Zentralrat der Juden in Deutschland

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Dies ist eine alte Version dieser Seite, zuletzt bearbeitet am 15. Oktober 2015 um 07:11 Uhr durch Der Buckesfelder (Diskussion | Beiträge) (linkfix). Sie kann sich erheblich von der aktuellen Version unterscheiden.
Zur Navigation springen Zur Suche springen
Das Leo-Baeck-Haus in der Berliner Tucholskystraße: Sitz des Zentralrates der Juden in Deutschland seit 1999

Der Zentralrat der Juden in Deutschland (ZdJ) ist als Körperschaft des öffentlichen Rechts die größte Dachorganisation der jüdischen Gemeinden und Landesverbände in Deutschland und deren politische Vertretung. Er wurde am 19. Juli 1950 in Frankfurt am Main gegründet und hat seit 1999 seinen Sitz in Berlin. Ihm gehören 23 Landesverbände mit 108 Gemeinden und etwa 101.300 Mitgliedern an.[1] Präsident ist seit November 2014 der Würzburger Mediziner Josef Schuster.

Geschichte

Der Zentralrat wurde am 19. Juli 1950 in Frankfurt a. M. von Delegierten der in der Bundesrepublik Deutschland bereits wieder existierenden jüdischen Gemeinden und ihrer Landesverbände gegründet. Seinem ersten Direktorium gehörten an: der bayerische Staatskommissar für rassisch, religiös und politisch Verfolgte, Philipp Auerbach; der in Bergen-Belsen befreite, später langjährige Vorsitzende der Berliner jüdischen Gemeinde Heinz Galinski; der auf Wiedergutmachungsfragen spezialisierte Jurist Benno Ostertag; die beiden Mitglieder des Zentralkomitees in der US-Zone Peisach Piekatsch und Chaskiel Eife; Josef Rosensaft und Norbert Wollheim für die britische Zone. Erster Sitz des Zentralrats der Juden in Deutschland wurde Frankfurt am Main, ab 1951 Düsseldorf, ab 1985 Bonn und seit dem 1. April 1999 Berlin, wo die Hauptverwaltung im Leo-Baeck-Haus untergebracht ist.

Als ihre Hauptaufgabe betrachtete die Organisation in den ersten Jahren, auf die Gesetzgebung zur Wiedergutmachung des nationalsozialistischen Unrechts einzuwirken. Später wurden der Kampf gegen den Antisemitismus, die Unterstützung einer Annäherung zwischen Deutschland und dem Staat Israel und die Förderung der Arbeit der Mitgliedsgemeinden und Landesverbände zu wichtigeren Aufgaben, ebenso der Einsatz für das gegenseitige Verständnis von Juden und Nichtjuden.

Kundgebung des Zentralrats der Juden in Deutschland gegen Judenhass, 14. September 2014

Seit dem Mauerfall und der deutschen Wiedervereinigung 1990 bildet die Zuwanderung von Zehntausenden von Juden (zumeist als „Kontingentflüchtlinge“) aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion (GUS-Staaten) einen neuen Wirkungsschwerpunkt. Sie wurden nach dem Königsteiner Schlüssel, der hauptsächlich die Einwohnerzahl berücksichtigt, auf die Bundesländer verteilt. Seit 1990 hat sich die Zahl der jüdischen Gemeindemitglieder in Deutschland mehr als verdreifacht.

Noch prägen in Deutschland Geborene den Zentralrat – und wenige aus dem Osten Europas stammende Juden, die mittlerweile vielerorts die Mehrheit der Gemeindemitglieder stellen. Der Zentralrat gibt die Wochenzeitung Jüdische Allgemeine heraus. Die Union progressiver Juden, deren Gemeinden ca. 3000 Mitglieder angehören, ist nach dem Zentralrat die zweitgrößte Vereinigung jüdischer Gemeinden in Deutschland. Nach früheren Spannungen zwischen beiden Organisationen hat sich das Verhältnis nunmehr normalisiert. Teilweise gibt es mittlerweile Mitgliedschaften von Landesverbänden der Union progressiver Juden im Zentralrat der Juden in Deutschland.

