Ismail Kadare

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Ismail Kadare (2002)

Ismail Kadare [ismaˈil kadaˈɾɛAudiodatei abspielen (* 28. Januar 1936 in Gjirokastra; † 1. Juli 2024 in Tirana;[1] selten auch Ismail Kadaré) war ein albanischer Schriftsteller. Häufiges Thema seiner Romane ist das Leben in totalitären Regimen,[2] oft in einen historischen Kontext verwoben. Er gilt als der international erfolgreichste und meistübersetzte albanische Autor.[3] Sein Werk zählt zum Kanon der albanischen Literatur mit vielfältigen, anhaltenden Wirkungen.[4] Neben Romanen veröffentlichte er auch einige Novellen, Gedichte und Essays.

Das Geburtshaus Kadares im typischen osmanischen Stil (Foto: 2013)

Herkunft und Ausbildung

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Ismail Kadare wurde im südalbanischen Gjirokastra als Sohn des in bescheidenen Verhältnissen lebenden Gerichtsboten Halit Kadare und der Hausfrau Hatixhe Dobi geboren. Sein Großvater mütterlicherseits war ein gebildeter und wohlhabender Mann. Zur Zeit des Zweiten Weltkriegs und der Besetzung Albaniens wechselten die Besatzer seiner Heimatstadt regelmäßig. Über diese Erfahrungen in seiner Kindheit erzählt er in dem Roman Chronik in Stein, der 1971 erschien. Obwohl Kadare es nicht erwähnt, wird dieses Werk als autobiographisch bewertet.[5]

Im Alter von zwölf Jahren wurde er zusammen mit einem Freund wegen Geldfälschens mit geschmolzenem Blei von den kommunistischen Behörden verhaftet und verbrachte zwei Tage im Gefängnis.[6][7] Kadare schloss die Sekundarschule in seiner Geburtsstadt ab. Anschließend studierte er an der Fakultät für Geschichte und Philologie der Universität Tirana Sprachen und Literatur.[5]

1956 erhielt er das Lehrerdiplom und studierte danach während der Chruschtschow-Ära Literaturwissenschaft am Maxim-Gorki-Literaturinstitut in Moskau, bis zum Abbruch der politischen Beziehungen Albaniens zur Sowjetunion im Jahr 1960. In Moskau hatte er Gelegenheit, ins Russische übersetzte zeitgenössische westliche Literatur zu lesen.[8] Kadare betrachtete Maxim Gorkis Lehren als „tödlich für die wahre Literatur“.[9] Er lehnte den Kanon des Sozialistischen Realismus ab und verpflichtete sich innerlich, das Gegenteil von dem zu tun, was die Dogmatik im Bereich der „guten Literatur“ lehrte.[10] Den Aufenthalt in Russland verarbeitete er 1978 in seinem autobiographischen Roman Die Dämmerung der Steppengötter.

Schriftsteller im sozialistischen Albanien

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In den frühen 1960er-Jahren war Kadare vor allem als Lyriker populär. 1959 schrieb er seinen Roman Qyteti pa reklama (deutsch Die Stadt ohne Reklamen). Dieser kritisierte den Sozialistischen Realismus. Wegen seines heiklen Inhalts konnte er ihn nicht veröffentlichen. Einige Jahre später veröffentlichte er einen Teil des Romans getarnt als Novelle unter dem Titel Kaffeehaustage in dem Magazin Zëri i Rinisë. Sie wurde sofort nach dem Erscheinen verboten. Der Roman selbst blieb bis zum Fall des Regimes unveröffentlicht.[11][12]

1963 erschien sein bekanntester Roman, Der General der toten Armee. Von offiziellen Literaturkritikern wurde das Werk kritisiert und danach ignoriert. Anlass dafür war, dass Kadare unter anderem den realsozialistischen Stil gemieden hatte und die Partei der Arbeit Albaniens in ihm ignoriert wurde.[9] Im Januar 1965 wurde sein Roman Das Ungeheuer in der Zeitschrift Nëntori veröffentlicht, aber gleich nach seinem Erscheinen als „dekadent“ etikettiert und verboten.[13] In literaturkritischen Schriften der 1960er Jahre wurde Kadare manchmal geraten, wie er in Zukunft schreiben sollte, manchmal nur nebenbei erwähnt und meistens ignoriert.[9]

