Staatliche Bevormundung

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Als staatliche Bevormundung wird bezeichnet, wenn ein Staat mit Verboten bzw. Pflichten, Sanktionen oder sonstigen Erschwernissen das Verhalten seiner Bürger beeinflusst und dabei das Recht mündiger Bürger auf freie Willensentscheidung in unangemessener Weise einschränkt. Ob eine Sanktion unangemessen ist, liegt in der Sicht des einzelnen Betrachters und ist gelegentlich Gegenstand gerichtlicher Verfahren.

Oft geht mit diesen Maßnahmen eine intensive Kontrolltätigkeit des Staates einher. Dabei versuchen staatliche Institutionen, die oben genannten Maßnahmen durchzusetzen oder aufrechtzuerhalten, obwohl sich Betroffene aktiv und passiv dagegen wehren.

Im englischen Sprachraum hat sich der Begriff Nanny State (wörtlich: „Kindermädchen-Staat“) etabliert. Im Deutschen überschneidet sich der selten verwendete Begriff Vormundschaftsstaat mit den Begriffen überfürsorglicher Staat und Kontrollstaat.

Themenfelder[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Verbote, die im Wesentlichen nur den privaten Lebensbereich betreffen, z. B. Strafbarkeit von homosexuellen Handlungen, § 175 StGB
  • Übertriebene bürokratische Anforderungen bei staatlichen Verfahren (Schikane)
  • Strafsteuern, z. B. Ökosteuer, Plastiktütenabgabe in Großbritannien und Irland
  • Erhebung von Informationen, z. B. Frage nach der sexuellen Orientierung bei der Musterung, Zensus
  • Gebote oder Verbote, oft verbunden mit abschreckenden oder drakonischen Strafen, die in anderen Ländern oder Kulturkreisen als unverhältnismäßig oder ungewöhnlich hoch empfunden werden
  • Staatlicher Protektionismus, Dirigismus und starke Marktregulierung, z. B. Rabattgesetz, Buchpreisbindung

Die Einordnung einzelner Maßnahmen als staatliche Bevormundung ist nicht definitiv. So könnte man z. B. die Helmpflicht bei Motorradfahrern als gerechtfertigt ansehen, da Unfälle unbehelmter Motorradfahrer oftmals mit Verletzungen mit hohen und ggf. dauerhaften Kosten für die Gemeinschaft einhergehen, eine Helmpflicht bei Fahrradfahrern aufgrund des geringeren Verletzungsrisikos aber abgelehnt wird.

Hintergrund des Begriffes Nanny State[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Vereinigte Staaten und Vereinigtes Königreich[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die Verwendung des Begriffes Nanny State im englischen Sprachraum variiert je nach politischem Zusammenhang. Allgemein ist damit eine Politik gemeint, in der der Staat exzessiv seinen Wunsch zu beschützen (Vormundschaft), zu regieren oder bestimmte Teile der Gesellschaft zu kontrollieren verfolgt. Welche Aspekte als bevormundet bezeichnet werden, hängt vom Gebrauch oder dem Standpunkt der jeweils Betroffenen ab. Der Begriff kann sich beziehen auf:

In den USA sprechen sich politisch konservative oder wirtschaftlich liberale Gruppen, vor allem paleokonservative Bewegungen, die den freien Markt oder den Kapitalismus befürworten, gegen exzessive Aktionen durch den Staat aus, die darauf zielen, Bürger vor den Folgen eigener Handlungen zu schützen, indem sie die Handlungsmöglichkeiten der Bürger einschränken. Umgekehrt treten Bürgerrechtsorganisationen für mehr Bürgerrechte ein. Als ein typisches Beispiel gilt die National Rifle Association in den USA. Diese kämpft für ein weitgehendes Waffenbesitzrecht als Bürgerrecht und bezeichnet sich als die älteste Bürgerrechtsorganisation der Vereinigten Staaten. Andererseits befürworten konservative Gruppen in den USA ein Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen.

Den englischen Begriff Nanny State (Kindermädchen-Staat) verwenden US-amerikanische Liberale und Ultraliberale, um den Staat als übermäßig beschützend gegenüber Unternehmen und dem Unternehmertum zu bezeichnen. Er handele damit „zum Schaden des Allgemeinwohls und des Konsumenten“. Diesen Wortgebrauch findet man auch im internationalen Zusammenhang, wo als öffentliches Wohl das Wohlergehen von Menschen generell verstanden wird und wo der Staat heimische gegenüber ausländischen Unternehmen in übertriebenem Maße beschütze.

Der englische Ausdruck Nanny State wurde vom konservativen britischen Abgeordneten Iain Macleod mitgeprägt. In seiner Kolumne Quoodle des The Spectator, Ausgabe vom 31. Dezember 1965, formulierte er: „[…] what I like to call the nanny state […]“ („[…] was ich als Nanny-State bezeichnen möchte […]“).

Der als Kritiker der Außenpolitik der Vereinigten Staaten bekannte Noam Chomsky verwendet regelmäßig den Ausdrucks Nanny State, um damit auf die Protektionismuspolitik der USA hinzuweisen.

