand Tönnies: Geist der Neuzeit. EA 1935, de Gruyter, Berlin/New York 1998 In: Ferdinand Tönnies Gesamtausgabe, Band 22; erneut: Profil, München und Wien 2010 (hg. von Rolf Fechner).
  • Wilhelm Kamlah: Der Aufbruch der Neuen Wissenschaft. In: Utopie Eschatologie Geschichtsteleologie. Kritische Untersuchungen zum Ursprung und zum Futurischen Denken der Neuzeit. Bibliographisches Institut, Mannheim 1969, (BI Htb 461), S. 73–88.
  • Jürgen Mittelstraß: Neuzeit und Aufklärung. de Gruyter, Berlin 1970.
  • S. Skalweit: Der Beginn der Neuzeit. Epochengrenze und Epochenbegriff. 1982.
  • Leonhard Bauer, Herbert Matis: Geburt der Neuzeit. Vom Feudalsystem zur Marktgesellschaft. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1988.
  • Jonathan Dewald u. a. (Hrsg.): Europe 1450 to 1789. Encyclopedia of the Early Modern World. 6 Bände. Charles Scribner’s Sons, New York u. a. 2004.
  • Friedrich Jaeger (Hrsg.): Enzyklopädie der Neuzeit. Metzler, Stuttgart 2005ff.
  • Bea Lundt: Europas Aufbruch in die Neuzeit 1500–1800. Eine Kultur- und Mentalitätsgeschichte. Primus, Darmstadt 2009, ISBN 978-3-89678-647-0.
  • Karl Vocelka: Geschichte der Neuzeit 1500–1918. Böhlau Verlag, Wien 2009, ISBN 978-3-205-78421-0.
  • Heinrich August Winkler: Geschichte des Westens. 4 Bände. Beck, München 2009–2015: [zur politischen Geschichte speziell ab dem 19. Jahrhundert].

Zeitschriften

Weblinks

Wikiquote: Neuzeit – Zitate
Wiktionary: Neuzeit – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise

  1. Neuzeit. In: Anke Braun: Bertelsmann-Jugend-Lexikon. Wissen-Media-Verlag, Gütersloh 2008, S. 457.
  2. Neuzeit. In: Konrad Raab, Heribert Fuchs: dtv-Wörterbuch zur Geschichte. 13. Auflage, Deutscher Taschenbuch-Verlag, München 2002.
  3. Geist der Neuzeit 1998 (1935)