Corelli (V-Mann)

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Der V-Mann Corelli alias Thomas Richter[1] (* 1976; † 2014) war einer der wesentlichen Akteure im Umfeld der neonazistischen Terrorgruppe Nationalsozialistischer Untergrund (NSU). Er hatte als V-Mann für das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) 18 Jahre lang als „Top-Quelle“[2] in der rechtsextremen Szene gedient. Das Bundesinnenministerium verweigerte dem NSU-Untersuchungsausschuss Auskünfte über den V-Mann Corelli, woraufhin der Ausschuss in Erwägung zog, das Ministerium auf die Herausgabe von Informationen zu verklagen.

Entwicklung zur V-Person

Richter hatte drei ältere Brüder, die alle Rechtsextremisten waren. Von diesen wurde er mit 16 Jahren in Halle in ein rechtsextremistisches Umfeld eingeführt und dadurch sozialisiert. Nachdem bei seinem Förderer von der verbotenen rechtsextremen Partei Nationalistische Front, Meinolf Schönborn, für den er ab 1993 arbeitete, bei einer Feier 1995 sämtliche Einrichtung zerstört wurde, bot er sich der Polizei als V-Mann an um die Schäden bezahlen zu können. Später wurde er an das Bundesamt für Verfassungsschutz weitergereicht. Seinem Wunsch, aus dem neonazistischen Milieu herauszukommen, wurde nicht nachgekommen, da er eine wichtige Informationsquelle war.[3]

Aktivitäten

Richters Spitzname war „HJ Tommy“. Er war in der Neonaziszene in Sachsen-Anhalt und Sachsen aktiv. Um die Jahrtausendwende galt Richter als einer der führenden Köpfe in der Neonazi-Szene Sachsen-Anhalts (Der Spiegel). In einem vertraulichen Bundeskriminalamt (BKA)-Bericht über rechtsextremistische Kameradschaften wurde er als „Namensgeber und Initiator“ des Nationalen Widerstands Halle bezeichnet. Richter war Herausgeber der Zeitung Nationaler Beobachter und betrieb zahlreiche Internetseiten mit rechtsextremer Hetze. Er gründete einen rechtsextremen Musikvertrieb und stand über diesen in regem Kontakt mit der Blood & Honour-Bewegung.

Mitte der 1990er Jahre war Richter bereits den European White Knights of the Ku Klux Klan (EWK KKK) beigetreten, einem deutschen Ableger des rassistischen Geheimbundes aus den USA. Seine Aufnahme habe in Wien stattgefunden, berichtete Richter dem BKA. Nach eigenen Aussagen habe er sich in die Haut schneiden und auf die Bibel schwören müssen. Später verbrannten die Klan-Mitglieder ein Kreuz in der Burgruine von Schwäbisch Hall.[4]

Von 1997 bis 2007 hatte er für den deutschen Inlandsgeheimdienst in der Neonazi-Szene spioniert. Er war eine von drei Quellen, die das BfV im Umfeld des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) platzieren konnte. Doch Corelli war der einzige von ihnen, der dem NSU-Trio wirklich nahe gekommen war. 1995 soll es mindestens ein Treffen zwischen ihm und Uwe Mundlos gegeben haben. Zudem fanden sich die Daten von Richter in Mundlos’ Telefonliste, die 1998 entdeckt wurde.

Dabei beging Richter immer Rechtsverstöße. Bei einer Hausdurchsuchung wurde auch die Kampfschrift Der Weg vorwärts gefunden. Darin wird für eine zellenartige militante Organisation plädiert, die Anschläge auf Migranten ausüben soll.

Das BfV bezahlte Richter Autos, seine Schulden und Abschlussprämien. Auch die Kosten einer „Unterbringung durch befreundeten Auslandsdienst“ und „Kosten einer Sprachschulungsmaßnahme im Ausland“ fielen mit Tausenden Euro ins Gewicht. Er erhielt Sonderprämien, nachdem seine umfangreiche EDV-Anlage von der Polizei beschlagnahmt worden war. Der Verfassungsschutz finanzierte den Neukauf.

Insgesamt erhielt Richter vom Verfassungsschutz im Laufe der Jahre 296.843 Euro. Richter arbeitete zuletzt als Lederwarenhändler.

