Rattenlinien

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Rattenlinien (englisch rat lines) war die von US-amerikanischen Geheimdienst- und Militärkreisen geprägte Bezeichnung für Fluchtrouten führender Vertreter des NS-Regimes, Angehöriger der SS und der Ustascha nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Aufgrund einer aktiven Beteiligung hochrangiger Vertreter der katholischen Kirche an den Fluchtrouten trugen sie bis zur Beteiligung des US-amerikanischen Geheimdienstes den Namen „Klosterrouten“.

Die Fluchtrouten führten über Italien (meist Südtirol und Rom) nach Südamerika und dort hauptsächlich nach Argentinien, aber auch in Länder der arabischen Welt. Über diese Routen gelang es nach dem Zweiten Weltkrieg einer großen Zahl von NS-Tätern, Faschisten und Kollaborateuren aus verschiedenen europäischen Ländern, einer gerichtlichen Anklage und Bestrafung zu entgehen.

Eine Besonderheit stellt die Rattenlinie Nord dar, da diese nicht aus Europa heraus führte, sondern nach Schleswig-Holstein in Richtung Flensburg verlief, wo im Mai 1945 der Sonderbereich Mürwik mit der letzten Reichsregierung entstand.[1]

Organisation und Ausführung der Fluchtrouten

Als Kopf der Fluchtorganisation gilt der faschistische kroatische Franziskaner-Priester Krunoslav Draganović, der diese Fluchtroute bereits 1943 vorbereitete und zusammen mit dem österreichischen Bischof Alois Hudal organisierte. Viele der Nationalsozialisten und Ustascha-Leute ehrten Draganović mit dem Namen „Goldener Priester“. Er war nachweislich bis 1962 für das Counter Intelligence Corps (CIC) der USA tätig; ihm wird ferner nachgesagt, sowohl für den britischen als auch den jugoslawischen und den sowjetischen Geheimdienst gearbeitet zu haben. Hudal besorgte den flüchtigen Nationalsozialisten Ausweiskarten („Carta di riconoscimento“), die das „Österreichische Bureau“, eine halboffizielle Vertretung in Rom, ausstellte.[2] Bei Verdacht kam den Flüchtlingen außerdem die Unterstützung von päpstlichen Hilfsstellen zugute, die die Identität der Flüchtlinge beglaubigten und zudem die Visa beschafften, während das Italienische Rote Kreuz für die Organisation der Pässe zuständig war. Unterstützt wurden die Flüchtigen auch vom deutschen Verein Stille Hilfe, der in seiner Anfangszeit von hochrangigen Repräsentanten der deutschen Kirchen protegiert wurde.

In manchen Fällen wurden die Nationalsozialisten und Ustascha-Leute sogar über gefälschte Papiere als Überlebende von Konzentrationslagern ausgegeben. Wie der amerikanische Geheimdienst herausfand, halfen häufig Angestellte des argentinischen Konsulats in Barcelona gegen ein hohes Honorar, diese falschen Papiere zu beschaffen. Begünstigt wurde die Fluchtorganisation auch durch das Einwanderungsabkommen zwischen Argentinien und Italien, das es erleichterte, die Flüchtigen über Italien nach Argentinien zu schleusen.

Neben Italien war auch das von Franco beherrschte Spanien ein sicherer Platz für die flüchtigen Kriegsverbrecher, wo ihnen bis zu ihrer Abreise per Schiff eine Unterkunft, Taschengeld, Verpflegung und nicht selten sogar Startkapital für ihre neue Existenz zur Verfügung gestellt wurden. Die Kosten für die Schiffsüberfahrt dieser Flüchtigen übernahm in den meisten Fällen das Internationale Rote Kreuz.

Der US-amerikanische Geheimdienst CIC erkannte die Fluchtwege schon früh, unternahm aber keine Schritte dagegen und nutzte ab 1947 die Routen für eigene Zwecke, um zahlreiche Spione diskret und schnell aus dem von den Sowjets besetzten Teil Österreichs zu schaffen. Viele hohe Funktionsträger des nationalsozialistischen Regimes wurden u. a. von amerikanischen Geheimdienstbehörden mit gefälschten Papieren ausgestattet, wobei viele auch unerkannt blieben. Die Amerikaner benannten die „Klosterrouten“ nach ihrem Eingriff in die Organisation der Routen in „rat lines“ um.

