Ausdruckstanz

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Der Ausdruckstanz wird im Gegensatz zum Gesellschaftstanz nicht zur „oberflächlichen“ Unterhaltung getanzt, sondern dient dem individuellen und künstlerischen Darstellen (und zum Teil auch Verarbeiten) von Gefühlen. Er entstand als Gegenbewegung zum klassischen Ballett zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

Andere Bezeichnungen sind freier Tanz und (vor allem im geschichtlichen Kontext) expressionistischer Tanz, moderner Tanz oder neuer künstlerischer Tanz.

Der moderne Tanz mit den Stilformen und Vermittlungsformen der Rhythmus- sowie Ausdruckstanzbewegung wurde 2014 in das deutsche Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes im Sinne des Übereinkommens zur Erhaltung des Immateriellen Kulturerbes der UNESCO aufgenommen.[1]

Geschichte

Anfänge

Am Anfang wurde nach Wegen gesucht, aus den erstarrten festgeschriebenen Formen wieder zur natürlichen Bewegung des Körpers zu finden. Eine Vielzahl dieser Bestrebungen wurde am Ende des 19. Jahrhunderts unter der Etikette Delsarte-System gelehrt.

Die erste berühmte Vertreterin war Isadora Duncan. Sie wollte Körper, Seele und Geist in ihrer Kunst miteinander verbinden und holte sich ihre Anregungen aus den Abbildungen auf griechischen Vasen und dem, was sie in den Werken griechischer Dramatiker und Philosophen an Beschreibungen des alten griechischen Tanzes fand. Außerdem war sie die erste Tänzerin, die auch über ihre Kunst schrieb und eine Tanztheorie entwickelte.

In Deutschland war Clotilde von Derp ab 1910 in München die erste Repräsentantin des „modernen Tanzes“. Emil Jaques-Dalcroze gründete seine Schule für Rhythmische Gymnastik in Hellerau bei Dresden. Und viele andere freie Gymnastikstile und -schulen entstanden.

Ein Zentrum für diese Zurück-zur-Natur-Bewegung war die Künstlerkolonie Monte Verità in der Gemeinde Ascona in der Schweiz. Dort lehrte und arbeitete Rudolf von Laban. Er unternahm den Versuch, die Bewegungslehre des Ausdruckstanzes theoretisch zu festigen und eine Tanzschrift dafür zu entwickeln. Da er später in England lebte und wirkte, ist sein Einfluss im kreativen Tanz dort am stärksten, vor allem im pädagogischen Bereich in der Arbeit mit Kindern.

Mary Wigman (3. von links) in ihrem Studio, 1959

Mit dem gesellschaftlichen Umbruch durch den Ersten Weltkrieg fand dann in allen Künsten ein Ausbruch aus vorgegebenen, veralteten, dem neuen Lebensgefühl nicht mehr entsprechenden Formen statt. Der intensive, dramatische, in Farben, Tönen, Worten und Bewegungen explodierende Ausdruck des persönlichen Erlebens stand im Mittelpunkt und wurde zum Expressionismus. Bizarres, Schräges, die Form Zerstörendes gehörte dazu, auch die Verwendung von Masken. Und als Begleitmusik zum Ausdruckstanz wurden neben bekannter Musik Trommeln, Xylophone und alle Arten von Rhythmusinstrumenten verwandt. Es gab sogar Tänze ohne Musik. Individuelle Gestaltung, Improvisation, Einzeltanz standen im Vordergrund.

So wurde der Ausdruckstanz vor allem durch einzelne Persönlichkeiten bekannt; am nachhaltigsten durch Mary Wigman, ihre Schüler Harald Kreutzberg und Gret Palucca sowie Dore Hoyer.

Auch die Frauenbewegung spielte bei dieser Entwicklung eine Rolle.