Im Westen hatte Kadare mit Der General der Toten Armee seinen literarischen Durchbruch. 1970 wurde dieser Roman in Paris veröffentlicht und von der französischen Kritik gefeiert. Das Werk wurde auch verfilmt (unter anderem mit Michel Piccoli und Marcello Mastroianni). Die Veröffentlichung dieses Werkes im Westen markiert die radikale Veränderung des staatlichen Verhaltens gegenüber dem Schriftsteller. Da Kadares Literatur plötzlich ein Einflussfaktor wurde, wurde sie von nun an von der Geheimpolizei und dem Amt für Veröffentlichungen ständig unter die Lupe genommen.[14] Kadares Feinde in der Geheimpolizei und die alte Garde des Politbüros der albanischen Arbeiterpartei beschuldigten ihn wiederholt, ein westlicher Agent zu sein; das war einer der gefährlichsten Vorwürfe, die zu dieser Zeit gemacht werden konnten.[15] Die ältere Generation von Schriftstellern und Kritikern war extrem erbost: „Dieser Roman wurde von der Bourgeoisie veröffentlicht und dies kann nicht akzeptiert werden“, heißt es in einem Bericht der damaligen Geheimpolizei. Die Schriftsteller schlossen sich zusammen gegen den „Liebling des Westens“.[14] Kurz nach seinem literarischen Durchbruch im Ausland im Jahr 1970 wurde Kadare vom albanischen Regime dazu bestimmt, Parlamentsabgeordneter zu werden.[16]

Von Kadares weiteren Romanen fanden viele auch im Ausland Beachtung. Wenn er auch systembedingt in seinem Schaffen zahlreichen Einschränkungen und Zensurmaßnahmen unterworfen war, machte sein Ruhm im Ausland ihn für das Regime bis zu einem bestimmten Grad unantastbar.

Nachdem er 1975 die Behörden mit einem politischen Gedicht beleidigt hatte, wurde er zur Strafe für einige Zeit zur Zwangsarbeit aufs Land geschickt. Außerdem wurde ihm das Veröffentlichen von Romanen verboten, sodass er diese nach seiner Rückkehr nach Tirana als Novellen getarnt herausgeben ließ.[10] So erschienen 1978, 1980 und 1986 drei Sammelbände mit jeweils vier oder mehr Novellen.

1981 veröffentlichte er den Roman Der Palast der Träume, eine Parabel über einen diktatorischen Staat, der die Träume seiner Untertanen überwacht und interpretiert, um so potenzielle Verschwörungen gegen sich aufzudecken. Er wurde nach Erscheinen verurteilt und schließlich verboten. Kadare wurden versteckte Angriffe auf das Regime und Anspielungen auf die gegenwärtige Situation in Albanien vorgeworfen, jedoch bewahrte ihn sein internationales Renommee vor potenziellen Konsequenzen.[17][18] Im selben Jahr hatte er auch den Roman Konzert am Ende des Winters an den Staatsverlag geschickt. Der Roman wurde von Partei- und Staatsämtern als antikommunistisches Werk, als Spott des politischen Systems und als offener Widerstand gegen die kommunistische Ideologie angesehen und blieb daher bis mehrere Jahre nach Enver Hoxhas Tod unveröffentlicht.[19] Zu dieser Zeit wies Hoxha den Geheimdienst Sigurimi an, Dokumente vorzubereiten, um Kadare zu verhaften und als Verschwörer und Staatsfeind zu verurteilen.[20]

Nach dem Selbstmord des Premierministers Mehmet Shehu wurden zahlreiche Partei- und Staatsfunktionäre verhaftet. Aufgrund weiterer beunruhigender Umstände schloss Kadare, dass er sich in Gefahr befand.[21] Die Zeit schien reif, ihn als Feind der Partei und der Diktatur des Proletariats zu verurteilen. Es wurden zehn erzwungene Aussagen über seine feindlichen Aktivitäten vorbereitet, die wichtigsten von Fiqirete Shehu, der Ehefrau des verstorbenen Premierministers Mehmet Shehu, und von Gesundheitsminister Llambi Ziçishti. Kadare sollte vorgeworfen werden, die Parteilinie in Kunst und Kultur sabotiert zu haben. Bashkim Shehu bezeugte, er sei eine Woche lang über Kadare verhört worden.[22] Die westliche Presse verteidigte ihn. In einem Artikel in der französischen Zeitschrift Lire schrieb Bernard Pivot, Frankreich sei besorgt, dass Kadare nicht auf die Einladung nach Paris reagiere.[23] Laut Spartak Ngjela waren einige französische Schriftsteller und Intellektuelle, unter anderem Alain Bosquet, bereit, Kadare sofort zum Dissidenten zu erklären, sollte er verhaftet werden, und Hoxha wurde darüber vom Geheimdienst informiert. Er soll danach in einer Sitzung des Politbüros gerufen haben: „Ich gebe dem Westen keinen Dissidenten!“[24]

