„Staude-Drehung“ – Versionsunterschied

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Version vom 24. Mai 2018, 12:38 Uhr

Die Staude-Drehungen[1] nach Otto Staude sind in der Kreiseltheorie gleichförmige Drehungen eines schweren unsymmetrischen Kreisels um eine lotrechte, körperfeste aber frei drehbare Achse. An die Hauptträgheitsmomente und die Lage des Schwerpunkts werden keinerlei Bedingungen gestellt. Gleichförmige Drehungen sind unter diesen Umständen nur mit bestimmter Drehgeschwindigkeit um Drehachsen möglich, die auf einem körperfesten Ellipsenkegel liegen, dem Staude-Kegel[2], der wesentlich auch von der Lage des Schwerpunkts abhängt und den Staude selbst Schwerpunktskegel nannte[3].

Die Drehung des unsymmetrischen Kreisels um eine lotrechte Hauptträgheitsachse hat eine gewisse technische Bedeutung[4]. Staude entdeckte diese analytische Lösung der Euler’schen Kreiselgleichungen 1894[5].

Allgemeines

Die Kreiselgleichungen können im allgemeinen Fall des unsymmetrischen schweren Kreisels nicht analytisch gelöst werden. Die drei bei beliebigen Anfangsbedingungen analytisch immer lösbaren Fälle, der Euler-Kreisel, der Lagrange-Kreisel und der Kowalewskaja-Kreisel stellen je drei Bedingungen an die Massenverteilung im Kreisel. Bei den Staude-Drehungen werden vier Forderungen ausschließlich an die Anfangsbedingungen gestellt[6]. Edward Routh bewies 1892, dass die Schwerkraft eine reguläre Präzession des unsymmetrischen Kreisels nur dann zu unterhalten vermag, wenn dieser gleichförmig um eine körperfeste und lotrechte Achse rotiert[7].

Denn das Drehmoment der Zentrifugalkräfte, kurz das Zentrifugalmoment im rotierenden Kreisel schwankt mit der doppelten Frequenz der Eigendrehung des Kreisels wohingegen das Schweremoment der Gewichtskraft unabhängig von der Lage des Schwerpunkts höchstens mit der einfachen Frequenz der Eigendrehung pulsiert. Daher darf bei der permanenten Drehung keine Eigendrehung mit Komponenten senkrecht zur Präzessionsachse auftreten, um die der Kreisel dreht. Das Zentrifugalmoment ist senkrecht auf der Präzessionsachse. Das Schweremoment ist immer senkrecht zur Vertikalachse und im dynamischen Gleichgewicht mit dem Zentrifugalmoment, womit die Präzessionsachse ebenfalls lotrecht sein muss. Eine permanente Drehung des unsymmetrischen Kreisels kann daher nur um lotrechte Achsen erfolgen[8]. Da die Drehachse bei Staude-Drehungen auch körperfest ist, bleibt bei der Bewegung die potentielle Energie konstant. Weil die Gesamtenergie ebenfalls konstant ist, gilt das auch für die Rotationsenergie, weswegen auch die Winkelgeschwindigkeit bei den Staude-Drehungen unveränderlich sein muss[9].

Bedingungsgleichungen für die permanenten Vertikalachsen

Abb. 1: Rotationskegel des Drehimpulses um die lotrechte Drehachse.

Der Staude-Kreisel rotiert mit gleichförmiger Winkelgeschwindigkeit Ω um eine lotrechte, also raumfeste, und gleichzeitig körperfeste Achse

,

wo lotrecht nach oben weist, n1,2,3 die konstanten Koordinaten des Einheitsvektors im Hauptachsensystem mit Hauptträgheitsachsen sind. Die Winkelgeschwindigkeit und der Drehimpuls sind ebenso körperfest. Darin ist Θ der Trägheitstensor des Kreisels bezüglich des Stützpunkts. Wegen der raumfesten Drehachse beschreibt der Drehimpuls um die Lotrichtung einen raumfesten Kegel, siehe Abb. 1. Die Drehimpulsänderung verursacht eine Kreiselwirkung , die sich in diesem Fall angeben lässt:

Das ist analog zu , wo sich die Geschwindigkeit bei einer reinen Rotation mit Winkelgeschwindigkeit aus dem Abstand zu einem Fixpunkt auf der Drehachse ergibt. Nach dem Drallsatz entspricht dieser Drehimpulsänderung das angreifende Drehmoment, das hier vom Schweremoment

gestellt wird. Darin ist der Schwerpunkt, m die Masse, die Schwerebeschleunigung und g ihr Betrag. Kreiselwirkung und Moment befinden sich im dynamischen Gleichgewicht () mit der Konsequenz

Wenn unter Einhaltung dieser Bedingung der Kreisel mit der Winkelgeschwindigkeit Ω um die vertikale körperfeste Achse kreist, dann verharrt er in dem so hergestellten Bewegungszustand[10]. Die Komponenten obiger Vektorgleichung im Hauptachsensystem können beim unsymmetrischen Kreisel, wenn keine der drei n1,2,3 verschwindet, nach Ω aufgelöst werden:

Hierin sind

  • s1,2,3 die Koordinaten des Schwerpunkts,
  • n1,2,3 die Koordinaten der Lotrichtung und
  • A, B, C die drei Hauptträgheitmomente

im körperfesten Hauptachsensystem. Weil Ω² nie negativ ist, ist bei gegebener Richtung nur eine Orientierung oder möglich[11]. Falls nach obiger Formel Ω² negativ ist, wird durch ersetzt, wodurch die Komponenten n1,2,3 und Ω² ihre Vorzeichen wechseln, siehe auch den Abschnitt #Eigenschaften des Schwerpunktskegels. Das Vorzeichen von Ω, also der Drehsinn, bleibt beliebig.

Staudes Schwerpunktsebene und -kegel

Abb. 2: Staude’sche Schwerpunkts­ebene

Die Lotrichtung, die Winkelgeschwindigkeit, der Schwerpunkt und der Drehimpuls befinden sich in einer Ebene, der Staude’schen Schwerpunktsebene, siehe Abb. 2. Folgende Spezialfälle können hier auftreten:

  1. Die Vertikale ist Hauptachse. Wenn der Schwerpunkt auch auf der Hauptachse liegt, dann sind Rotationen mit beliebiger Winkelgeschwindigkeit möglich. Andernfalls geht Ω gegen unendlich, denn die Dreiecksseiten und sind dann parallel. Weil das Kreiselmoment der Fliehkräfte um die Hauptachsen verschwindet, kann eine Kompensation des Schweremoments bei endlichen Drehgeschwindigkeiten nicht stattfinden[12].
  2. Der Schwerpunkt liegt auf der Vertikalen, die keine Hauptachse ist. Dann ist Ω = 0.

Skalare Multiplikation obiger Gleichung mit oder ergibt das Spatprodukt[13]

oder in Komponenten im Hauptachsensystem

Bei festem n1,2,3 und variablem s1,2,3 definiert diese Gleichung eine Ebene, die Schwerpunktsebene. Ist umgekehrt der Schwerpunkt mit Komponenten s1,2,3 gegeben und die n1,2,3 frei, dann stellt die Gleichung einen Ellipsenkegel, den Staude’schen Schwerpunktskegel vor. Der Schwerpunktskegel besteht aus den Winkelgeschwindigkeiten , die mit dem zugehörigen Drehimpuls eine Ebene aufspannen, die den Schwerpunkt enthält[14]. Beim symmetrischen Kreisel, wo zwei der drei Hauptträgheitmomente übereinstimmen, entartet der Kegel in zwei zueinander senkrechte Ebenen[15].