Nachwirkungen und geflohene Nationalsozialisten

Mit Hilfe der Rattenlinien gelang es dem größten Teil der Ustascha-Führung zu fliehen, deren Kopf, Ante Pavelić, in Buenos Aires sogar eine Exilregierung (die jedoch nicht diplomatisch anerkannt wurde) ins Leben rief. Außerdem gelang es auch vielen Nationalsozialisten und SS-Angehörigen, sich ihrer Strafe zu entziehen und unterzutauchen. Die seit 1947 in Buenos Aires überwiegend in deutscher Sprache herausgegebene Zeitschrift Der Weg (spanisch El Sendero) wurde großteils von den geflohenen NS-Tätern (teils unter Pseudonym) gestaltet und verschrieb sich vor allem der Apologetik des nationalsozialistischen Deutschlands, war aber auch nicht frei von zum Teil plakativer Larmoyanz.

Auch französischen Kollaborateuren des Vichy-Regimes, Rexisten aus Belgien sowie Soldaten der Wlassow-Armee und Mitgliedern östlicher SS-Divisionen, insbesondere Ukrainern, gelang die Flucht. Hans-Ulrich Rudel, dem die Flucht ebenfalls gelang, wurde Militärberater des argentinischen Präsidenten Juan Perón, der die Kriegsverbrecher mit offenen Armen empfangen hatte. Rudel dankte später der Kirche dafür, dass sie „die Besten unserer Nation [gerettet habe und] das rasende Verlangen der wahnwitzigen Sieger nach Rache und Vergeltung wirksam vereitelt [werden konnte]“.

Die Spuren der Flüchtigen lassen sich laut Uki Goñi, Historiker und Autor des Buches The Real Odessa, in vielen Fällen nicht mehr verfolgen, da ein Großteil der Akten vernichtet oder geschwärzt worden sei. Er errechnete aber eine Zahl von mindestens 300 NS-Funktionären, die Argentinien erreicht hätten, während die argentinische Historikerkommission CEANA in ihrem Abschlussbericht von 1999 feststellte, dass nur 180 bekannte NS-Täter über die „Rattenlinie“ nach Argentinien gelangt seien.

Unter den Flüchtigen befanden sich unter anderem Klaus Barbie, Gerhard Bohne, Adolf Eichmann, Berthold Heilig, Josef Mengele, Ante Pavelić, Erich Priebke, Walter Rauff, Eduard Roschmann, Josef Schwammberger, Franz Stangl, Friedrich Schwend, Gustav Wagner, Friedrich Warzok, Johann von Leers und Ludolf-Hermann von Alvensleben.

Rolle des Vatikans

Die Frage nach der Rolle des Vatikans, die sich angesichts der Beteiligung mehrerer kirchlicher Würdenträger an der Fluchthilfe für Nationalsozialisten stellt, kann noch nicht abschließend bewertet werden. Fest steht, dass Pius XII. und sein enger Mitarbeiter Giovanni Montini (der spätere Papst Paul VI.) Alois Hudal mit weitreichenden Kompetenzen ausstatteten, die es ihm ermöglichten, die Ausschleusung zu organisieren. Unklar bleibt, ob sie dabei im Detail wussten, wem die Hilfe zugutekam. Etwas Klarheit bringen die Studien Uki Goñis, der britisches Archivmaterial sichtete. Demnach wandte sich in vier Fällen das vatikanische Staatssekretariat auf diplomatischem Wege an die Londoner Regierung, um eine Ausweisung kroatischer Kriegsverbrecher aus alliierten Kriegsgefangenenlagern und eine Auslieferung an Jugoslawien zu verhindern. Umgekehrt beschwerte sich der britische Botschafter am Heiligen Stuhl gegenüber Domenico Tardini, dass in exterritorialen Einrichtungen des Vatikans jugoslawische Kollaborateure Zuflucht fänden, ohne dass daraufhin die kirchliche Hilfe für Faschisten unterblieb. Nach Auffassung Goñis lässt dies auf die stillschweigende Billigung des Papstes für Draganovićs Aktivitäten schließen.