In den 1980er Jahren schmuggelte Kadare mit Hilfe seines französischen Herausgebers Claude Durand einige seiner regimekritischen Manuskripte aus Albanien und deponierte sie in Frankreich; unter anderem Agamemnons Tochter und Die Flucht des Storchs.[25][26]

Robert Elsie, ein Albanologe und Experte für albanische Literatur, betonte, dass die Bedingungen, unter denen Kadare in Albanien lebte und seine Werke veröffentlichte, nicht mit denen in anderen kommunistischen Ländern Europas vergleichbar gewesen seien, in denen zumindest ein gewisses Maß an öffentlichem Widerspruch toleriert wurde. Vielmehr sei die Situation damals in Albanien vergleichbar mit Nordkorea oder der Sowjetunion in den 1930er Jahren unter Stalin. Trotzdem nutzte Kadare jede Gelegenheit, um das Regime in seinen Werken mit politischen Allegorien anzugreifen, die von gebildeten albanischen Lesern verstanden wurden.[27]

In einem 1990 in der Literaturzeitschrift Sinn und Form erschienenen Gespräch mit Charles Haroche[28] berichtete Kadare über seine familiäre Herkunft, seine ersten prägenden Lektüreerlebnisse und über sein eigenes Schreiben, für das unter anderem seine „besondere Vorliebe für die Welt der griechischen Antike und ihre Literatur“ eine große Rolle spielte. Ebenfalls prägend sei seine Jugend in Gjirokastra gewesen, „wo die ganze Landschaft an die griechischen Mythen erinnerte (Flüsse, von denen es hieß, sie führten in die Unterwelt, Zaubergrotten, Ruinen einstiger Theater).“ Die Verknüpfung von Gegenwart und Vergangenheit biete sich für Literatur an, wie sie auch der menschlichen Natur inhärent sei. Gefragt nach den Ansprüchen des sozialistischen Realismus in der modernen albanischen Literatur antwortete er: „Diese Frage habe ich erwartet. Sie gehört unvermeidlich in jedes Interview, das ich mit Ausländern habe. […] Was soll ich Ihnen über den sozialistischen Realismus sagen, ohne ungenießbar zu werden, was ja unvermeidlich der Fall ist, wenn eine bestimmte Frage immer wiederkehrt und nur einer da ist, um sie zu beantworten? […] Und welches sind denn eigentlich die Regeln, denen diese Methode angeblich gehorcht? […] Es bleibt mir nur übrig, wie der Heilige Augustinus zu antworten: ‚Ich weiß, was die Zeit ist, aber wenn man mich danach fragt, kann ich es nicht erklären.‘“ Das albanische Publikum halte er für „normal und gesund“, weil es sich „weder von seichter Literatur noch von in der Kunst unnötigen Komplikationen verführen“ lasse. Dieses Publikum würde zum Beispiel Hamlet mögen, Don Quijote, Vater Goriot oder Die verlorene Ehre der Katharina Blum oder die Chronik eines angekündigten Todes von Gabriel García Márquez, und deshalb vertraue er auch auf die Urteilsfähigkeit eines solchen Publikums.

Zeit in Frankreich und Rückkehr

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Aus Protest gegen die Verschleppung der Demokratisierung durch den Übergangsmachthaber Ramiz Alia ging Kadare im Oktober 1990 mit seiner Familie nach Frankreich und bekam dort politisches Asyl;[5][29] er hatte sich zuvor schon mehrmals dort aufgehalten. Die Behörden seiner Heimat erklärten ihn zum Verräter.[20] 1991 erschien der rechtfertigende Essay Printemps albanais.[2] Ab 1996 war Kadare Membre associé étranger (Ausländisches assoziiertes Mitglied) der Académie des sciences morales et politiques in Paris.