Eigenschaften des Schwerpunktskegels

Abb. 3: Staudescher Schwerpunktskegel[16]

Die in den Koordinaten der Lotrichtung quadratische Gleichung definiert beim unsymmetrischen Kreisel, der nicht im Schwerpunkt gelagert ist, einen Ellipsenkegel, der aus zwei Halbkegeln besteht, die an ihrer Spitze verbunden sind, siehe Abb. 3. Ein Ellipsenkegel ist durch fünf Mantellinien eindeutig bestimmt[17], die sich hier angeben lassen. Alle drei Hauptachsen des Kreisels sind Mantellinien (schwarz), denn dann sind zwei der Koordinaten n1,2,3 gleich null. Der Schwerpunkt (blau) und (lila) liegen ebenfalls auf Mantellinien. Der Staude’sche Schwerpunktskegel kann konstruiert werden, sobald die Massenverteilung des Kreisels bekannt ist.

Nach Abb. 2 ist das Schweremoment betraglich gleich m g s sinϑ, wenn s der Abstand des Schwerpunkts vom Stützpunkt und ϑ der Neigungswinkel zwischen und der Vertikalen ist. Die Kreiselwirkung des Drehimpulses ist andererseits betraglich gleich Ω L sinα wobei α die Neigung des Drehimpulses gegenüber der Lotrichtung und L der Betrag des Drehimpulses ist, der linear mit der Drehgeschwindigkeit zunimmt: L = J Ω mit J > 0. Schweremoment und Kreiselwirkung sind gleichgroß[18]:

m g s sinϑ = J Ω² sinα

Von den beiden Halbstrahlen mit Winkeln α und π + α in Radiant ist nur einer zulässig, je nach Vorzeichen von sinϑ. Wenn nun die Rotationsachse den Staude-Kegel entlang fährt, dann wechselt sinϑ das Vorzeichen, wenn die Rotationsachse die Schwerpunktachse passiert, und sinα, wenn eine Hauptachse erreicht wird. Die beiden Halbkegel werden durch die Schwerpunktachse und die drei Hauptachsen in jeweils vier Bereiche geteilt, die abwechselnd den zulässigen und den unzulässigen Halbstrahl der Drehachse enthalten. In Abb. 3 sind die Sektoren mit den zulässigen Halbstrahlen grün und die mit den unzulässigen rot gefärbt. Der Abstand eines Punkts auf einer der roten Kurven zur Kegelspitze ist proportional zur Winkelgeschwindigkeit Ω. Auf den Hauptachsen mit α = 0 wächst Ω über alle Grenzen, falls sinϑ ≠ 0. Auf der Mantellinie, die den Schwerpunkt enthält, ist sinϑ = 0 und Ω = 0, falls sinα ≠ 0. Mehr zum Schwerpunktskegel, insbesondere seine Entartungen, findet sich in der Originalarbeit[5].

Stabilität der Staude-Drehungen

Die Staude-Drehungen können stabil oder instabil sein. Die Untersuchung der Stabilität erfordert viele Fallunterscheidungen[19] und hat sich zunächst als Aufgabe mit fast hoffnungsloser Schwierigkeit herausgestellt. Die Lösung lässt sich aber vollständig angeben[20].

Es zeigt sich, dass ein Körper, der als kräftefreier Kreisel stabil rotiert, in bestimmten Drehzahlbereichen instabil werden kann, wenn er hängt, also statisch stabil ist. Umgekehrt kann ein Kreisel, der um seine Hauptachse mit dem mittelgroßen Trägheitsmoment kräftefrei stets instabil rotiert, bei bestimmten Drehzahlen unter Schwerkraftwirkung auch dann stabil werden, wenn er aufrecht, also statisch instabil ist. Das lässt sich auch experimentell bestätigen[21]. Beim unsymmetrischen Kreisel, der um eine Hauptachse kreist, darf deren Hauptträgheitmoment nicht größer als doppelt so groß wie die anderen beiden Hauptträgheitmomente sein, sonst ist die Drehung instabil[22].

