Methylmalonazidurie

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Zur Navigation springen Zur Suche springen
Klassifikation nach ICD-10
E71.1 Sonstige Störungen des Stoffwechsels verzweigter Aminosäuren
- Methylmalonazidämie
ICD-10 online (WHO-Version 2019)

Die Methylmalonazidurie (MMA) ist eine angeborene Stoffwechselerkrankung, die der Gruppe der Organoazidopathien zugeordnet wird. Sie folgt einem autosomal rezessiven Erbgang und tritt mit einer Inzidenz von etwa 1 : 50.000 auf. Durch einen Defekt des Vitamin-B12-abhängigen Enzyms Methylmalonyl-CoA-Mutase (eine Isomerase) oder einer fehlenden Bereitstellung von Adenosylcobalamin aus Vitamin B12 (einem Cofaktor der Methylmalonyl-CoA-Mutase) werden die Aminosäuren Valin, Isoleucin, Methionin und Threonin sowie auch Fettsäuren mit ungerader Kettenlänge und Cholsäure nicht vollständig abgebaut. Es kommt im Stoffwechsel zu einer Akkumulation von Methylmalonyl-CoA. Diese Anhäufung von Methylmalonyl-CoA führt zu Intoxikationen, die sich in metabolischen Krisen äußert. Die metabolischen Krisen können unbehandelt innerhalb kürzester Zeit zu schweren Schädigungen des Gehirns oder zum Tod führen.

Diagnose[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Eine der häufigsten, wenn nicht sogar die häufigste Form der Organoazidopathien,[1] die Methylmalonazidurie, ist bei der Geburt nicht erkennbar, da die Symptome in der Regel erst dann auftreten, wenn der Säugling mit Proteinen ernährt wird.[2] Daher treten die Symptome üblicherweise irgendwann innerhalb des ersten Lebensjahres auf.[1] Aufgrund der Schwere und der Schnelligkeit, mit der diese Stoffwechselstörung zu Komplikationen führen kann, wenn sie nicht diagnostiziert wird, ist das Screening auf Methylmalonazidurie häufig Bestandteil der Neugeborenenuntersuchung.[2][3]

Aufgrund der Unfähigkeit Aminosäuren vollständig abbauen zu können, wird das Nebenprodukt der Eiweißverdauung, die chemische Verbindung Methylmalonsäure in unverhältnismäßig hoher Konzentration im Blut und Urin der Betroffenen gefunden. Diese abnormen Werte werden als Hauptdiagnosekriterien für die Diagnose der Stoffwechselstörung verwendet. In der Regel wird die Stoffwechselstörung durch eine Urinanalyse oder ein Blutbild festgestellt.[4] Der Verdacht auf eine Methylmalonazidurie kann sich auch durch eine CT- oder MRT-Untersuchung oder einen Ammoniak-Test äußern, allerdings sind diese Tests keineswegs spezifisch und erfordern eine klinische und metabolische Korrelation.[2] Erhöhte Werte von Ammoniak, Glycin und Ketonkörpern können auch im Blut und Urin vorhanden sein.[5]

Typen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die Methylmalonazidurie hat unterschiedliche Diagnosen, Behandlungsanforderungen und Prognosen, welche durch die spezifische genetische Mutation bestimmt sind, die die vererbte Form der Stoffwechselstörung verursacht.[6] Im Folgenden sind Genotypen aufgeführt, die für die Methylmalonazidurie verantwortlich sind:

OMIM Typ Gen Bezeichnung
251000 mut0 MUT Methymalonazidurie, Vitamin B12-resistente, Typ mut0
mut- Methymalonazidurie, Vitamin B12-resistente, Typ mut-
251100 cblA MMAA Methymalonazidurie, Vitamin B12-sensible, Typ cblA
251110 cblB MMAB Methymalonazidurie, Vitamin B12-sensible, Typ cblB
277400 cblC MMACHC Methylmalonazidurie mit Homocystinurie, Typ cblC
277410 cblD MMADHC[7] Methylmalonazidurie mit Homocystinurie, Typ cblD
277380 cblF LMBRD1[8] Methylmalonazidurie mit Homocystinurie, Typ cblF
614857 cblJ ABCD4 Methylmalonazidurie mit Homocystinurie, Typ cblF