Kadare kehrte 1999 in seine Heimat zurück und hatte seinen Wohnort wechselnd in Tirana und Paris. In den 1990er und 2000er Jahren wurde er mehrmals von Parteiführern der Demokratischen Partei Albaniens und der Sozialistischen Partei Albaniens sowie von Personen, die das Regime verfolgt hatte, gebeten, Präsident Albaniens zu werden, was er stets ablehnte.[30]

2006 veröffentlichte Kadare einen Aufsatz über die kulturelle Identität der Albaner (Identiteti evropian i shqiptarëve, dt.: Die europäische Identität der Albaner), der in der albanischen Öffentlichkeit große Aufmerksamkeit erregte.[31]

Kadare wurde mehrfach für den Nobelpreis für Literatur nominiert.[32][33]

Kadares Ehefrau Helena ist ebenfalls Schriftstellerin.[34] Kadares Tochter Besiana studierte Literaturwissenschaften an der Sorbonne (Paris IV). Von 2011 bis 2016 war sie Botschafterin Albaniens in Frankreich. Seit Juni 2016 ist sie Ständige Vertreterin Albaniens bei den Vereinten Nationen und Botschafterin in Kuba.[35] Anfang Juli 2024 verstarb Ismail Kadare im Alter von 88 Jahren in Tirana.

Kontroversen und Kritik

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Die Kritik an Kadare setzt sich nicht nur mit seinen Werken auseinander, sondern vor allem auch mit seiner politischen Haltung und seiner Einstellung zum kommunistischen System in Albanien.[2]

Nähe zum stalinistischen Regime

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Nach der Wende wurde Kadare Nähe zum stalinistischen Regime zum Vorwurf gemacht, was bis zum Vorwurf der „Hoxha-Kadare-Diktatur“ (Kasëm Trebeshina) ging.[2][5] Der deutsche Thomas Kacza warf Kadare vor, dass er gegen Hoxhas stalinistisches Regime, von dem sich Kadare heute deutlich distanziert, erst im Verlaufe des Jahres 1990 zu opponieren begann. Kacza machte den Vorwurf, Kadare sei als Mitglied der Partei der Arbeit und des Direktoriums des Schriftstellerverbands sowie als Parlamentsabgeordneter (1970–1982) lange ein Teil des Systems gewesen. Kacza vermutete, dass Kadare mehr Kritik äußerte, als sich das sonst jemand in Albanien erlauben konnte, da er von Enver Hoxha selber geschützt war.[2][36] Der Journalist, Balkanexperte und Literaturkritiker Cyrill Stieger sieht in Kadare einen Profiteur des kommunistischen Systems und bezeichnet seine rechtfertigende Publikation Printemps albanais, in der er sich als Dissident darstelle und sein Werk als antikommunistisch bezeichne, als „peinlich“.[37] Ulrich Enzensberger kritisierte Retuschen Kadares an früheren Werken, damit diese angeblich besser in einem antikommunistischen Licht erscheinen, wobei er sich wenig selbstkritisch zeigte.[38]

Kadare blieb in Deutschland weithin ignoriert, unveröffentlicht und wurde als „Protegé von Hoxha“ gebrandmarkt. Beqë Cufaj sieht den Grund dafür in einigen jungen albanischen Schriftstellern, die angestiftet von Nexhmije Hoxha, der Witwe des Diktators, versuchten, Kadare und seine regimekritischen Werke zu diffamieren, damit sie selber als Dissidenten dastünden, obwohl Dissidenz in Enver Hoxhas Albanien unmöglich gewesen sei.[39] Weiter wird die Kritik mit der Christa-Wolf-Debatte in Deutschland in Zusammenhang gebracht, wobei öfters auf „fragwürdige Quellen aus der zerstrittenen albanischen Literaturszene“ zurückgegriffen worden sei.[5] Ardian Klosi sah in ihm sowohl einen Kritiker als auch einen Unterstützer des kommunistischen Systems in Albanien.[2]

Die Gedichte aus der jungen Zeit Kadares im Stil des Sozialistischen Realismus bezeichnete Kadare selber als „künstlerisch schwach“.[40][41]

