Vernichtungslager
Karte des heutigen Polen (2008) |
Als Vernichtungslager bezeichnet man eine bestimmte Gruppe der deutschen Konzentrationslager, die in der Zeit des Nationalsozialismus von Organen des NS-Staats im deutsch besetzten Polen und in Weißrussland speziell für Massenmorde an europäischen Juden, Angehörigen der europäischen Roma-Minderheit sowie anderer Bevölkerungsgruppen errichtet wurden. Von ihrer Errichtung bis zu ihrer Beseitigung oder Befreiung im Zuge des Vorrückens der Roten Armee 1944/45 wurden in den großen Vernichtungslagern weit über drei Millionen Menschen durch Vergasung in Gaskammern industriell ermordet oder massenhaft erschossen. Neben den ebenfalls praktizierten Massenerschießungen in den von der deutschen Wehrmacht und verbündeten Staaten besetzten Gebieten geschah ein Großteil des Holocaust und Porajmos in den Vernichtungslagern.
Unterscheidung von anderen Konzentrationslagern
Konzentrations- und Vernichtungslager der NS-Diktatur stehen in einem unterschiedlichen zeitlichen Rahmen. Bereits ab 1933 begann das NS-Regime mit der Einrichtung von Konzentrationslagern (siehe: Liste der Konzentrationslager des Deutschen Reichs). Die Vernichtungslager mit fabrikmäßiger Ermordung von Menschen in Gaskammern wurden ab Frühjahr 1942 betrieben; im Vernichtungslager Kulmhof wurden Juden schon ab Dezember 1941 in dort stationierten Gaswagen ermordet.
Im Gegensatz zu anderen Konzentrationslagern, wo Inhaftierte durch Krankheit und Unterernährung sowie übermäßige Arbeit starben (siehe „Vernichtung durch Arbeit“), dienten Vernichtungslager einzig der sofortigen Ermordung der Deportierten, die mittels Eisenbahnzügen in das Lager gebracht wurden.
Nachdem ein Transportzug im Lager angekommen war, wurden die Angekommenen meistens ungeachtet von Alter, Geschlecht oder Arbeitsfähigkeit vergast. Aus manchen Transporten wurde eine geringe Anzahl arbeitsfähiger Menschen zurückgehalten, die für die Aufrechterhaltung der Funktion des Lagers in der Küche, als Totengräber, Leichenverbrenner und in Sortier- und Reparaturwerkstätten benötigt wurden.
Aus der Existenz von Konzentrationslagern machten die Nationalsozialisten keinen Hehl, dienten sie doch der Abschreckung oder vorgeblichen Umerziehung. Vernichtungslager hingegen unterlagen strengster Geheimhaltung. Zur Tarnung wurde die Massentötung sogar im internen Schriftverkehr nur als „Sonderbehandlung“, „Säuberung“, „Umsiedlung“ oder „Evakuierung“ bezeichnet. In der Zeit des Nationalsozialismus wurden auch Vernichtungslager von der SS wie andere Lager nur Konzentrationslager genannt. Auch ihre internen Organisationsstrukturen waren identisch (Inspektion der Konzentrationslager). Die Benennung von Lagern als Vernichtungslager geschah später in Strafprozessen und in der Geschichtswissenschaft und dient der Beschreibung der Bestimmung. Um den untrennbaren Zusammenhang dieser speziellen Lager mit der Endlösung der Judenfrage hervorzuheben, wird dafür bereits seit mehreren Jahren der Begriff Vernichtungslager verwendet.
Übersicht
Konzentrationslager des SS-WVHA
Die Konzentrationslager, die von der Inspektion der Konzentrationslager gegründet wurden und zumeist bis Kriegsende Bestand hatten, sind im engeren Sinn gemeint, wenn von „Konzentrationslager“ die Rede ist. Nach einem Befehl Himmlers durften nur solche Lager offiziell als Konzentrationslager (KL) bezeichnet werden, die der Inspektion der Konzentrationslager (später dem SS-Wirtschafts- und Verwaltungshauptamt (WVHA)) unterstellt waren. Bei den 1941/42 neu gebauten Lagern (KZ Auschwitz-Birkenau und KZ Majdanek/Lublin) kam von Beginn an die massenhafte „Vernichtung (Endlösung)“ der als Feinde des Nationalsozialismus betrachteten Minderheiten wie der Bürger jüdischen Glaubens oder der Roma-Minderheit oder von Militärangehörigen hinzu. Die beiden Vernichtungslager in der Hierarchie des SS-WVHA werden deshalb in dieser Tabelle separat genannt.
