Rached al-Ghannouchi

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Rachid al-Ghannouchi (arabisch راشد الغنوشي Raschid al-Ghannuschi, DMG Rāšid al-Ġannūšī; * 22. Juni 1941 in El Hamma) ist ein tunesischer Politiker und Vorsitzender der gemäßigt islamistischen Ennahda-Partei.

Rachid Ghannouchi (2011)

Bedeutung

Al-Ghannouchi ist ein wichtiger Intellektueller des politischen Islam und führt seit 1981 eine politische Bewegung, die einen demokratischen islamischen Staat propagiert und mit den hart kritisierten despotischen Regimen der tunesischen Präsidenten Habib Bourguiba und Ben Ali in Konflikt geriet. Er verbrachte mehrere Jahre im Gefängnis und ging 1989 ins Exil nach London, wo er bis 2011 blieb. Seine politischen Ansichten blieben im Westen umstritten und wurden immer wieder in der Nähe des radikalen Islamismus verortet; so war ihm die Einreise in die Vereinigten Staaten verboten.

Durch die Revolution in Tunesien 2010/2011 wurde das autokratische Regime Ben Alis Mitte Januar 2011 gestürzt, Ghannouchi kehrte am 30. Januar 2011 nach Tunesien zurück. Ennahda wurde am 1. März 2011 wieder als politische Partei zugelassen, gewann unter Ghannouchis Führung mit 37 Prozent der Stimmen die erste freie Wahl zur Verfassunggebenden Versammlung Tunesiens 2011 und stellte von Dezember 2011 bis Januar 2014 den Ministerpräsidenten. Ennahda einigte sich im Januar 2014 mit den säkularen politischen Kräften auf eine als fortschrittlich geltende neue Verfassung und gab die Macht an eine übergangsweise Technokratenregierung unter Mehdi Jomaâ ab, die die erste Wahl zum neugeschaffenen Parlament im Oktober 2014 organisierte. Dabei wurde Ennahda zweitstärkste Kraft (etwa 27 Prozent) hinter der säkularen Sammlungsbewegung Nidaa Tounes (etwa 38 Prozent); Ghannouchi akzeptierte das Ergebnis und ließ keinen eigenen Kandidaten für die folgende Präsidentschaftswahl in Tunesien 2014 aufstellen. Ghannouchi, der immer wieder die Notwendigkeit einer Regierung der nationalen Einheit betont hat, führte seine Partei in die erste demokratisch legitimierte reguläre Regierung Tunesiens, das am 6. Februar 2015 angetretene Kabinett Essid.

Leben

Rachid Ghannouchi (um 1980)

Familie und Ausbildung

Rachid al-Ghannouchi wurde am 22. Juni 1941 in einer tunesischen Kleinstadt geboren. Durch seine religiöse Familie – der Vater war Imam – kam er früh mit der islamischen Religion in Berührung. Prägend waren für ihn die Geschehnisse nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der tunesische Widerstand gegen die französische Kolonialpolitik. Als er als Jugendlicher die Vorbereitungsschule der Zaitouna-Universität besuchte, kam er zum ersten Mal mit der säkularen Moderne der Städte in Berührung, die in starken Kontrast zum einfachen und religiös geprägten Leben auf dem Land stand, wo er aufwuchs. Ähnlich wie viele junge Tunesier seiner Zeit fiel er bald in eine Identitätskrise zwischen säkularer, französisch beeinflusster Moderne und religiösen und kulturellen Wurzeln, die keine Relevanz im Säkularismus der französischen Kolonialzeit und dem nachfolgenden Bourguiba-Regime besaßen.[1]

Von 1959 bis 1962 studierte er an der Universität Ez-Zitouna in Tunis, zog anschließend für kurze Zeit nach Kairo, wo er ein Landwirtschaftsstudium begann. Aufgrund der politischen Umstände floh er jedoch wenige Monate später nach Syrien und studierte in Damaskus von 1964 bis 1968 Philosophie. 1965 reiste er das erste Mal nach Europa und durch Deutschland, Frankreich und die Niederlande. Dort gewann er den Eindruck, Europa sei von religiösem Verfall und fehlender Moral geprägt. Diese subjektiven Wahrnehmungen wogen schwer. 1968 zog er nach Paris, brachte sein dortiges Philosophiestudium aber nicht zu Ende.