2015 und 2016 wurden zwei Bände mit den Titeln „Kadare, denunziert“ (Kadare i denoncuar) und „Kadare in den Dokumenten des Palastes der Träume“ veröffentlicht, mit unbekannten Archivdokumenten der Sigurimi und des Zentralkomitees der Partei der Arbeit Albaniens, die als streng geheim eingestuft worden waren; mit Sitzungsprotokollen der Liga der Schriftsteller, mit Analysen, Kritik, Beweisen, Berichten, Anschuldigungen und Denunziationen gegen den Schriftsteller Ismail Kadare.[42] Es wurden erstmals einige Auszüge aus dem Tagebuch von Enver Hoxha veröffentlicht, in denen er sich über Kadare äußert. In seinem Tagebuch vom 20. Oktober 1975 schrieb Hoxha u. a.:

„Es ist klar, dass Kadare konterrevolutionär ist, er ist gegen die Diktatur des Proletariats, gegen die Gewalt und Unterdrückung von Klassenfeinden, er ist gegen den Sozialismus im Allgemeinen und in unserem Land im Besonderen.“[43]

Kadares Akte bei der Sigurimi der Zeit ist mit 1280 Seiten und vier Bänden die umfangreichste aller öffentlichen Persönlichkeiten Albaniens.[44]

Ismail Kadare wird auch Nationalismus vorgeworfen.[5] Ein Kritiker hatte geschrieben: „Wenn es um sein Land geht, ist Kadare so blind wie Homer.“[45] Kadare entgegnete, dass es sich hier um ein Missverständnis handle: „Ich denke, wir sind einer Meinung darin, dass Nationalismus nicht bedeutet, wenn man sein eigenes Volk liebt, sondern wenn man andere Völker nicht mag und sie nicht erträgt.“[5] Sein Übersetzer Joachim Röhm bestätigt, dass Kadare lediglich sein Heimatland und sein Volk verteidigte, wenn er sie ungerechten Angriffen ausgesetzt sah. Er weist darauf hin, dass man in seinen Werken nirgendwo auch nur den leisesten chauvinistischen Unterton entdecken könne.[5] Kadare setzte sich mit den Vorwürfen in einem Interview mit Alain Bosquet auseinander, das in Frankreich als Buch erschienen ist.[46]

Ablehnung des albanischen Islam

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Bereits in den 1990er-Jahren begrüßte Kadare öffentlich das Religionsverbot in der Sozialistischen Volksrepublik Albanien, da er darin eine Möglichkeit der christlichen Wiederbekehrung der muslimischen Albaner sah: „Ich war davon überzeugt, dass Albanien sich dem christlichen Glauben zuwenden würde, weil es mit ihm die Kultur, Erinnerung und Nostalgie für die vortürkische Zeit verbindet. Jahr für Jahr wird sich die im Gepäck der Osmanen importierte islamische Religion erschöpfen – zuerst in Albanien und dann im Kosovo. So wird sich die christliche Religion, oder genauer die christliche Kultur, im Land einprägen. Dadurch wird bald aus einem Übel – das Verbot der Religion 1967 – etwas Gutes entstehen.“ (Ismail Kadare)[47]

2006 veröffentlichte Kadare einen Aufsatz über die kulturelle Identität der Albaner, der in der albanischen Öffentlichkeit große Aufmerksamkeit erregte.[31] Er vertrat darin die Auffassung, die Albaner seien eine westliche Nation, deren geistig-kulturelle Basis das Christentum sei; den Islam charakterisierte der konfessionslose Schriftsteller als eine den Albanern während der osmanischen Herrschaft aufgedrängte Religion mit überwiegend negativen Folgen für sie. Der bekannte albanische Autor und Literaturwissenschaftler Rexhep Qosja aus Montenegro widersprach dieser Auffassung vehement.[48] Kadare äußerte sich auch später entsprechend und wurde von vielen stark kritisiert.[2] So gilt Kadare beispielsweise für Edvin Hatibi als „Vertreter der antimuslimischen Mythologie in Albanien“.[49]

Albanische Briefmarke, 2011

Ismail Kadares Werk wurde in mehr als 45 Sprachen übersetzt.[50] Nach Meinung der Stiftung Fürst von Asturien ist er einer der bedeutendsten europäischen Schriftsteller und Intellektuellen des 20. Jahrhunderts sowie eine Stimme der Weltliteratur gegen den Totalitarismus.[51]

In Kadares ehemaliger Wohnung im Pallati me kuba in Tirana wurde ein kleines Museum eingerichtet. Sein Geburtshaus in Gjirokastra kann heute ebenfalls als Museum besichtigt werden.[60]

Werke (Auswahl)

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Bei den Übersetzungen ins Französische durch Jusuf Vrioni wirkte Kadare mit, so dass aus diesen autorisierte Überarbeitungen der Originaltexte wurden.[61] Die aktuellen Übersetzungen ins Deutsche stammen von Joachim Röhm.