Die Bundesrepublik Deutschland hilft bei der Erhaltung und Pflege des deutschjüdischen Kulturerbes, beim Aufbau einer jüdischen Gemeinschaft und bei den integrationspolitischen und sozialen Aufgaben des Zentralrats in Deutschland mit einer jährlichen Zahlung an den Zentralrat von 10.000.000 €.[2]

Bisherige Präsidenten und Vorsitzende

Generalsekretäre/Geschäftsführer

Organisation

Struktur

Der Zentralrat hat drei Organe:[4]

  • die Ratsversammlung als Vertretung der Gemeinden,
  • das Direktorium als Vertretung der Landesverbände und Großgemeinden,
  • das Präsidium als Exekutive.[5]

Der Ratsversammlung gehören alle Landesverbände sowie die Großgemeinden in Berlin, München, Frankfurt und Köln an, wobei für je 1000 Gemeindemitglieder ein Delegierter entsandt wird. Als oberstes Entscheidungsgremium des Zentralrats hat sie die Richtlinienkompetenz, das Haushaltsrecht und kontrolliert die Arbeit des Präsidiums. Sie entscheidet über Grundsatzfragen der jüdischen Gemeinschaft unter Berücksichtigung der Autonomie der einzelnen Mitgliedsgemeinden in höchster Priorität. Sie tagt mindestens einmal im Jahr und wählt aus ihrer Mitte für die Dauer von vier Jahren drei Mitglieder in das neunköpfige Präsidium des Zentralrats.

Das Direktorium setzt sich aus von den einzelnen Mitglieds- bzw. Landesverbänden entsandten Vertretern zusammen, wobei je angefangenen 5000 Gemeindemitglieder ein Delegierter entsandt wird. Das Direktorium wählt aus seiner Mitte auf vier Jahre sechs Mitglieder des neunköpfigen Präsidiums. Das Direktorium überwacht die Tätigkeit des Präsidiums und wählt den Generalsekretär.

Das Präsidium wählt aus seinen Reihen den Präsidenten und die beiden Vizepräsidenten, die den Zentralrat der Juden in der Öffentlichkeit vertreten. Das Präsidium führt die Geschäfte des Zentralrats, die laufenden Geschäfte führt der auf fünf Jahre gewählte Generalsekretär.

Der Zentralrat ist Vollmitglied in mehreren internationalen jüdischen Organisationen, unter anderem:

Landesverbände

Derzeit gehören 23 Landesverbände mit insgesamt 108 jüdischen Gemeinden mit gut 100.000 Mitgliedern dem Zentralrat an.[1]

Kontroversen

Nach dem Tod Werner Nachmanns wurde der Vorwurf erhoben, Nachmann habe in der Zeit von 1981 bis 1987 etwa 33 Millionen DM an Zinserträgen aus Wiedergutmachungsgeld der Bundesregierung veruntreut. Der tatsächliche Verbleib des Geldes ist bis heute weitgehend ungeklärt, obwohl sich insbesondere Nachmanns Amtsnachfolger Heinz Galinski jahrelang intensiv um die Aufklärung der Angelegenheit bemühte.

Im Jahr 2000 gaben die Bremer Gemeindevorsitzende Elvira Noa sowie die Vizepräsidentin des Zentralrates und Münchener Gemeindepräsidentin Charlotte Knobloch der Wochenzeitung Junge Freiheit je ein Interview, die in deren Ausgaben vom 13.[6] bzw. 20.[7] Oktober 2000 veröffentlicht wurden. Die daraufhin einsetzende Debatte innerhalb des ZdJ mündete in den Beschluss des Direktoriums, „rechtsgerichteten Medien“ künftig kein Gesprächspartner mehr zu sein.[8]

Im April 2004 kam es zum Streit zwischen Zentralratspräsident Paul Spiegel und dem Vorsitzenden der Union progressiver Juden in Deutschland, Jan Mühlstein. Mühlstein fordert eine finanzielle Gleichberechtigung der liberalen jüdischen Gemeinden bei der Verteilung der auf Grundlage eines Staatsvertrags gezahlten jährlichen drei Millionen Euro staatlicher Fördermittel. Die Erben von Leo Baeck wollen wegen des Streits dem Zentralrat das Recht zur Nutzung des Namens Leo Baeck entziehen. In einem Gespräch unter Vermittlung der Weltunion progressiver Juden am Rande von deren Jahrestagung zu Pessach 2006 in Hannover legten Zentralrat und Union ihre Differenzen weitgehend bei.