Politische Aktivitäten im alten Regime

Er kehrte nach Tunesien zurück und begann dort, Philosophie zu unterrichten. Erste Artikel erschienen zur Reformierung der Unterrichtspläne an Schulen.[1] Von 1970 bis 1973 leitete er die von ihm ins Leben gerufene Jamâa al-Islamiya, eine religiöse Vereinigung, die sich darauf konzentrierte, die Verwestlichung Tunesiens zu kritisieren. Die Gruppe wurde 1973 wie auch andere soziale und politische Gruppierungen vom Bourguiba-Regime verboten. Die Arbeiterproteste in Tunis 1978 sowie die Islamische Revolution im Iran 1979 inspirierten Ghannouchi zu einer Weiterentwicklung seiner Ideologie. 1981 gründete er das Mouvement de la Tendance Islamique (MTI), eine islamistische Gruppe, die seiner Ideologie folgend die despotische Regierung kritisierte und sich für einen demokratisch inspirierten islamischen Staat einsetzte. In der Folge wurde Ghannouchi inhaftiert und verbrachte die Jahre 1981 bis 1984 im Gefängnis. 1987 wurde er erneut inhaftiert und zusammen mit anderen führenden Persönlichkeiten der MTI-Bewegung wegen Anstiftung zu Gewalt und Aufwiegelung zu einem Staatsstreich zum Tode verurteilt. Der Fall Ghannouchi wurde zum Politikum, Politiker auch in der Regierungspartei Bourguibas kritisierten den Prozess, Richter hoben die verhängte Todesstrafe wieder auf.[1]

1987 löste Zine El Abidine Ben Ali Habib Bourguiba an der Spitze des Staates ab, Ghannouchi und andere inhaftierte Mitglieder der MTI kamen 1988 frei. Die Führung der Gruppe übernahm 1988 Sadok Chourou, der als radikal eingestuft wird, während Ghannouchi noch inhaftiert war.[2] Nachdem Ben Ali ein pluralistischeres politisches System ankündigt hatte, stellte Ghannouchi einen Antrag auf Anerkennung der MTI, die sich in Ennahda umbenannte. Mitglieder der Partei nahmen als unabhängige Kandidaten an den Parlamentswahlen 1989 teil und errangen große Erfolge. Das Regime jedoch akzeptierte einen solchen Machtgewinn für eine Oppositionspartei nicht und lehnte den Antrag auf Anerkennung der Nahda-Partei ab. Mitglieder wurden von nun an als Mitglieder einer illegalen politischen Vereinigung verfolgt. Ghannouchi floh 1989 ins britische Exil, wo er bis 2011 lebte.[1]

Im britischen Exil

Anfang der 1990er machte er Schlagzeilen durch seine radikale Kritik der amerikanischen Präsenz in Saudi-Arabien während des Golfkrieges. Analysten sehen diese Radikalisierung als politischen Zug, um die tunesische Regierung mit ihrer Unterstützung der anti-irakischen Allianz zu Sturz zu bringen – ursprünglich lehnte Ennahda das Regime Saddam Husseins als unislamisch ab. Ghannouchi rief in seinen folgenden Reden und Schriften Muslime weltweit zum Kampf gegen die saudische Regierung auf, die sich mit ihrer Einladung der Amerikaner in das Land der heiligen Stätten des Islams aus Sicht der Islamisten als „unislamisch“ disqualifiziert hatte. Kritiker werfen Ghannouchi die Anwendung des Takfir vor, was den Kampf gegen des Unglaubens bezichtigte Staaten legitimiere.[3] In den folgenden beiden Jahren erhob das Regime Vorwürfe gegen Ghannouchi, indem es ihn mit aufgedeckten Terrorplänen Ennahdas in Tunesien in Verbindung brachte. Ghannouchi erwirkte gerichtlich mehrfach von verschiedenen britischen Zeitungen die Feststellung, dass er als in London lebender Ex-Führer der Ennahda keine Beteiligung oder Mitwissen an derartigen Terrorplänen nachzuweisen sei.[4]