Singapur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Bekannt als Vormundschaftsstaat ist der Stadtstaat Singapur. Er ist geprägt durch eine große Zahl an staatlichen Vorschriften und Restriktionen, die das Leben der Bürger einschränken. Ehemaliger Premierminister und damaliger Senior Minister Lee Kuan Yew, der Architekt des modernen Singapur, sagte: „If Singapore is a nanny state, then I am proud to have fostered one.“ („Wenn Singapur ein Nanny-State ist, dann bin ich stolz darauf, einen solchen protegiert zu haben.“)[1] Häufig genannt wird die Restriktion, dass es bei hoher Strafe verboten ist, Kaugummi nach Gebrauch auf den Boden statt in einen Mülleimer zu werfen. Wer dagegen verstößt, riskiert jahrelange Freiheitsstrafen. Von 1992 bis 2004 war der Verkauf von Kaugummi in Singapur vollständig verboten. Seitdem dürfen Apotheken Kaugummi an registrierte Käufer verkaufen.[2]

Varianten des Begriffes[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Politische Beschlüsse wie das Verbot von Drogenmissbrauch, zum Mindestalter für den Konsum von Alkohol und Tabak (insbesondere wenn diese auch für den Privatbereich gelten), die Helmpflicht oder hohe Steuern auf Junkfood werden gelegentlich als Handlungen eines Vormundschaftsstaates angesehen. Solche Handlungen ergeben sich aus der Überzeugung, der Staat bzw. eine seiner Gebietskörperschaften habe die Pflicht, die Bürger vor ihren schädlichen Verhaltensweisen zu beschützen, und der Staat wisse besser als seine Bürger, was selbstschädigendes Verhalten sei.

Auch der Schutz vor dem schädigenden Verhalten anderer, wie beispielsweise das Rauchverbot in der Öffentlichkeit oder die Waffenpolitik, werden zum Teil als Bevormundung aufgefasst, ebenso politische Korrektheit oder Zensur.

Vormundschaftsstaaten neigen zu Entscheidungen, die eine Risikoeindämmung in Bereichen wie Gesundheit und Sicherheitsfragen bewirken. Die EU wurde zum Beispiel kritisiert, als sie im Juni 2007 Quecksilber in Barometern verbot.[3]

Die britische Labour-Politikerin Margaret Hodge ist eine der bekanntesten Verfechterinnen des Vormundschaftsstaates. In einer Rede am American Enterprise Institute am 26. November 2004 sagte sie: „Some may call it the nanny state, but I call it a force for good“ („Manche mögen es einen Nanny-Staat nennen, aber ich nenne es eine Macht des Guten“).

Individuelle Wahrnehmung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Je nach Auswirkung auf die Betroffenen wird staatliche Bevormundung negativ (Beschneidung persönlicher Freiheiten) oder positiv (Schutz durch staatliche Fürsorge) empfunden. Dementsprechend kontrovers diskutierte Themenbereiche waren oder sind beispielsweise:

Nanny State Index[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Der Nanny State Index ist eine seit 2017 alle zwei Jahre vom Institute of Economic Affairs[6] herausgegebene Auflistung aller EU-Mitgliedstaaten, in der diese anhand von 35 Kriterien nach ihrem Grad der staatlichen Bevormundung gelistet werden.[7] In der neuesten Ausgabe von 2023 belegt Deutschland, wie auch 2021 und 2019, den letzten Platz mit den wenigsten und lockersten staatlichen Eingriffen, Vorschriften, Verboten und Regulierungen.[8] In der ersten Ausgabe 2017 belegte Deutschland den vorletzten Platz.

Dieses Ergebnis stieß teilweise auf Kritik unter Gesundheitsforschern. Luise Molling der europäischen Verbraucherschutzorganisation Foodwatch behauptete vor dem Hintergrund des Reports: „Deutschland [hinkt] in der internationalen Entwicklung im Gesundheitsschutz meilenweit hinterher“.[9]

Der Leiter der Abteilung Prävention des AOK-Bundesverbandes, Kai Kolpatzik, meinte: „Deutschland [...] gleicht in vielen Bereichen sinnvoller staatlicher Krankheitsprävention einem Entwicklungsland.“[9]

Laut dem Vorstand der Verbraucherzentrale Bundesverband, Klaus Müller, habe „Deutschland [...] noch einiges nachzuholen“.[10] Dass Deutschland beim Nanny State Index auf dem letzten Platz gelandet ist, sei kein Anlass zur Freude.[10]

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Wiktionary: Bevormundung – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. The Singapore Story: 1965-2000 (Memento des Originals vom 24. März 2012 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.straitstimes.com, in straitstimes.com, Lee Kuan Yew. 2000
  2. Singapur - Kaugummi nur für registrierte Käufer, in spiegel.de, 27. Mai 2004
  3. M. Banks, Jones, G.: Barometer makers lose battle over mercury, Telegraph, 6. Juli 2007. Abgerufen am 23. Juli 2007 
  4. Archivierte Kopie (Memento des Originals vom 11. Dezember 2013 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.verbrauchernews.de Bundesverfassungsgericht zu Klagen im Glykol-Skandal
  5. http://www.hks.harvard.edu/fs/pnorris/Acrobat/Fuchs.pdf D. Fuchs: The democratic culture of unified Germany
  6. Redaktion: Nanny State Index. Abgerufen am 5. November 2022 (deutsch).
  7. Rauchen, Trinken, Junkfood: Deutsche sind ein Albtraum für Krankenversicherer. In: www.focus.de. Focus, 3. Mai 2019, abgerufen am 5. November 2022.
  8. Nanny State Index | The best and worst countries to eat, drink, smoke & vape in the EU. Abgerufen am 5. November 2022.
  9. a b Marcus Theurer: Deutschland mit den wenigsten Verboten für Alkohol und Zigaretten. In: FAZ.NET. ISSN 0174-4909 (faz.net [abgerufen am 2. Februar 2023]).
  10. a b Julia Springmann: Deutschland siegt im Laster-Vergleich: Rauchen, saufen, fressen ohne Ende. In: Die Tageszeitung: taz. 1. Mai 2019, ISSN 0931-9085 (taz.de [abgerufen am 17. Juni 2023]).