Enttarnung und Auffinden seiner Leiche

In einem Pressegespräch am 17. September 2012 stellte der Innenminister von Sachsen-Anhalt, Holger Stahlknecht (CDU), die haltlose Behauptung auf, Politiker der Linken hätten durch „Indiskretionen“ einen Zusammenhang zwischen „Corelli“ und Thomas Richter hergestellt und damit den V-Mann in Lebensgefahr gebracht; nach diesem Pressegespräch erschien in der Magdeburger Volksstimme ein Artikel, in dem „Thomas R.“ erstmals als V-Mann bezeichnet wird.[5] Richter war seit diesem Zeitpunkt im Zeugenschutzprogramm des Verfassungsschutzes. Ausgestattet mit einer neuen Identität (Thomas Dellig), lebte er zuletzt in einer Wohnung in der Gegend von Schloß Holte-Stukenbrock.

Ende März 2014 starb Richter überraschend im Alter von 39 Jahren. Kurz vor einer geplanten Vernehmung zu einer gefundenen CD mit Informationen zum NSU wurde er am 7. April 2014 von seinem Vermieter tot in seiner Wohnung gefunden. Der Vermieter hatte auf Betreiben zweier Verfassungsschützer die Tür aufgebrochen. Erste Vermutung für die Todesursache war eine unentdeckte Diabetes-Erkrankung, so die Staatsanwaltschaft. Der Frankfurter Rundschau zufolge wurde im Laufe des Aprils 2014 der vom Notarzt auf den Namen Dellig ausgestellte Totenschein von der Polizei umgeschrieben und ein neuer, rückdatierter Beerdigungsschein ausgestellt.

Auch im Innenausschuss des Bundestags warf der Tod Richters Fragen auf. Der Ausschuss lud den leitenden Oberstaatsanwalt aus Paderborn vor, dem Minister Kutschaty eine Aussagegenehmigung erteilte. Als die Abgeordneten die toxikologischen Gutachten aus den Ermittlungsakten haben wollten, sperrte sich der Oberstaatsanwalt jedoch.[6]

Am 2. Juni 2016 war „Corelli“ im NSU-Untersuchungsausschuss von Nordrhein-Westfalen Thema. Dort sagte der Mediziner, Diabetologe Werner A. Scherbaum aus.[7] Er korrigierte seine gutachterliche Aussage von 2014, nach der Richter eindeutig an einer unerkannten Diabetes gestorben sei. Sein Obduktionsergebnis lautete 2014 „komatöser Zuckerschock“. Diese Bewertung nahm er nun zurück. 2016 hieß es von ihm, die Tragweite des Falles sei ihm nicht bewusst gewesen. Er habe sich in der Zwischenzeit weiter kundig gemacht und sei auf zwei Stoffe gestoßen, deren Einverleibung dieselben Symptome wie ein Zuckerschock erzeugen könne. Einer dieser Stoffe finde sich in Rattengift. Der NRW-Untersuchungsausschuss gab daraufhin eine erneute toxikologische Untersuchung der asservierten Körperteile Richters in Auftrag.[8][9]

Am 21. Juni 2016 gab die zuständige Staatsanwaltschaft Paderborn in einer Pressemitteilung bekannt, dass das Todesermittlungsverfahren zu Corelli wieder aufgenommen werde.

Aufarbeitung

Das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) wusste durch Corelli bereits im Jahr 2005 von der Existenz des Kürzels NSU. Thomas Richter hatte seinem Quellenführer beim Verfassungsschutz bereits 2005 eine DVD mit rechtsextremem Material und einer Datei mit dem Titel “NSDAP/NSU” übergeben. Bei einer Erstauswertung des Datenträgers im Jahr 2005 konnte nach einem Bericht der Bild beim BfV niemand etwas mit dem Kürzel “NSU” anfangen.

Anfang 2014 tauchte dann beim Hamburger Landesamt für Verfassungsschutz eine weitere DVD mit dem Titel “NSU/NSDAP” auf (sie stammte aus dem Jahr 2006), an deren Produktion Thomas Richter offenbar beteiligt war. Sie enthielt 15.000 rassistische und antisemitische Texte und Bilder. Im Begleittext wurde sie als “erste umfangreiche Bilddaten-CD des Nationalsozialistischen Untergrundes der NSDAP (NSU)”[10] angepriesen.