Im Mai 2001 segnete er in einer von Al-Jazeera ausgestrahlten Fernsehsendung die Mütter von Selbstmordattentätern mit den Worten: „Ich möchte meine Segenswünsche den Müttern dieser Jugendlichen übermitteln, dieser Männer, denen es gelungen ist, ein neues Gleichgewicht der Kräfte zu erringen… Ich segne die Mütter, die im gesegneten Palästina den Samen dieser Jugendlichen gepflanzt haben, die dem internationalen System und den von den USA unterstützten arroganten Israelis eine wichtige Lehre erteilt haben. Die palästinensische Frau, die Mutter der Shahids [Märtyrer], ist selbst eine Märtyrerin, und sie hat ein neues Vorbild für die Frau geschaffen.“[5]

Einige politische Analytiker haben Ghannouchi als Islamisten betrachtet, der sich allein vor Wahlen moderater gebe[6] und „begeisterter Anhänger der Hamas“ sei, die ihn als Theoretiker schätzt und als einen der ihren betrachtet.[7] Ihm war die Einreise in die USA verboten worden;[8] er lebte bis 2011 im Exil in London, wo ihm seit August 1993 Asyl gewährt worden war.[9]

Nach der tunesischen Revolution

Am 30. Januar 2011 kehrte er nach Tunesien zurück und beteiligte sich an der Demokratisierung des Landes nach der Revolution gegen das autoritäre Regime. Als Anführer der erst am 1. März 2011 im Zuge der Revolution 2011 legalisierten[10] islamischen Nahda bzw. Ennahda setzt er sich für einen reformierten Islam sowie Demokratie und die Anwendung der Menschenrechte in Tunesien ein. Bei der ersten demokratischen Wahl nach dem Sturz von Präsident Ben Ali im November 2011 wurde seine Partei mit 37 Prozent der Stimmen deutlicher Wahlsieger. Während des Wahlkampfs bekräftigte er seine Unterstützung der Demokratie und den Verzicht auf Einführung aller Gebote der Sharia, etwa die Polygamie. Ennahda führte von Dezember 2011 bis Januar 2014 die tunesische Regierung an; bei der ersten Wahl zur neuformierten Volksrepräsentantenversammlung nach der neuen Verfassung vom Januar 2014 wurde Ennahda hinter der säkularen Sammlungsbewegung Nidaa Tounes zweite Kraft und ist in einer breiten Unterstützerkoalition am neu gebildeten Kabinett des parteilosen Ministerpräsidenten Habib Essid beteiligt.

Er erhielt 2014 den Ibn-Ruschd-Preis für Demokratie und Meinungsfreiheit in Arabien. Nach dem einvernehmlichen Rücktritt des Ennahda-geführten Kabinett Larajedh im Januar 2014 und der im Konsens mit säkularen Oppositionskräften verabschiedeten Verfassung Tunesiens sowie der Anerkennung der für Ennahda enttäuschenden demokratischen Wahlergebnisse der zweiten Jahreshälfte 2014 erfuhr Ghannouchi weithin Anerkennung als wesentliche Stütze der tunesischen Entwicklung zur Demokratie.[11]