Der amerikanische Geheimdienstagent Robert Clayton Mudd schleuste 1947 einen Spion in die kroatische Nationalkirche in Rom ein, von wo aus der Franziskaner Krunoslav Draganović die Flucht mehrerer Ustascha-Faschisten organisierte. Im Bericht heißt es, dass in mehreren Räumen der Einrichtung zahlreiche kroatische Faschisten anzutreffen seien. Unter ihnen auch ehemalige Minister und hochrangige Militärs des Ustascha-Staates. Der Bericht fährt fort, dass sich einige der Politiker zeitweise im Vatikan aufhielten und für die Reise von dort zur kroatischen Nationalkirche die Fahrzeuge des diplomatischen Korps des Heiligen Stuhls benutzten.

Mark Aarons und John Loftus führen in ihrem Buch Unholy Trinity Aussagen von Geistlichen an, nach deren Angaben Pius XII. direkt Anweisung für die Organisation der Rattenlinie gab. Ferner zeigen sie ein Bild, das Montini bei einem Besuch in der kroatischen Nationalkirche zeigt. Es soll zu der Zeit entstanden sein, in der sich dort laut Mudds Geheimdienstbericht zahlreiche kroatische Faschisten aufhielten.

Am 25. Juli 1943 berichtete der deutsche Botschafter am Heiligen Stuhl, Ernst von Weizsäcker, dem Auswärtigen Amt in Berlin, dass er von zwei Interventionen hörte, mit denen das Vatikanische Staatssekretariat sich für Angehörige der Familie Mussolinis und anderer Faschisten einsetzte.

Siehe auch

Filme und Literatur

Bücher

Sachbücher
  • Ernst Klee: Persilscheine und falsche Pässe. Wie die Kirchen den Nazis halfen. Fischer, Frankfurt 1991 ISBN 3-596-10956-6 u. ö. (siehe auch Filme)
  • Rena und Thomas Giefer: Die Rattenlinie. Fluchtwege der Nazis. Beltz, Weinheim 1992 ISBN 3-89547-855-5 (s. Filme)
  • Uki Goñi: Odessa: Die wahre Geschichte. Fluchthilfe für NS-Kriegsverbrecher. Assoziation A, 2006, ISBN 3-935936-40-0 (auf der Verlagsseite Link zu ausführl. Interview mit dem Autor in Engl., Rez. in Dt. und Engl.) Sachbuch des Monats bei Arte. Aus dem Englischen, Rev. ed. 2003 -
    • in Spanisch: La auténtica „Odessa“: la fuga nazi a la Argentina de Perón Verlag Paidós, Barcelona/ Buenos Aires/ México 2002 ISBN 84-493-1329-5
  • Gerald Steinacher: Nazis auf der Flucht. Wie Kriegsverbrecher über Italien nach Übersee entkamen Studienverlag, Innsbruck 2008, ISBN 978-3-7065-4026-1
    • dsb.: “The Cape of Last Hope”. The Flight of Nazi War Criminals through Italy to South America. In: Günter Bischof, Klaus Eisterer (Hg.): Transatlantic relations: Austria and Latin America from 1800 to the present. Reihe: Transatlantica, 1. Studienverlag, Innsbruck 2006 ISBN 3-7065-4213-7 (engl. Vorab-Fassung des Buches)
  • Eckhard Schimpf: Heilig. Die Flucht des Braunschweiger Naziführers auf der Vatikan-Route nach Südamerika. Appelhans, Braunschweig 2005, ISBN 978-3-937664-31-6.
  • Heinz Schneppen: Odessa und das Vierte Reich. Mythen der Zeitgeschichte Metropol, Berlin 2007, ISBN 978-3-938690-52-9.
  • Karlheinz Deschner: Ein Jahrhundert Heilsgeschichte. Die Politik der Päpste im Zeitalter der Weltkriege 2 Bände, Kiepenheuer und Witsch, Köln 1982/83; Erw. Neuaufl. in 1 Band udT Die Politik der Päpste im 20. Jahrhundert Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1991, ISBN 3-498-01282-7 (Zur Rolle der katholischen Kirche, damaliger Wissenstand).
  • Andrej Angrick & Klaus-Michael Mallmann Hgg.: Die Gestapo nach 1945. Karrieren, Konflikte, Konstruktionen. Veröffentlichungen der Forschungsstelle Ludwigsburg, 14. WBG, 2009 ISBN 978-3-534-20673-5[3]
  • Daniel Stahl: Nazi-Jagd: Südamerikas Diktaturen und die Ahndung von NS-Verbrechen. Wallstein, Göttingen 2013. ISBN 978-3-835-31112-1
Als Roman
  1. Kennwort: Vergißmeinnicht 1975 (Verfilmung siehe unten)
  2. Das Geheimnis der Masken
  3. Depot im Skagerrak
  4. Sieben Augen hat der Pfau