Das Parlamentarische Kontrollgremium zur Untersuchung des NSU-Falls hatte den ehemaligen Grünen-Abgeordneten Jerzy Montag im Oktober 2014 als Sonderermittler eingesetzt, nachdem im Archiv des Bundesamtes für Verfassungsschutz eine von Richter dem Amt zur Verfügung gestellte CD aus dem Jahr 2005 mit der Aufschrift „NSU“ gefunden worden war. Dies war ein deutlicher, früher Hinweis auf die rechtsterroristische Gruppe Nationalsozialistischer Untergrund (NSU), mit deren Mitglied Uwe Mundlos Richter nachweislich zumindest vor dessen Untertauchen 1998 in Kontakt stand. Die CD war dem NSU-Untersuchungsausschuss vorenthalten worden.

Im Auftrag des Parlamentarischen Kontrollgremiums des Bundestages hat Sonderermittler Jerzy Montag bis Mai 2015 den Fall von Richter untersucht. WDR, NDR und die Süddeutsche Zeitung konnten den 300 Seiten starken Bericht einsehen und veröffentlichten Details. Der Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz, Hans-Georg Maaßen, hat wegen dieser Veröffentlichung eine Strafanzeige wegen Weitergabe vertraulicher Informationen gestellt.[11]

Corelli sei vor allem „quantitativ“ eine Spitzen-Quelle für das BfV gewesen, sagte Sonderermittler Montag. Er zeigte sich in seinem Bericht entsetzt darüber, dass angesichts der Masse an Informationen, die Corelli lieferte, nur wenig beim BfV ausgewertet wurde.[2]

Ende Mai 2016 tauchten im Bundesamt für Verfassungsschutz in Köln deutsche und niederländische Prepaid-Karten von Corelli auf, die nicht auf einen Bezug zum NSU ausgewertet und auch nie dem Sonderermittler vorgelegt wurden.[12] Kurz darauf wurde der Sonderermittler wieder eingesetzt und im Juni 2016 weitere unausgewertete oder falsch ausgewertete Handys aufgefunden, und daher von vielen Seiten Rücktrittsforderungen gegen den Präsidenten des Bundesamts für Verfassungsschutz, Hans-Georg Maaßen laut. [13]

Einzelnachweise

  1. Tanjev Schultz und Lena Kampf: Rechtsextremist „Corelli“. Staat zahlte V-Mann fast 300 000 Euro. sueddeutsche.de, 20. Mai 2015
  2. a b Lena Kampf: Bericht zum V-Mann „Corelli“. Das Versagen des Verfassungsschutzes. tagesschau.de, 20. Mai 2015
  3. mdr.de: Geburtstag mit 200 Neonazis - Wer war dieser V-Mann "Corelli"? | MDR.DE. Abgerufen am 25. Juni 2016 (deutsch).
  4. Jörg Diehl, Sven Röbel, Jörg Schindler und Fidelius Schmid: Tod des V-Mannes „Corelli“: Ende eines Lebens im rechten Sumpf. spiegel.de, 14. April 2014
  5. http://www.fr-online.de/panorama/-corelli--v-mann-mit-verbindung-zum-nsu,1472782,31022146.html Hendrik Kranert-Rydzy: v-mann-mit-verbindung-zum-nsu. fr-online.de. Abgerufen am 1. August 2015.
  6. taz-de: Rechtsextremer V-Mann „Corelli“: Ein ganz natürlicher Tod.
  7. Das reihenweise Sterben der NSU-Zeugen - Startseite - Aktuelle Stunde - Fernsehen - WDR. In: www1.wdr.de. 16. März 2016, abgerufen am 10. Juni 2016.
  8. NSU-Ausschüsse: Kämpfe an der V-Leute-Front
  9. welt.de: Starb V-Mann "Corelli" durch Rattengift? - Stefan Aust, Helmar Büchel, Dirk Laabs, veröffentlicht am 8. Juni 2016, abgerufen am 9. Juni 2016
  10. http://www.publikative.org/2014/10/01/corelli-soll-verfassungsschutz-auf-nsu-hingewiesen-haben/
  11. http://www.deutschlandfunk.de/weitergabe-vertraulicher-informationen-verfassungsschutz.1773.de.html?dram:article_id=324471 Rolf Clement: Weitergabe vertraulicher Informationen. Bericht vom 4. Juli 2015, abgerufen am 1. August 2015
  12. tagesschau.de: NSU-Skandal: Wieder neue Informationen im Fall "Corelli". In: tagesschau.de. Abgerufen am 31. Mai 2016 (deutsch).
  13. tagesschau.de: Rücktrittsforderungen: Wie eng wird es jetzt für Maaßen? In: tagesschau.de. 23. Juni 2016, abgerufen am 23. Juni 2016.