  • „Ich kannte Literatur bevor ich Freiheit kannte, so dass es die Literatur war, die mich zur Freiheit führte, nicht umgekehrt.“[58]
  • „Die Literatur ist ein Königreich, das ich mit keinem Land der Welt eintauschen möchte, selbst mit einer Republik nicht.“
  • „Paradoxerweise kann sich auch in einem grausamen Regime erstklassige Literatur entwickeln – und ein solches Regime wird sogar versuchen, aus dieser Literatur Profit zu schlagen. Diktatorische Systeme zeichnen sich nicht nur durch Willkür, sondern auch durch List aus.“[64]
  • Piet de Moor: Eine Maske für die Macht: Ismail Kadare – Schriftsteller in einer Diktatur. Amman, Zürich 2006, ISBN 978-3-250-60045-9.
  • Peter Morgan: Ismail Kadare – The Writer and the Dictatorship 1957-1990. Routledge, London 2010, ISBN 978-1-906540-51-7.
  • Thomas Kacza: Ismail Kadare – verehrt und umstritten. Privatdruck, Bad Salzuflen 2013.
  • Florian Kienzle: Vom Wehrturm zur Streichholzschachtel – Orte und Räume in der albanischen Literatur. Harrassowitz, Wiesbaden 2023, ISBN 978-3-447-12050-0.
Commons: Ismail Kadare – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