Der Typ mut kann weiter in die Subtypen mut0 und mut- unterteilt werden, wobei mut0 durch einen vollständigen Mangel an Methylmalonyl-CoA-Mutase und schwerere Symptome und mut- durch eine verringerte Mutase-Aktivität gekennzeichnet ist.[9]

Es wurde festgestellt, dass die Methylmalonazidurie-Typen cblA und cblB auf Vitamin B12 ansprechen. Dagegen sind mut0 und mut- nicht auf Vitamin B12 ansprechende Typen.[10][11]

Methylmalonazidurie mit Homocystinurie (Synonyme: Kombinierter Defekt der Adenosylcobalamin und Methylcobalamin-Synthese; Methylmalonacidurie – Homocystinurie) ist ein angeborener Fehler im Vitamin-B12- (Cobalamin-)Stoffwechsel und gekennzeichnet durch Megaloblasten-Anämie, Lethargie, Gedeihstörung, Entwicklungsverzögerung, geistige Behinderung und Krampfanfälle. Es gibt vier Komplementierungsklassen von Cobalaminstörungen (cblC, cblD, cblF und cb1J), die für die Methylmalonazidämie – Homozystinurie verantwortlich sind.[12]

Differentialdiagnose[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Kombinierte Malon- und Methylmalonazidurie (CMAMMA)[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Hinsichtlich erhöhter Methylmalonsäurewerte lässt sich eine Methylmalonazidurie von einer kombinierten Malon- und Methylmalonazidurie (CMAMMA) labortechnisch schnell durch die Berechnung des Verhältnisses von Malonsäure zu Methylmalonsäure im Blutplasma unterscheiden, eine Berechnung mit Werten aus dem Urin ist dagegen ungeeignet.[13] Aus dem Verhältnis lässt sich dann auch ablesen, ob eine CMAMMA aufgrund von ACSF3-Mangel (weniger Malonsäure als Methylmalonsäure) oder Malonyl-CoA-Decarboxylase-Mangel (mehr Malonsäure als Methylmalonsäure) vorliegt.[13][14][15]

Behandlung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Diätetik[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

In erster Linie beruht die Behandlung aller Formen dieser Erkrankung auf einer eiweißarmen Ernährung und, je nach Variante der Erkrankung, auf verschiedenen Nahrungsergänzungsmitteln.

Zudem sprechem alle Varianten auf das Levo-Isomer von Carnitin an, da bei den Betroffenen durch den unsachgemäßen Abbau der betroffenen Substanzen ein Carnitinmangel entsteht. Carnitin hilft auch bei der Entfernung von Acyl-CoA, welches sich bei eiweißarmer Ernährung häufig ansammelt, indem es in Acyl-Carnitin umgewandelt wird, das mit dem Urin ausgeschieden werden kann.

Einige Formen der Methylmalonazidurie sprechen auf Cobalamin an, obwohl sich eine Cyanocobalaminsupplementierung bei einigen Formen als nachteilig erweisen könnte.[16]

Wenn der Betroffene sowohl auf Cobalamin- als auch auf Carnitinpräparate anspricht, dann kann es für diesen möglich sein Nahrungsmittel mit geringen Mengen der problematischen Aminosäuren Isoleucin, Threonin, Methionin und Valin aufzunehmen, ohne eine Stoffwechselentgleisung zu bekommen.[2]