Ideologie

Der einstige tunesische Mouvement de la Tendance Islamique (MTI) entstand durch den Zusammenschluss dreier Sympathieträger der pakistanischen Tablighi-Jamaat-Gruppe, die um 1966/67 begann, in Tunesien um Anhänger zu werben. Diese drei waren Schaikh bin Milad, Rachid Ghannouchi, ihr späterer Präsident und wichtigster Ideengeber, sowie Ahmida Enneifar. Das Interesse an Ghannouchi wurde speziell dadurch geweckt, dass er sich anders als die Anführer anderer fundamentalistischer Bewegungen auf spektakuläre und medienwirksame Weise für die liberale Demokratie aussprach. Er besteht auf der Notwendigkeit, die Künste nicht zu vernachlässigen, und kritisiert diejenigen, die Religionslehre in einer verstaubten Art betreiben, so dass den Jugendlichen der Sinn für die Religion entgehe. Sein Eintreten für Soziale Gerechtigkeit machte die Bewegung für Jugendliche attraktiv und handelte ihm von seinen Kritikern den Ruf ein, er sei ein verkappter Marxist, ein Vorwurf, mit dem er gerne kokettiert, um seine „gegenwartsbezogene“ Politik zu unterstreichen. Er warnt vor der oft wiederholten Behauptung, der Westen sei in seinem Abstieg begriffen; dieser Vorwurf diene nur als Sedativum für die Muslime. Obwohl auch er glaubt, dass der Zerfall des Westens eine Tatsache sei, mindestens auf der moralischen Stufe, sieht er darin wenig Trost für diejenigen, deren Abstieg noch weiter reicht. Er warnt davor, alle Ideen, die aus dem Westen kommen, speziell die Idee der Demokratie, pauschal zu verwerfen, allenfalls müsse man sie differenziert betrachten. Die zentrale Idee im Westen und der Motor für seinen technologischen Fortschritt sei der Glaube an den Menschen, dass der Mensch in sich selbst für sich selbst existiere und der Maßstab aller Dinge sei. Der Mensch könne seine Welt und sein Schicksal kontrollieren, seine Welt verstehen und sie beherrschen. Früchte eines derartigen Glaubens seien die Befreiung des Menschen von dem Gefühl der Ohnmacht und der Ausrichtung seiner Gedanken in praktische und sachliche Bahnen, der Glaube an Fortschritt und die Unerschütterlichkeit in der Bewältigung neuer und unbekannter Probleme, ein Sinn für die Werte der Zeit und die Aufwertung der Menschenwürde und Freiheit, was sich in Gestalt der Demokratie als Staatsform und des Respekts für die Menschenrechte auf der politischen Ebene widerspiegele.

Allerdings habe dieser Glaube auch seine negativen Folgen, wie es sich an der Interesselosigkeit an all den Dingen zeige, die über das Materielle hinausgehen. Die Konsequenz sei, dass das intellektuelle und spirituelle Leben des Westens hinter dessen materiellem Fortschritt zurückbleibe. Das Leben im Westen gleite in einem dekadenten Hedonismus dahin, bar jeglicher Vision von der wahren Bedeutung des Lebens. Hier deutet sich an, dass Ghannouchi die demokratischen Mechanismen für seine Konzeption eines auf islamischen Werten basierenden Staatswesens entdeckt, er allerdings den säkularen Aspekt ablehnt, da dieser dem Menschen eine Freizügigkeit einräume, die er für zivilisationshemmend, wenn nicht gar zivilisationszerstörend befindet. Allerdings kritisiert er, dass die liberale Demokratie nur Anwendung innerhalb der nationalen Grenzen finde, international jedoch nach dem „Naturgesetz“ des Stärkeren handle[12], womit Ghannouchi auf die Mechanismen der Globalisierung und der westlichen Interventionspolitik anspielt. Er sieht das Problem nicht in der Idee oder den Mechanismen der Demokratie, sondern in Aspekten der Philosophie, der diese Ideale entstammten. Seiner Meinung nach ist die liberale Demokratie von abendländischen Philosophen wie Darwin, Hegel und Nietzsche beeinflusst, die eine entsprechende Haltung des Stärkeren gegenüber dem Schwächeren rechtfertigten und legitimierten. Demokratische Regierungen in aller Welt seien in Unterdrückung und sogar Genozide verwickelt, was die inhumanen Seiten der westlichen Demokratien offenbare.[13]

