Palästinalied
Das Palästinalied ist ein Ton von Walther von der Vogelweide. In poetischer Form thematisiert es die Teilnahme an einem Kreuzzug und stellt die religiöse Bedeutung des Heiligen Landes aus christlicher Sicht dar. Anlässlich welchen (tatsächlichen oder nur fiktiven) Kreuzzuges es verfasst sein könnte, ist unbekannt. Überliefert sind 13 Strophen in mittelhochdeutscher Sprache. Davon stammen sicher nicht alle von Walther, einige sind spätere Zudichtungen. Die Anzahl der echten Walther-Strophen ist umstritten; die sieben, welche mit Sicherheit Walther zugeschrieben werden können, sind in der Handschrift A (Kleine Heidelberger Liederhandschrift) enthalten. Ob bzw. wie viele der nur in jüngeren Handschriften überlieferten weiteren Strophen von Walther sind, ist ebenfalls nicht bekannt. Entsprechende Strophen werden deshalb oft gekennzeichnet (wie unten durch eine geringere Schriftgröße).
Allgemeines
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Das Palästinalied ist das einzige Werk Walthers, welches vollständig mit einer Melodie überliefert wurde. Die früheste Quelle für die Melodie ist das Münstersche Fragment, eine Liederhandschrift aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts, etwa 100 Jahre nach Walthers Tod. Daher ist nicht sicher, ob die Melodie nicht bereits verändert wurde, was besonders hinsichtlich der Vermutung eine Rolle spielt, ob Walther in ihr eine ältere Melodie benutzte (‚Kontrafaktur‘), beziehungsweise inwieweit er von einer solchen inspiriert worden sein könnte. In der Forschung ist mehrfach auf melodische Ähnlichkeiten mit dem Lied Lanqand li jorn des Trobadors Jaufré Rudel, aber auch mit der Antiphon Ave Regina caelorum hingewiesen worden, ohne dass sich ein klares Vorbild für Walthers Melodie hätte bestätigen lassen.[1][2] Linienlose Neumen in der Handschrift der Carmina Burana, die die erste Strophe des Palästinalieds (CB 211a) enthält, sind undeutbar. Die Strophe steht dort als Anhang des lateinischen Lieds Alte clamat Epicurus (CB 211), dessen Melodie der des Palästinalieds nachgebildet ist.
Inhaltlich setzt das Palästinalied einen Schwerpunkt auf religiöse Aspekte. Es ist als Rollenrede eines Pilgers im Heiligen Land gestaltet, der die Orte zentraler Stationen des Lebens Jesu Christi (Geburt, Taufe, Passion, Begräbnis, Auferstehung, Himmelfahrt und Wiederkunft) gläubig mit eigenen Augen erfährt. Auch politische Propaganda kann in dem Text gesehen werden. Walther von der Vogelweide vergegenwärtigt den christlichen Anspruch auf die Palästinaregion, indem das lyrische Ich an einem Kreuzzug in das sogenannte Heilige Land teilnimmt. Mit der Strophe Juden, Cristen unde heiden (Juden, Christen und die Heiden) legt er den Anspruch aller drei Religionen auf das Heilige Land zugunsten des Christentums aus (vgl. genannte Strophe), was man auf die Palästinapolitik Friedrichs II. beziehen kann. Ob Walther persönlich an einem Kreuzzug teilgenommen und jene Orte selbst vor Augen gehabt hat, kann nicht mit Gewissheit gesagt werden.
Text und Übersetzung
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Vom Palästinalied überliefert die Handschrift A sieben Strophen, andere Hss. bis zu elf, aber zum Teil unterschiedlich auswählend. Die abweichende Strophenzahl kann verschieden erklärt werden. Übereinstimmung besteht, dass eine nur in zwei Hss. überlieferte und inhaltlich sehr dürftige Strophe 3 nicht von Walther sein kann, sondern dass da jemand zu einem bekannten Lied etwas dazudichtete. Die sieben Strophen, die sicher von Walther sind und vier weitere, von denen bisweilen gesagt wird, sie könnten von Walther stammen, folgen hier; die vier nicht in A befindlichen, deren poetische Qualität nicht ganz auf der Höhe der sieben A-Strophen liegt, in Kleindruck.
1. Nû alrêst lebe ich mir werde, |
Nun erst lebe ich mir würdig, |
alrêst (= allêrst) allererst, zum ersten Mal; sît seit, seitdem, weil, weil nun; gihet Inf. jehen‚ von jemandem etwas sagen, jemandem etwas zugestehen; stat Stätte, Ort.
2. Schœne lant, rîch unde hêre, |
Schöne Länder, reich und herrlich, |
dûz Kontraktion aus dû ez; gar gänzlich, völlig, ganz und gar.
4. Hie liez er sich reine toufen, |
Hier ließ er sich rein taufen, |
reine als Reiner (d. h.: obwohl er selbst schon rein war); eigen Leibeigene, Unfreie; daz ist dir zorn: das (die Tatsache, dass Jesus die Menschheit erlöste) erregt deine Wut; zorn, Unwille, Wut, Empörung, Beleidigung.
5. Dô er sich wolte über uns erbarmen, |
Als er sich unser erbarmen wollte, |
verdrôz, Präteritum von verdriezen; alze ‚allzu; übergenôz, ohnegleichen.