Transplantation[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Eine extremere Behandlung ist die Nieren- oder Lebertransplantation von einem Spender, der nicht an der Krankheit leidet. Die fremden Organe produzieren dann eine funktionsfähige Version der defekten Enzyme und bauen die Methylmalonsäure ab, jedoch gelten alle Nachteile einer Organtransplantation auch in dieser Situation.[2] Es gibt Hinweise darauf, dass das Zentralnervensystem Methylmalonyl-CoA in einem vom Rest des Körpers isolierten System verstoffwechseln kann. Wenn dies der Fall ist, dann kann eine Transplantation die neurologischen Auswirkungen der Methylmalonsäure vor der Transplantation nicht rückgängig machen oder eine weitere Schädigung des Gehirns durch fortgesetzte Anhäufung verhindern.[17][18]

mRNA-Therapie[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Vorklinische Proof-of-Concept-Studien in Tiermodellen haben gezeigt, dass sich die mRNA-Therapie auch für seltene Stoffwechselerkrankungen eignet, darunter die isolierte Methylmalonazidurie.[19][20] In diesem Zusammenhang ist der Methylmalonazidurietherapiekandidat mRNA-3705 des Biotechnologieunternehmens Moderna zu nennen, der sich derzeit in der Phase 1/2 befindet.[21]

Siehe auch[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Brigitte Marian (Hrsg.): Krankheit, Krankheitsursachen und -bilder. (= MCW Block 8).1. Auflage. Facultas Verlag, Wien 2007, ISBN 978-3-7089-0183-1.