Ghannouchi beklagt, dass es durch die Demokratie als Staatsform nicht gelungen sei, die Angriffe von Völkern gegeneinander sowie Betrug und wirtschaftlich motivierte Übergriffe und Übervorteilung zu verhindern. Für Ghannouchi ist es unerlässlich, dass die Völker ihre Egoismen überwinden und einer einzigen gültigen Menschlichkeit nachstreben, mit anderen Worten, dass allen Menschen überall auf der Welt unabhängig von ihrer Zugehörigkeit zu einer Nation nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch die gleichen Rechte zukommen. Seiner Meinung nach ist es die materialistische Philosophie, die als einzige Wertegrundlage des liberalen demokratischen Systems angesehen wird und dafür verantwortlich ist, dass sich der Westen außerhalb seiner Grenzen oppressiv gibt. Er vertritt daher als islamische Alternative eine auf ethischen bzw. religiösen Werten aufbauende Demokratie. Er fordert, dass ein Angriff auf eine einzige Person gewertet werden müsse wie ein Angriff auf die gesamte Menschheit. Ghannouchi ist der Meinung, die Demokratie könne zur Entfaltung eines der besten politischen Systeme beitragen, ja geradezu konstitutiv sein, solange sie nur begleitet werde von einer universellen, den Menschen achtenden Philosophie. Sie sei das beste politische System, das Menschen sich bisher ausgedacht hätten, auch ohne seine Realisierung in einer „islamischen Demokratie“. Es sei unverzeihlich, dass die Fundamentalisten die Demokratie mit der Begründung pauschal ablehnten, weil sie dem „westlichen Geist“ entsprungen sei. Es müsse im Gegenteil überlegt werden, wie sie dem „islamischen Geist“ zunutze gemacht werden könne, um seine Werte bestmöglich entfalten zu können.[14]

Eine islamische Demokratie

Ein kritischer Blick in sein berühmtes Buch Al-Hurriyat al-`amma fi d-daula al-islamiya (deutsch: „Die allgemeinen Freiheiten im islamischen Staat“) offenbart, was er unter seiner islamischen Demokratie tatsächlich versteht. Aufschlussreich ist Ghannouchis Haltung zum Apostaten: Er betrachtet die freiwillige und bewusste Abkehr vom Islam und die Hinwendung zum „Unglauben“, aufgrund derer grundsätzliche Leitlinien des Islam hinsichtlich Glaube, Gesetz oder Ritus negiert werden, als ein politisches Vergehen. Das islamische Recht auf Freiheit und Sicherheit schließe diese Abkehr vom Glauben nicht mit ein. Das Vergehen bestehe in der Abspaltung, einem Akt von Meuterei und Verrat, das im Rahmen der Verantwortung des Staates für die Aufrechterhaltung der Gemeinschaft sowie von Recht und Ordnung zu bestrafen sei.[15] Durch diese Stellungnahme wird widerlegt, dass er gewillt ist, der Gesellschaft bis in die letzte Konsequenz die Wahlfreiheit zwischen entgegengesetzten Lebenskonzepten einzuräumen.

Ghannouchis Aussage zur Rolle der durch die Scharia vorgegebenen Grenzen in seiner Theorie einer „islamischen Demokratie“ ist unmissverständlich: Nach seiner Ansicht könne kein politisches Konzept als islamisch betrachtet werden, das sich außerhalb der Scharia bewegt. Aus islamischer Sicht sei ein solches Konzept illegitim.[16] Nach Ghannouchi steht die Autorität der Scharia über jeder anderen Autorität der muslimischen Gesellschaft.

Bezüglich des Mehrparteiensystems drückt sich Ghannouchi sehr vorsichtig aus, indem er ähnliche Bedenken wie viele andere Fundamentalisten äußert, die Umma könne sich an der Richtungsvielfalt spalten. Er sieht darin jedoch einen positiven Aspekt des Wettbewerbs, der sich allerdings an die Grundregeln der konstruktiven Zusammenarbeit halten müsse. Unmissverständlich ist allerdings die Einschränkung zu vernehmen, dass er nicht beabsichtigt, Parteien, die die religiöse Ordnung des Islam als oberstes Regulativ einer Gesellschaft ablehnen, eine Beteiligung an der Gestaltung des politischen Lebens einzuräumen. Seiner Meinung nach bleibt demjenigen, der am politischen Geschehen beteiligt werden will, nur die Option, zum Islam überzutreten; andererseits gesteht er Nichtmuslimen zu, in muslimischen Parteien mitwirken zu dürfen, vorausgesetzt, sie respektierten die Wertvorstellungen der islamischen Gesellschaft. Der Zugang zu Führungsämtern innerhalb der Regierung solle ihnen jedoch nicht erlaubt werden.[17]