6. Hinnen vuor der sun zer helle, |
Von hier fuhr der Sohn zur Hölle, |
des, deswegen, deshalb, daher; zein Ast, Strahl, Stab, Pfeilschaft
7. Dô er den tievel dô geschande, |
Nachdem er dort den Teufel besiegte, |
baz, gut (Komparativ von wol, des Adverbs von guot); huote, Hut, hier: Gefangenschaft
8. Dar nâch was er in deme lande |
Danach verweilte er in dem Land |
zehant, sofort; erkant, hier: herstammend
9. In diz lant hât er gesprochen |
In diesem Land hat er |
angeslîch ‚angsterregend‘, vergalt, hier: Gutes tat
10. Unserre lantrehtære tihten |
(Nicht) wie unsere Landesrichter es täten, |
vristen(Inf.), verzögern, aufschieben, hinhalten; zestunt, ohne Verzögerung, pünktlich
11. Juden, Cristen unde heiden |
Christen, Juden und Heiden |
heiden, gemeint: Muslime; ger, „Begehr“, Bitte, Absicht
12. Irlât iuch nit verdriezen, |
Nun lasst euch davon nicht verdrießen, |
entsliezen, erklären, (den Sinn) offenbaren
Die hier als letzte abgedruckte Strophe, die alle Forscher, die sie für echt halten, an die vorletzte Stelle rücken müssen, die aber in drei von vier Handschriften, die sie überliefern, eindeutig als letzte steht (in der vierten ist sie wie eine andere der hier klein gedruckten Strophen am Rande nachgetragen) trägt die Zeichen des Sekundären am deutlichsten und macht die Entscheidung leicht, die ganze Gruppe 5 8 10 12 Walther abzusprechen. Zusammen mit der sicher noch jüngeren Zudichtung Strophe 3 (die hier weggelassen ist) und der Überlieferung der Melodie zeigen sie die Beliebtheit des Palästinaliedes. Eine Hs. stellt die letzte echte Strophe 11 als zweite. Das lässt sich als Einfluss mündlicher Überlieferung erklären, wenn bei allgemeinem Gesang nur die erste und letzte Strophe eines Liedes gesungen wurden.[3]
Rezeption
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Durch Neuinterpretationen wie z. B. von Annwn, Ougenweide, Bärengässlin, Eisenfunk, Corvus Corax, Saltatio Mortis, In Extremo, Qntal, Heimatærde, Estampie, van Langen, Michael Völkel, Unto Ashes und Darbietungen auf vielen Mittelalterfesten hat das Lied in den letzten Jahren eine Renaissance erfahren. Van Langen hat 2003 das Palästinalied-Projekt ins Leben gerufen. Auf der CD „Palästinalied“ sind 20 Bands vertreten (unter anderem Corvus Corax, Die Streuner, D’Arcadia und weitere). Durch dieses Projekt wird das Hadassah-Krankenhaus in Israel unterstützt. Die Spendengelder wurden am 24. Mai 2008 auf der Clingenburg im Rahmen des Minnesängerwettstreits übergeben.
Eine Version des ungarischen Musikers und Historikers Arany Zoltán bewegt sich im Bereich der historischen Aufführungspraxis.[4]
Literatur
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Maßgebliche Textausgabe
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Walther von der Vogelweide. Leich, Lieder, Sangsprüche. 15., veränderte und um Fassungseditionen erweiterte Auflage der Ausgabe Karl Lachmanns. Aufgrund der 14., von Christoph Cormeau bearbeiteten Ausgabe neu herausgegeben, mit Erschließungshilfen und textkritischen Kommentaren versehen von Thomas Bein. Edition der Melodien von Horst Brunner. de Gruyter, Berlin/Boston 2013, ISBN 978-3-11-017657-5, e-ISBN 978-3-11-029558-0, S. 31–50 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
Quelle für die Übersetzung und Worterklärungen
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Hermann Reichert: Walther von der Vogelweide für Anfänger. 3., überarbeitete Auflage. facultas.wuv, Wien 2009, ISBN 978-3-7089-0548-8.
Forschungsliteratur
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Christopher R. Clason: Walther von der Vogelweide and the Middle East: “Holy Land” and the Heathen. In: Albrecht Classen (Hrsg.): East Meets West in the Middle Ages and Early Modern Times. de Gruyter, Berlin 2013, ISBN 978-3-11-032878-3, S. 389–426, doi:10.1515/9783110321517.389 (abgerufen über De Gruyter Online).
- Meinolf Schumacher: Die Konstituierung des „Heiligen Landes“ durch die Literatur. Walthers „Palästinalied“ und die Funktion der europäischen Kreuzzugsdichtung. In: Klaus-Michael Bogdal (Hrsg.): Orientdiskurse in der deutschen Literatur. Aisthesis, Bielefeld 2007, ISBN 978-3-89528-555-4, S. 11–30 (Digitalisat; PDF; 432 kB).
Weblinks
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Einzelnachweise
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- ↑ Wilhelm-Horst Brunner: Walthers von der Vogelweide Palästinalied als Kontrafaktur. In: Zeitschrift für Deutsches Altertum. Band 92, 1963, S. 195–211, JSTOR:20655120.
- ↑ Horst Brunner, Ulrich Müller, Franz Viktor Spechtler (Hrsg.): Walther von der Vogelweide. Die gesamte Überlieferung der Texte und Melodien (= Litterae. 7). Göppingen 1977, ISBN 3-87452-136-2, S. 54*–56* und S. 82*–84* (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
- ↑ Reichert 2009, S. 246.
- ↑ Medieval music – Walther von der Vogelweide : Palästinalied by Arany Zoltán auf YouTube