Filme

  • Karin Duregger: Die Rattenlinie – Nazis auf der Flucht durch Südtirol. AUT/ITA, 46 Min., 2015.[4] (Erstausstrahlung: 5. Mai 2015 in ORF 2 im Religionsmagazin Kreuz und quer.[5])
  • Rena & Thomas Giefer: Die Rattenlinie. Fluchtwege der Nazis nach 1945 1990. 45 Min.[6]
  • Ernst Klee (s. Bücher): „Persilscheine und falsche Pässe.“ Wie die Kirchen den Nazis halfen. Kirchenhistoriker Hans Prolingheuer zu den falschen Wahrheiten der „Reinwasch-Ökumene“ NDR 1992 (Erstsendung 9. 10.) Red. Ralph Ludwig. 25 Min. (PDF)
  • Das unsichtbare Visier nach Bonhoff & Schauer, Regie Peter Hagen; Fernsehen der DDR 1973. (Roman, s. Literatur)
  • Die Akte Odessa nach Frederick Forsyth, Regie Ronald Neame; 1974. 120 Min (Roman, s. Literatur)

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Gerhard Paul: Zeitläufe: Flensburger Kameraden, vom: 8. September 2013, abgerufen am: 23. Januar 2016 und Flensburger Tageblatt: Bustour durch Flensburg: Auf den Spuren der Zeitgeschichte, vom: 30. Januar 2012; abgerufen am: 23. Januar 2016 sowie: Stephan Link: „Rattenlinie Nord“. Kriegsverbrecher in Flensburg und Umgebung im Mai 1945 in: Gerhard Paul u. Broder Schwensen (Hg.): Mai '45. Kriegsende in Flensburg, Flensburg 2015 und Wolfgang Börnsen u. Leve Börnsen: Vom Niedergang zum Neuanfang. Kiel/Hamburg 2015, S. 60 f.
  2. Martin Lätzel: HUDAL, Alois C.. In: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon (BBKL). Band 21, Bautz, Nordhausen 2003, ISBN 3-88309-110-3, Sp. 687–692.
  3. Clément Millon: A. Angrick, K. Mallmann, Die Gestapo nach 1945. Rezension zum Buch (französisch). In: Francia-Recensio. 2010/3, 29. Juli 2010. Abgerufen am 6. Mai 2015.
  4. Karin Duregger: Unsere Doku „Die Rattenlinie – Nazis auf der Flucht durch Südtirol“ bei den Bozner Filmtagen im April 2015. Filmbeschreibung der Autorin und Regisseurin auf ihrer Website, 29. März 2015. Abgerufen am 6. Mai 2015.
  5. 70 Jahre Ende 2. Weltkrieg: kreuz und quer: „Die Rattenlinie - Nazis auf der Flucht durch Südtirol.“ ORF 2, 5. Mai 2015, Programmeintrag in: tv.orf.at. Abgerufen am 6. Mai 2015
  6. Zum Film (PDF; 43 kB).