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  1. Albanischer Schriftsteller Ismail Kadare gestorben. In: spiegel.de. 1. Juli 2024, abgerufen am 2. Juli 2024.
  2. a b c d e f g Thomas Kacza: Ismail Kadare – verehrt und umstritten. Privatdruck, Bad Salzuflen 2013.
  3. Ferdinand Laholli: Antologji e poezisë moderne shqipe / Anthologie der modernen albanischen Lyrik. Doruntina, Holzminden 2003, ISBN  5-2003-742-011 (defekt), S. 175.
  4. Bashkim Kuçuku: Një vepër në 45 gjuhë të botës. In: Shekulli. 28. Januar 2016, archiviert vom Original am 24. Juni 2021; abgerufen am 1. Juli 2024 (albanisch).
  5. a b c d e f g h Joachim Röhm: Ismail Kadare, kurz vorgestellt. (PDF) In: joachim-roehm.info. Abgerufen am 4. Januar 2017.
  6. Ndriçim Kulla: Biografia, Kadare u arrestua në moshën 12-vjeç për klasifikim monedhash. In: Ylli i shkrimtarit. 14. Oktober 2013, abgerufen am 4. März 2017 (albanisch).
  7. Blendi Fevziu: Ismail Kadare: Ju rrefej 80 vitet e mia… In: Opinion.al. 28. Januar 2016, abgerufen am 4. März 2017 (albanisch).
  8. Peter Morgan: Kadare: Shkrimtari dhe diktatura 1957-1990. 1. Auflage. Shtëpia Botuese "55", Tirana 2011, ISBN 978-9928-10612-4, S. 49.
  9. a b c Ag Apolloni: Paradigma e Proteut. OM, Pristina 2012, S. 33–34.
  10. a b Éric Fayé: œuvres completes: tome 1. Editions Fayard, 1993, S. 10–25.
  11. Ndue Ukaj: Ismail Kadare: Letërsia, identiteti dhe historia. In: Gazeta Ekspress. 27. Mai 2016, archiviert vom Original am 5. März 2017; abgerufen am 4. März 2017 (albanisch, Auszug aus dem Buch Kadare, leximi dhe interpretimet).
  12. Helena Kadare: Kohë e pamjaftueshme: kujtime. Onufri, Tirana 2011, S. 128–129.
  13. Helena Kadare: Kohë e pamjaftueshme: kujtime. Onufri, Tirana 2011, S. 144–146.
  14. a b Shaban Sinani: Letërsia në totalitarizëm dhe "Dossier K". Naim Frashëri, Tirana 2011, S. 94–96.
  15. Peter Morgan: Ismail Kadare: shkrimtari dhe diktatura, 1957-1990. Shtëpia botuese 55, Tirana 2011, ISBN 978-9928-10612-4, S. 143.
  16. Fundacion Princesa de Asturias: Ismaíl Kadare, Prince of Asturias Award Laureate for Literature. In: fpa.es. 24. Juni 2009, abgerufen am 12. März 2017 (englisch).
  17. Joachim Röhm: NACHWORT ZUM PALAST DER TRÄUME. (PDF) In: joachim-roehm.info. Abgerufen am 11. März 2017.
  18. Installation de Ismail Kadare – Associé étranger. (PDF) Académie des Sciences morales et politiques, 28. Oktober 1996, S. 11, abgerufen am 2. Juli 2024 (französisch).
  19. Shaban Sinani: Letërsia në totalitarizëm dhe "Dossier K". Naim Frashëri, 2011, S. 100.
  20. a b Qemal Lame: Ekskluzive/ Ish-kreu i Hetuesisë: Kadareja do dënohej si bashkëpunëtor i Mehmetit. 28. März 2017, abgerufen am 23. Juli 2017 (albanisch).
  21. Peter Morgan: Kadare: Shkrimtari dhe diktatura 1957-1990. Shtëpia Botuese "55", Tirana 2011, ISBN 978-9928-10612-4, S. 224–226.
  22. Peter Morgan: Kadare: Shkrimtari dhe diktatura 1957-1990. Shtëpia Botuese "55", Tirana 2011, ISBN 978-9928-10612-4, S. 182.
  23. Helena Kadare: Kohë e pamjaftueshme: kujtime. Onufri, Tirana 2011, S. 388.
  24. Spartak Ngjela: Spartak Ngjela: Ja kush e shpëtoi Kadarenë nga Enver Hoxha. In: TPZ.al. 13. Dezember 2017, abgerufen am 2. Juli 2024 (albanisch).
  25. Joachim Röhm: Anmerkungen zur Entstehung der einzelnen Texte des Sammelbands "Der Raub des königlichen Schlafs". (PDF) In: joachim-roehm.info. Abgerufen am 27. September 2019.
  26. Claude Durand: Agamemnon's Daughter: A Novella and Stories. Hrsg.: Ismail Kadare. Arcade Publishing, 2006, ISBN 978-1-55970-788-6, About Agamemnon's Daughter: Adapted from the Publisher's Preface to the French Edition, S. ix–xii (Online).
  27. Robert Elsie: Albanian Literature: A Short History. I.B.Taurus, London 2005, ISBN 1-84511-031-5, S. 182–183.
  28. Charles Haroche: Gespräch mit Ismail Kadare. Aus dem Französischen von Eva Schewe. In: Sinn und Form 4/1990, S. 706–714. Alle nachfolgenden Zitate aus diesem Gespräch.
  29. Ismail Kadare. In: Albanian Literature. Robert Elsie, abgerufen am 24. Juni 2021 (englisch).
  30. Helena Kadare: Kohë e pamjaftueshme: kujtime. Onufri, Tirana 2011, S. 635–636.
  31. a b Ismail Kadare: Identiteti evropian i shqiptarëve. Tirana 2006 (Die europäische Identität der Albaner. Deutsche Übersetzung (Memento vom 27. April 2011 im Internet Archive)).