Weimarer Republik

Dresden wurde in den 1920er- und 1930er-Jahren zum „Mekka“ dieser neuen Tanzkunst. Mary Wigman gründete dort ihre Tanzschule 1920, Gret Palucca 1924. Tänzerinnen und Tänzer aus aller Welt kamen, um bei ihnen zu lernen. Der Japaner Ōno Kazuo sah Wigman, Kreutzberg und Hoyer tanzen und wurde dadurch (und durch andere Einflüsse) inspiriert, den Butoh zu entwickeln. Wigmans Assistentin Hanya Holm ging 1931 nach Amerika, um dort ihre Soloabende zu geben und eine Wigman-Schule zu gründen. Die Amerikanerin Martha Graham wurde zur bedeutendsten Tänzerin, Lehrerin und Choreografin der neuen Kunstform unter dem Namen Modern Dance in den USA. Sie gründete ebenfalls eine Schule und gab dem Modern dance ein dem klassischen Ballett-Kodex vergleichbares Vokabular. 1957 kam Martha Graham nach Deutschland und trat in der Akademie der Künste in Berlin (West) im Rahmen der Berliner Festwochen auf. (Es gibt ein Bild, auf dem Mary Wigman und Dore Hoyer mit Martha Graham nach ihrem Auftritt auf der Bühne stehen: Die drei bedeutendsten Tänzerinnen des modernen Tanzes.[2])

Weitere Pioniere des Ausdruckstanzes waren in Hamburg Gertrud und Ursula Falke, der Arbeitertänzer Jean Weidt, die Maskentänzer Lavinia Schulz und Walter Holdt. In Schweden arbeiteten Birgit Cullberg, die als Begründerin des gleichnamigen Ballettensembles, weltweit bekannt ist, und Birgit Åkesson.

Kurt Jooss, der Ballett und Ausdruckstanz miteinander verband, und Mary Wigman choreografierten wegweisendes Tanztheater, z. B. Jooss 1932 Der grüne Tisch, eine Art Totentanz; Wigman 1930 ihr Anti-Kriegs-Tableau Totenmal.

Die Falke-Schwestern arbeiteten ebenfalls mit Gruppen, besonders eindrucksvoll waren ihre Choreografien für Labans Bewegungschöre. Seine Schülerin Lola Rogge führte diese Arbeit weiter, übernahm 1934 in Hamburg die Labanschule, die bis ins 21. Jahrhundert unter ihrem Namen dort existiert.

Nationalsozialismus

Die Zeit des Nationalsozialismus unterbrach wie in vielen anderen Künsten auch für den Ausdruckstanz die lebendige Weiterentwicklung in Deutschland. Viele hörten auf zu tanzen, nahmen sich das Leben oder gingen aus Deutschland fort. Einige arrangierten sich auf unterschiedliche Weise mit dem Regime. Als „Schönheitstanz“ wurden in weiten Kreisen Nackttanz und Erotik bis in die Kriegsjahre geboten.[3] Mary Wigman durfte ihre Schule behalten und eröffnete 1936 mit einer Choreografie die Olympischen Spiele in Berlin.

Nachkriegszeit

Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Hoch-Zeit des reinen Ausdruckstanzes in Deutschland vorüber, unter anderem wohl wegen seiner Verstrickung in den Nationalsozialismus. Es gab noch die Wigman-Schule. Sie selbst tanzte nicht mehr, choreographierte aber beispielsweise 1957 Le sacre du printemps (Das Frühlingsopfer) von Strawinsky. Dore Hoyer gab bis zu ihrem Tod 1967 ihre eindrucksvollen Soloabende. Neben ihr und beeinflusst von ihr beeindruckte Manja Chmièl mit einer abstrahierenden Körpersprache. Sie war Schülerin und Assistentin von Mary Wigman in Berlin. Jean Weidt kehrte aus dem französischen Exil zurück und schuf in den frühen Jahren der DDR eine neue Form des Ausdruckstanzes, der aber wegen zu offensichtlicher Staatsnähe keine hohe Anerkennung fand. Jean Weidt wurde vom Opernregisseur Walter Felsenstein an die Komische Oper Berlin berufen und half ab 1966 beim Aufbau von Europas modernsten und erfolgreichen Tanztheater unter der Leitung von Tom Schilling mit.

Der Einfluss des Modernen Tanzes war jedoch so stark, dass nun viele Choreografen Elemente von Ausdruckstanz und Ballett zum Tanzdrama, einer Theatertanzform, die beides enthält, verbanden. Das Ende des Gegensatzes zwischen Modern dance und klassischem Ballett war in den USA die Uraufführung der von Balanchine und Martha Graham gemeinsam choreografierten Épisodes (1959). Ehemalige Graham-Schüler, vor allem Merce Cunningham gaben dem Ballett neue Impulse. Sie entwickelten experimentelle Ballett-Stile, die die Erfahrung zweier Weltkriege und der zunehmenden Umweltzerstörung durch den Menschen einschließen.