Verallgemeinerung durch Schiff

Die Staude-Drehungen stellen einfachunendlich (∞) viele Lösungen der Kreiselgleichungen dar. L. A. Schiff hat mittels algebraischer Operationen und zweier Quadraturen eine Schar von ∞5 Bewegungen angegeben, bei denen der Drehimpuls konstanten Betrag behält und einen raumfesten Kreiskegel mit beliebigem Öffnungswinkel umschreibt. Die Staude-Drehungen sind in den Schiff’schen Bewegungen enthalten[23].

Beispiel

Der Schwerpunktskegel aus Abb. 3 lässt sich mit den Daten aus der Tabelle

A B C s1 s2 s3
8 11 16 -6 -1 -8

im Hauptachsensystem wie folgt konstruieren.

Die Kegelgleichung wird mittels einer symmetrischen Matrix M ausgedrückt:

mit

Die Hauptachsentransformation dieser Matrix gelingt mit deren charakteristischem Polynom

worin E die Einheitsmatrix ist und det die Determinante ausgibt. Das Polynom hat die reellen Lösungen

Darin ist cos der Cosinus und arccos seine Umkehrfunktion. Die Eigenwerte λ1,2,3 werden so sortiert, dass die ersten beiden gleiches Vorzeichen besitzen. Zu den Eigenwerten berechnen sich die auf Länge eins normierten Eigenvektoren

Wenn diese kein Rechtssystem bilden, werden die ersten beiden Eigenwerte und -vektoren vertauscht. Mit den Werten aus der Tabelle entsteht auf vier signifikante Stellen gerundet:

Jeder Punkt auf dem Staude-Kegel wird durch einen Vektor

erreicht, worin die Koordinaten x, y, z der Quadrik

gehorchen. Eine Ellipse als Schnitt dieses Ellipsenkegels entsteht bei konstantem z.

Fußnoten

  1. Grammel (1920), S. 132, Grammel (1950), S. 172, Magnus (1971), S. 132, Klein und Sommerfeld (2010), S. 386.
  2. Grammel (1920), S. 132, Magnus (1971), S. 134
  3. Staude (1894), S. 321
  4. Magnus (1971), S. 136
  5. a b Otto Staude: Über permanente Rotationsachsen bei der Bewegung eines schweren Körpers um einen festen Punkt, siehe Literatur.
  6. Klein und Sommerfeld (2010), S. 378 und S. 581.
  7. Edward Routh: Die Dynamik der Systeme starrer Körper. Die Höhere Dynamik. Band 2. B.G. Teubner, Leipzig 1898, S. 163 (archive.org – Der Satz erschien bereits 1892 in der 5. Auflage von The advanced part of A treatise on the dynamics of a system of rigid bodies von Routh, S. 142f.).
  8. Grammel (1920), S. 130, Grammel (1950), S. 171f.
  9. Magnus (1971), S. 132.
  10. Staude (1894), S. 321
  11. Staude (1894), S.322
  12. Magnus (1971), S. 136.
  13. Grammel (1920), S. 132.
  14. Staude (1894), S. 322
  15. Magnus (1971), S. 134.
  16. A : B : C = 8 : 11 : 16, s1 : s2 : s3 = -6 : -1 : -8
  17. Klein und Sommerfeld (2010), S. 388.
  18. Klein und Sommerfeld (2010), S. 389.
  19. Magnus (1971), S. 136, Grammel (1950), S. 178ff. und Leimanis (1965)
  20. Grammel (1950), S. 178f.
  21. Magnus (1971), S. 139.
  22. Magnus (1971), S. 141.
  23. Felix Klein, Conr. Müller: Encyklopädie der Mathematischen Wissenschaften mit Einschluss ihrer Anwendungen. Mechanik. Hrsg.: Akademien der Wissenschaften zu Göttingen, Leipzig, München und Wien. Vierter Band. Springer Verlag, 2013, ISBN 978-3-663-16021-2, S. 645, doi:10.1007/978-3-663-16021-2 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche [abgerufen am 13. Mai 2018]).

Literatur