Auch wenn Ghannouchi keine liberale Demokratie im westlichen Sinne zu etablieren beabsichtigt, hat er Überlegungen angestellt, wie Rechtsstaatlichkeit in einem religiösen System zumindest theoretisch gewährleistet werden kann, das als besonders anfällig für Machtmissbrauch bewertet wurde. Ghannouchi erkennt die Gefahr, die aus dem Umstand resultiert, dass die Scharia interpretiert werden muss und damit die Gefahr des Machtmissbrauchs durch interessengesteuerte Interpretation gegeben ist. Sein Lösungsvorschlag, diese Monopolisierung zu unterbinden, besteht darin, dass Parteien mit unterschiedlichem Ijtihad (= Interpretations-Anstrengung) in Wettbewerb zueinander treten sollen, um dem Volk die Wahl zu lassen, sich für die ihm genehme Version zu entscheiden.[18] Für den Fall allerdings, dass nur Interpretationsvorschläge gemacht werden, die das Volk um keinen Preis annehmen will, soll diesem ein Mittel in die Hand gegeben werden, diese Vorschläge abzulehnen. Entschieden sie sich bei dieser Wahl für ein laizistisches Modell, so respektiere er ihre Wahl, entschieden sie sich allerdings für ein islamisches Modell, würden dessen Gesetze in nicht revidierbarer Weise in Kraft treten.[19]

Leben und Aktionen der Muslime in Europa und Israel

Ghannouchi ist heute ein führendes[20] Mitglied im European Council for Fatwa and Research[21], der der Führung von Yusuf al-Qaradawi untersteht und den ägyptischen Muslimbrüdern zugerechnet wird. Wichtigstes Ziel dieses Rates ist es, das Leben der Muslime in Europa entsprechend den Bestimmungen der Scharia zu regeln.[22] Wie das Middle East Media Research Institute berichtet, hat Qaradawi selbst noch im Jahr 2004 eine Fatwa erlassen, die in der Al-Ahram Al-Arabi vom 3. Juli desselben Jahres erschienen ist und die das Töten muslimischer Intellektueller als Apostaten erlaubt. Jawad Hashim und Shaker Al-Nabulsi schrieben 2004 in einer Petition an die Vereinten Nationen einen Aufruf zur Reaktion auf religiösen Extremismus als bestärkendes Element für den Terrorismus. Insbesondere legten sie ihr Augenmerk auf Fatwas, die Gewalt billigen und führten eine Reihe von Beispielen auf. Sie schreiben al-Ghannouchi darin eine Fatwa zu, die es erlaube, alle israelischen Zivilisten zu töten, weil es, so seine Rechtfertigung, in Israel keine Zivilisten gebe, denn die Bevölkerung − Männer, Frauen und Kinder − sei die Reserve der Armee und daher als solche zu töten.[23]

Literatur

  • Azzam Tamimi: Rachid Ghannouchi: A Democrat Within Islamism. Oxford University Press, New York 2001.[24]
  • Joyce M. Davis: Interview with Rachid al-Ghannouchi. In: Between Jihad and Salaam: Profiles in Islam. MacMillan, 1997.
  • Michael Collins Dunn: The Al-Nahda Movement in Tunisia: From Renaissance to Revolution. In: Ruedy (Hrsg.): Islamism and Secularism in North Africa. S. 149–165.
  • Susan Waltz: Islamist Appeal in Tunisia. In: Middle East Journal. Band 40, Nr. 4, Herbst 1986, S. 651–670.
  • Nikkie Keddie: The Islamist Movement in Tunisia. In: The Maghreb Review. Band II, I, 1986, S. 26.
  • Rached Channouchi: Penseur et Tribun. Interview. In: Le Cahiers De L'Orient. Nr. 27, 1992.
  • Khadija Katja Wöhler-Khalfallah: Der islamische Fundamentalismus, der Islam und die Demokratie. Algerien und Tunesien: Das Scheitern postkolonialer „Entwicklungsmodelle“ und das Streben nach einem ethischen Leitfaden für Politik und Gesellschaft. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2004.
  • Menno Preuschaft: Tunesien als islamische Demokratie? Rašid al-Ġannūšī und die Zeit nach der Revolution. Waxmann, Münster 2011.