Während des Libanonkrieges 2006 warf Direktoriumsmitglied Rolf Verleger dem Präsidium des Zentralrats in einem offen Brief vor, sich uneingeschränkt auf der Seite der israelischen Regierung zu positionieren. Aufgrund dieses Briefs setzte ihn am 9. August 2006 seine Lübecker Heimatgemeinde als Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinschaft Schleswig-Holstein ab. Verleger räumte ein, dass die Position des Präsidiums die Mehrheitsmeinung der Juden in Deutschland ausdrücke.[9]

In der hitzigen, durch ein Urteil des Landgericht Köln vom 7. Mai 2012 ausgelösten Debatte um die religiös motivierte Beschneidung von Knaben verwahrte sich der Zentralrat gegen eine Einmischung des orthodoxen israelischen Innenministers Eli Jischai.[10] Seit Oktober 2013 führt er Zertifizierungsseminare für Mohalim zu rechtlichen und medizinischen Aspekten der Beschneidung durch, sodass Eltern darauf vertrauen können, dass die Brit Mila durch einen zertifizierten Mohel medizinischen und rechtlichen Standards genüge. Dozenten waren u.a. der Würzburger Verfassungsrechtler Kyrill-Alexander Schwarz und der ärztliche Direktor des Jüdischen Krankenhauses Berlin, Hans Kristof Graf. Zentralratsvizepräsident Josef Schuster erklärte, für Beschneidungen, die nicht den rechtlichen Bestimmungen genügten, sei keinerlei Unterstützung durch den Zentralrat zu erwarten.[11][12]

Siehe auch

Literatur

  • Jay Howard Geller: Jews in Post-Holocaust Germany. Cambridge University Press, Cambridge unter anderem 2005, ISBN 0-521-54126-3.
  • Stephan J. Kramer: Wagnis Zukunft. 60 Jahre Zentralrat der Juden in Deutschland. Hentrich & Hentrich Verlag, Berlin 2011, ISBN 978-3-942271-10-3.
    • Stephan J. Kramer: Daring the future. 60 years of the Central Council of Jews in Germany. Hentrich & Hentrich Verlag, Berlin 2013, ISBN 978-3-95565-003-2.

Weblinks

Commons: Zentralrat der Juden in Deutschland – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. a b Mitglieder: Landesverbände und jüdische Gemeinden
  2. Gesetz zu den Vertrag vom 30. November 2011 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Zentralrat der Juden in Deutschland – Körperschaft des öffentlichen Rechts – zur Änderung des Vertrages vom 27. Januar 2003 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Zentralrat der Juden in Deutschland – Körperschaft des öffentlichen Rechts –, zuletzt geändert durch den Vertrag vom 3. März 2008
  3. www.zentralratdjuden.de Presseerklärung vom 8. April 2014
  4. Homepage
  5. Mitglieder des Präsidiums
  6. Für ein ungestörtes Verhältnis. Auf: jf-archiv.de am 13. Oktober 2000
  7. Manchmal tun mir die jungen Deutschen leid. Auf: jf-archiv.de am 20. Oktober 2000
  8. Marlies Emmerich: Keine Interviews mehr für rechte Zeitungen Auf: berliner-zeitung.de am 30. Oktober 2000
  9. Zentralrats-Kritiker muss gehen, taz am 24. August 2006.
  10. Ethikrat spricht sich für Beschneidung aus. Auf: spiegel.de am 23. August 2012
  11. Für das Wohl des Kindes – Josef Schuster über die Weiterbildung von Mohalim
  12. Qualifizierung von Mohalim – Erfolgreiches Kompaktseminar in Berlin