  32. Nina Sabolik: Why Ismail Kadare Should Win the 2013 Nobel Prize in Literature. World Literature Today, 14. August 2013, abgerufen am 8. November 2016 (amerikanisches Englisch).
  33. Ismail Kadare, a Candidate for the Nobel Prize in Literature. RTK Live, 8. September 2016, archiviert vom Original am 8. November 2016; abgerufen am 1. Juli 2024 (englisch).
  34. Helena Kadare. In: Albanian Literature. Robert Elsie, abgerufen am 24. Juni 2021 (englisch).
  35. New Permanent Representative of Albania Presents Credentials. Unitet Nations, 30. Juni 2016, abgerufen am 31. August 2020 (englisch).
  36. Martin Ebel: Leben und Schreiben unter den Augen des Diktators. In: Tages-Anzeiger. 19. Februar 2009, archiviert vom Original am 2. Februar 2014; abgerufen am 1. Juli 2024.
  37. Cyrill Stieger: ZündOrte: Ismail Kadare – peinliche Umdeutung seiner Rolle in der Diktatur. In: orte. Schweizerische Literaturzeitschrift. Lyrik aus Albanien, Nr. 189, 2016, ISBN 978-3-85830-183-3, S. 87–90.
  38. Ulrich Enzensberger: Der albanische Nationaldichter Ismail Kadare: Tirana schweigt. In: Die Zeit. 11. September 1992, archiviert vom Original am 20. Januar 2017; abgerufen am 1. Juli 2024.
  39. Beqë Cufaj: Das gespenstische Moskau der fünfziger Jahre ist uns nicht fern. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 15. Oktober 2016 (Online [PDF; abgerufen am 23. Juli 2017]).
  40. Andreas Breitenstein: Gespräch mit Ismail Kadare über Politik und Literatur, Anpassung und Macht, Schreiben und Angst: «Ein Schriftsteller, nichts sonst». In: Neue Zürcher Zeitung. 20. März 2009, ISSN 0376-6829 (NZZ Online [abgerufen am 4. Januar 2017]).
  41. Cyrill Stieger: Lyrik aus Albanien. Eine faszinierende Welt der Poesie. In: orte. Schweizerische Literaturzeitschrift. Lyrik aus Albanien, Nr. 189, 2016, ISBN 978-3-85830-183-3, S. 6.
  42. Kadare në dokumentet e "Pallatit të ëndrrave": 101 dokumente të panjohura … – Google Books
  43. „Pashallarët e kuq“/ Zbulohet ditari sekret i Enverit: Kadare poet i lig korbash/. In: Panorama.al. 6. Mai 2016, abgerufen am 19. April 2020 (albanisch, mit einem Eintrag von Enver Hoxha in sein Tagebuch am 20. Oktober 1975).
  44. Blendi Fevziu: Enver Hoxha. Uetpress, 2011, ISBN 978-99956-39-35-8, S. 258–259.
  45. Carolina Bădițescu: Le recours à l’autre – hypostases de l’isolement et de l’ouverture chez Ismail Kadaré. (PDF; 146 kB) Abgerufen am 31. Mai 2012 (französisch).
  46. Ismail Kadare, Alain Bosquet: Dialogue avec Alain Bosquet. Fayard, Paris 1995, ISBN 978-2-213-59519-1.
  47. Ismail Kadare: Printemps Albanais. 2. Auflage. 1995, ISBN 2-253-93248-5.
  48. Rexhep Qosja: Realiteti i shpërfillur. Tirana 2006 (Qosjas Antwort auf Kadare)
  49. Ervin Hatibi: Die Sonne, die im Westen aufgeht. Islam und Muslime in der Perzeption der albanischen Eliten. In: Ost-West Europäische Perspektiven. 2007, abgerufen am 26. Juli 2014.
  50. Bashkim Kuçuku: Një vepër në 45 gjuhë të botës. In: Shekulli. 28. Januar 2016, abgerufen am 24. Juni 2021 (albanisch).
  51. Fundacion Princesa de Asturias: Ismaíl Kadare, Prince of Asturias Award Laureate for Literature. In: www.fpa.es/. 24. Juni 2009, abgerufen am 12. März 2017 (englisch).
  52. grands-prix.institut-de-france.fr
  53. Archives nationales: Archives du Bureau du Cabinet du ministre de la Culture. Ordre des arts et lettres (1962-2000). (PDF) S. 85, abgerufen am 10. November 2021 (französisch).
  54. Tutti i vincitori. In: Premio LericiPea. Abgerufen am 24. Juni 2021 (italienisch).
  55. Ordre national de la Légion d’Honneur – Décret du 31 décembre 2015 portant promotion. (PDF) In: Journal officiel de la République Française. Présidence de la République, 1. Januar 2016, abgerufen am 1. Januar 2016 (französisch).
  56. ata.gov.al
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  62. Andreas Breitenstein (16. Mai 2015): Wenn die Sonne nicht wiederkommt
  63. Jörg Magenau: Geschichten aus einem archaischen und weltfremden Land. In: Deutschlandfunk-Kultur-Sendung „Buchkritik“. 3. November 2008, abgerufen am 28. Januar 2021.
  64. Vjollca Hajdari: Die Tricks der Diktatur. In: Welt. 22. Juli 2017 (Online [abgerufen am 23. Juni 2021]).