Heute

Arila Siegert in „Afectos humanos“ von Dore Hoyer

Ende des 20. Jahrhunderts und Anfang des 21. Jahrhunderts gibt es die verschiedensten Tanzgruppen, deren Choreografien vom Ausdruckstanz beeinflusst wurden. So gut wie jede Tanzausbildung beinhaltet inzwischen auch das Fach Moderner Tanz. Junge Tänzerinnen nehmen die Kunst des solistischen Ausdruckstanzes wieder auf. Sie erarbeiteten sich zum Beispiel die Tänze Dore Hoyers von den menschlichen Leidenschaften (Afectos humanos). Viele Solotänzer sind heute auch Choreografen (zum Beispiel Susanne Linke, Reinhild Hoffmann, Ismael Ivo und Arila Siegert).

Zu den in Deutschland arbeitenden bekannten Choreografen gehören unter anderem William Forsythe, Sergej Gleithmann, Daniela Kurz, Raimund Hoghe, Constanza Macras, Felix Ruckert, Arila Siegert und Sasha Waltz.

Literatur

Tanzgeschichte

  • Claudia Fleischle-Braun: Der moderne Tanz. Geschichte und Vermittlungskonzepte. Afra, Butzbach-Griedel 2000, 2001. ISBN 3-932079-31-0.
  • Nils Jockel, Patricia Stöckemann: „Flugkraft in goldene Ferne…“, Bühnentanz in Hamburg seit 1900. Museum für Kunst und Gewerbe, Hamburg 1989.
  • Rudolf Maack: Tanz in Hamburg. Von Mary Wigman bis John Neumeier. Christians, Hamburg 1975. ISBN 3-7672-0356-1.
  • Walter Sorell: Knaurs Buch vom Tanz. Der Tanz durch die Jahrhunderte. Droemer Knaur, Zürich 1969.
  • Hermann und Marianne Aubel: Der Künstlerische Tanz unserer Zeit. Die Blauen Bücher. K. R. Langewiesche, Leipzig 1928, 1935; Neudruck der Erstausgabe nebst Materialien zur Editionsgeschichte. Einführender Essay von Frank-Manuel Peter. Hrsg. von der Albertina Wien. Langewiesche, Königstein i. Ts. 2002. ISBN 3-7845-3450-3.
  • Amelie Soyka (Hrsg.): Tanzen und tanzen und nichts als tanzen. Tänzerinnen der Moderne von Josephine Baker bis Mary Wigman. Aviva, Berlin 2004. ISBN 3-932338-22-7.
  • Rosita Boisseau: Panoram de la Danse Contemporaine. 90 Chorégraphes. Les Édition Textuel, Paris 2006. ISBN 2-84597-188-5.
  • Alexandra Kolb: Performing Femininity. Dance and Literature in German Modernism. Oxford: Peter Lang 2009. ISBN 978-3-03911-351-4.
  • Simon Baur: Ausdruckstanz in der Schweiz. Noetzel, Wilhelmshaven 2010. ISBN 3-7959-0922-8.
  • Gunhild Oberzaucher-Schüller, Alfred Oberzaucher, Thomas Steiert: Ausdruckstanz: eine mitteleuropäische Bewegung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Wilhelmshaven Florian Noetzel, 1992.

Einzelne Tänzerpersönlichkeiten

Film

In dem Dokumentarfilm Tanz mit der Zeit (2007) zeigt Trevor Peters, wie die Choreographin Heike Hennig in den zeitgenössischen Tanzstücken Zeit – tanzen seit 1927 und Zeitsprünge an der Oper Leipzig moderne Tanzgeschichte lebendig werden lässt, von Ursula Cain (Wigman-Schülerin und Mitglied der Gruppe von Dore Hoyer) bis zum Palucca-Schüler Siegfried Prölß.

Für den Laien bietet Karoline Herfurth im Film Im Winter ein Jahr (2008) in den Schlussszenen einen lehrreichen Einblick in den heutigen Ausdruckstanz.

Siehe auch

Einzelnachweise

  1. 27 Kulturformen ins deutsche Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes aufgenommen
  2. Hedwig Müller, Frank-Manuel Peter, Garnet Schuldt: Dore Hoyer. Tänzerin. Hentrich, Berlin 1992. ISBN 3-89468-012-1, S. 59.
  3. Winter 42/43 (Memento vom 11. Januar 2013 im Internet Archive), Dokumentarfilm, gesendet von der ARD am 7. Januar 2013, 41. Minute, abgerufen am 8. Januar 2013