Weblinks

Commons: Rachid al-Ghannouchi – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. a b c d Azzam Tamimi: Rachid Ghannouchi: A Democrat Within Islamism. Oxford University Press, New York 2001
  2. Dunn (1994), S. 158
  3. Dunn (1994), S. 159
  4. Dunn (1994), S. 160–161
  5. In memri.org: The Intifada and the Fate of Arab Regimes. Special Dispatch No.245, Juli 24, 2001
  6. Islamistenchef plant heimlich Salafisten-Regime. In: Welt Online, 14. Oktober 2012.
  7. Rezension zu Martin Kramer: Rachid Ghannouchi: A Democrat within Islamism. In: Middle East Quarterly des Middle East Forum, Herbst 2002.
  8. Rezension zu Liberal Islam: A Sourcebook von Daniel Pipes. In: Middle East Quarterly, Juni 1999.
  9. Martin Kramer: A U.S. Visa for Rachid Ghannouchi? In: Policywatch, The Washington Institute for Near East Policy, no. 121, June 29, 1994
  10. Reiner Wandler: Tunesiens einzige wirkliche Volkspartei. In: die tageszeitung, 26. Oktober 2011.
  11. K. P. Fabian: Tunisia Stands Out – Analysis. In: EurasiaReview.com, 1. Januar 2015; Vance Serchuk: Give Democratic Tunisia the U.S. Support it Needs and Deserves. In: The Washington Post, 2. Januar 2015.
  12. Rached al-Ghannouchi: Al-Hurriyat al-àmma fi d-daula al-islamiya (Dt.: Die allgemeinen Freiheiten im islamischen Staat). Markaz dirasat al-wahda al-islamiya, Beirut 1993, S. 85f.
  13. Azzam S. Tamimi: Rachid Ghannouchi: A Democrat within Islamism. Oxford University Press, New York 2001, S. 87
  14. Rached al-Ghannouchi: Al-Hurriyat al-àmma fi d-daula al-islamiya (Dt.: Die allgemeinen Freiheiten im islamischen Staat). Markaz dirasat al-wahda al-islamiya, Beirut 1993, S. 87.
  15. Azzam S. Tamimi: Rachid Ghannouchi: A Democrat within Islamism. Oxford University Press, New York 2001, S. 78
  16. Azzam S. Tamimi: Rachid Ghannouchi: A Democrat within Islamism. Oxford University Press, New York 2001, S. 90
  17. vgl. Rached al-Ghannouchi: Al-Hurriyat al-àmma fi d-daula al-islamiya (Dt.: Die allgemeinen Freiheiten im islamischen Staat). Markaz dirasat al-wahda al-islamiya, Beirut 1993, S. 292f.
  18. Azzam S. Tamimi: Rachid Ghannouchi: A Democrat within Islamism. Oxford University Press, New York 2001, S. 83 und S. 99f.
  19. Khadija Katja Wöhler-Khalfallah: Der islamische Fundamentalismus, der Islam und die Demokratie. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2004, S. 377 und S. 405f.
  20. globalmbreport.org: Rashid Ghannouchi Identified As Muslim Brotherhood Foreign Leader vom 27. Oktober 2009
  21. Mitglieder des ECFR: [1]
  22. Ziele des ECFR: [2]
  23. Special Dispatch Arab Liberals Petition the U.N. to Establish an International Tribunal for the Prosecution of Terrorists. In: MEMRI. The Middle East Media Research Institute, 8. November 2004.
  24. Rezension von Martin Kramer. In: Middle East Quarterly des Middle East Forum, Herbst 2002.