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. a b Ashwini Malhotra, Navdeep Saini, Sanjay Chhabra, Sunny Chhabra: Methylmalonic acidemia mimicking diabetic ketoacidosis and septic shock in infants. In: Indian Journal of Critical Care Medicine. Band 19, Nr. 3, März 2015, ISSN 0972-5229, S. 183–185, doi:10.4103/0972-5229.152776, PMID 25810618, PMC 4366921 (freier Volltext).
  2. a b c d e "Methylmalonic acidemia". MedlinePlus Medical Encyclopedia. US National Library of Medicine. Abgerufen am 27. Oktober 2015.
  3. Kimberly G Lee. "Newborn screening tests". MedlinePlus Medical Encyclopedia. Division of Neonatology, Medical University of South Carolina. Abgerufen am 26. April 2016.
  4. Ashwini Malhotra, Navdeep Saini, Sanjay Chhabra, Sunny Chhabra: Methylmalonic acidemia mimicking diabetic ketoacidosis and septic shock in infants. In: Indian Journal of Critical Care Medicine. Band 19, Nr. 3, März 2015, ISSN 0972-5229, S. 183–185, doi:10.4103/0972-5229.152776, PMID 25810618, PMC 4366921 (freier Volltext).
  5. "Acidemia, Methylmalonic". NORD (National Organization for Rare Disorders). Abgerufen am 29. Oktober 2015.
  6. Suzanne M. Matsui, Maurice J. Mahoney, Leon E. Rosenberg: The Natural History of the Inherited Methylmalonic Acidemias. In: New England Journal of Medicine. Band 308, Nr. 15, 14. April 1983, ISSN 0028-4793, S. 857–861, doi:10.1056/NEJM198304143081501.
  7. David Coelho, Terttu Suormala, Martin Stucki, Jordan P. Lerner-Ellis, David S. Rosenblatt, Robert F. Newbold, Matthias R. Baumgartner, Brian Fowler: Gene Identification for the cblD Defect of Vitamin B 12 Metabolism. In: New England Journal of Medicine. Band 358, Nr. 14, 3. April 2008, ISSN 0028-4793, S. 1454–1464, doi:10.1056/NEJMoa072200.
  8. Frank Rutsch, Susann Gailus, Isabelle R Miousse, Terttu Suormala, Corinne Sagné, Mohammad Reza Toliat, Gudrun Nürnberg, Tanja Wittkampf, Insa Buers, Azita Sharifi, Martin Stucki, Christian Becker, Matthias Baumgartner, Horst Robenek, Thorsten Marquardt, Wolfgang Höhne, Bruno Gasnier, David S Rosenblatt, Brian Fowler, Peter Nürnberg: Identification of a putative lysosomal cobalamin exporter altered in the cblF defect of vitamin B12 metabolism. In: Nature Genetics. Band 41, Nr. 2, Februar 2009, ISSN 1061-4036, S. 234–239, doi:10.1038/ng.294.
  9. "MMA Study: General Information". www.genome.gov. Abgerufen am 3. November 2015.
  10. Methylmalonazidämie, Vitamin B12-resistente, Typ mut-. Orphanet, abgerufen am 18. Februar 2024.
  11. Methylmalonazidämie, Vitamin B12-resistente, Typ mut0. Orphanet, abgerufen am 18. Februar 2024.
  12. Methylmalonazidämie mit Homocystinurie. In: Orphanet (Datenbank für seltene Krankheiten).
  13. a b Monique G. M. de Sain-van der Velden, Maria van der Ham, Judith J. Jans, Gepke Visser, Hubertus C. M. T. Prinsen, Nanda M. Verhoeven-Duif, Koen L. I. van Gassen, Peter M. van Hasselt: A New Approach for Fast Metabolic Diagnostics in CMAMMA. In: JIMD Reports. Band 30. Springer Berlin Heidelberg, Berlin, Heidelberg 2016, ISBN 978-3-662-53680-3, S. 15–22, doi:10.1007/8904_2016_531, PMID 26915364, PMC 5110436 (freier Volltext).
  14. A. Alfares, L. D. Nunez, K. Al-Thihli, J. Mitchell, S. Melancon, N. Anastasio, K. C. H. Ha, J. Majewski, D. S. Rosenblatt, N. Braverman: Combined malonic and methylmalonic aciduria: exome sequencing reveals mutations in the ACSF3 gene in patients with a non-classic phenotype. In: Journal of Medical Genetics. Band 48, Nr. 9, 1. September 2011, ISSN 0022-2593, S. 602–605, doi:10.1136/jmedgenet-2011-100230.
  15. M Dewit, I Decoo, E Verbeek, R Schot, G Schoonderwoerd, M Duran, J Deklerk, J Huijmans, M Lequin, F Verheijen: Brain abnormalities in a case of malonyl-CoA decarboxylase deficiency. In: Molecular Genetics and Metabolism. Band 87, Nr. 2, Februar 2006, S. 102–106, doi:10.1016/j.ymgme.2005.09.009 (elsevier.com).
  16. J.C. Linnell, D.M. Matthews, J.M. England: THERAPEUTIC MISUSE OF CYANOCOBALAMIN. In: The Lancet. Band 312, Nr. 8098, November 1978, S. 1053–1054, doi:10.1016/S0140-6736(78)92379-6 (elsevier.com).
  17. Methylmalonic Aciduria due to Methylmalonyl-CoA Mutase deficiency. In: Online Mendelian Inheritance in Man. (englisch)
  18. Kumbham P, Mandava P, Zweifler RM, Kent TA, Nelson Jr SL, Gerstein BY: Methylmalonic Acidemia. 19. September 2022 (medscape.com).
  19. Ding An, Jessica L. Schneller, Andrea Frassetto, Shi Liang, Xuling Zhu, Ji-Sun Park, Matt Theisen, Sue-Jean Hong, Jenny Zhou, Raj Rajendran, Becca Levy, Rebecca Howell, Gilles Besin, Vladimir Presnyak, Staci Sabnis, Kerry E. Murphy-Benenato, E. Sathyajith Kumarasinghe, Timothy Salerno, Cosmin Mihai, Christine M. Lukacs, Randy J. Chandler, Lin T. Guey, Charles P. Venditti, Paolo G.V. Martini: Systemic Messenger RNA Therapy as a Treatment for Methylmalonic Acidemia. In: Cell Reports. Band 21, Nr. 12, Dezember 2017, S. 3548–3558, doi:10.1016/j.celrep.2017.11.081, PMID 29262333, PMC 9667413 (freier Volltext) – (elsevier.com [abgerufen am 8. Februar 2024]).
  20. Paolo G.V. Martini, Lin T. Guey: A New Era for Rare Genetic Diseases: Messenger RNA Therapy. In: Human Gene Therapy. Band 30, Nr. 10, 1. Oktober 2019, ISSN 1043-0342, S. 1180–1189, doi:10.1089/hum.2019.090 (liebertpub.com).
  21. A Clinical Trial of a Methylmalonic Acidemia (MMA) Due to MUT Deficiency Treatment for Children and Adults. Abgerufen am 8. Februar 2024.

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]