Name/Bezeichnung | Standort (heutiges Land) | Typ | Inbetriebnahme | Schließung/Befreiung | Geschätzte Anzahl der Toten |
---|---|---|---|---|---|
Auschwitz-Birkenau, auch Auschwitz II | Polen | Konzentrations-, Kriegsgefangenen-, Vernichtungslager | Oktober 1941 | Januar 1945 | ca. 1.100.000 |
Majdanek (auch KL Lublin) | Polen | Konzentrations-, Vernichtungslager | Juli 1941 | Juli 1944 | 78.000 |
Vernichtungslager der Aktion Reinhardt
Die hier aufgeführten Vernichtungslager wurden im Rahmen der so genannten Aktion Reinhardt gegründet. Diese Lager befanden sich auf dem Gebiet des Generalgouvernements Polen und des besetzten Weißrusslands und wurden formal in der Verantwortung des jeweiligen Höheren SS- und Polizeiführer (HSSPF) betrieben.
Name/Bezeichnung | Standort (heutiges Land) | Inbetriebnahme | Schließung/Befreiung | Geschätzte Anzahl der Toten |
---|---|---|---|---|
Belzec | Polen | März 1942 | Dezember 1942 | 434.508 |
Sobibor | Polen | Mai 1942 | Oktober 1943 | 150.000–250.000 |
Treblinka | Polen | Juli 1942 | November 1943 | mindestens 900.000[1] |
Entstehung
Zwischen Ende 1941 und Juli 1942 wurden sechs große Vernichtungslager in den im Osten von der Wehrmacht eroberten Gebieten „in Betrieb“ genommen. Sie entstanden nach der Wannseekonferenz mit dem Ziel, die bereits im großen Maßstab durchgeführte massenhafte Ermordung von Juden und anderen „Fremdrassigen“ sowie von als potentiellen Gegnern der NS-Herrschaft identifizierten Personen in den eroberten Gebieten Osteuropas zu „rationalisieren“ (die Durchführung quasi industriell zu erleichtern und zu beschleunigen).
Insbesondere sollten die mit den zuvor – hauptsächlich durch die Einsatzgruppen der SS und des SD – praktizierten Erschießungen verbundenen „Probleme“ vermieden werden:
- unvollständige Beseitigung der Leichen bzw. Zurückbleiben von identifizierbaren Massengräbern und einer daraus folgenden schwierigen Bestimmbarkeit von Opferzahlen
- Möglichkeit des Bruchs der Geheimhaltung durch zufällige Zeugen, Mittäter/Mitwisser aus anderen Einheiten, Flucht einzelner Opfer
- psychische Belastung der Täter durch Tötungsmethoden wie Erschießen, bei denen unmittelbarer Kontakt zum Opfer bestand
Ziel der Vernichtungslager war demzufolge die vollständige physische Vernichtung der Opfer inklusive aller sterblichen Überreste sowie die Isolierung und Abschirmung gegenüber der Gesellschaft und den nicht unmittelbar zugeordneten Teilen von Armee und Verwaltung.
Ein wichtiges Merkmal war die Anbindung der Lager an das Schienennetz der Reichsbahn bzw. der Nachbarländer, damit sollte die Zuführung vorher zusammengestellter „Transporte“ und somit eine planmäßige und wirtschaftlich rationalisierte Massentötung – mithin die von den Nationalsozialisten als „Endlösung“ bezeichnete Ausrottung der europäischen Juden – ermöglicht werden.
Als Vernichtungslager wurden 1941/42 folgende acht Einrichtungen des Massenmordes an den europäischen Juden in Betrieb genommen:
Auf damaligem Reichsgebiet (1939 annektiert; heute Polen)
(Diese 1939 besetzten und annektierten Reichsgebiete gehörten damals und heute Polen)
- 1. Chelmno (dt. Kulmhof, im Landkreis Warthbrücken (Koło) im Reichsgau Wartheland – ab 8. Dezember 1941),
- 3. Auschwitz-Birkenau (im durch die Besatzer errichteten Landkreis Bielitz (Bielsko) in Ost-Oberschlesien – wahrscheinlich ab 30. April 1942, spätestens ab Anfang Mai). Auschwitz war als gesamter Lagerkomplex in Teilen gleichzeitig auch Arbeits- und Konzentrationslager.
Auf dem Gebiet des Generalgouvernements (Polen)
(Das Generalgouvernement waren überwiegend 1939 besetzte Teile von Polen)
- 2. Belzec (in der Kreishauptmannschaft Zamość im Distrikt Lublin, Generalgouvernement – ab 17. März 1942)
- 4. Sobibor (in der Kreishauptmannschaft Cholm im Distrikt Lublin, Generalgouvernement – spätestens ab 6. Mai 1942)
- 5. Treblinka (in der Kreishauptmannschaft Sokolow im Distrikt Warschau, Generalgouvernement – ab 22. Juli 1942)
- 6. Majdanek (in der Kreishauptmannschaft Lublin im Distrikt Lublin, Generalgouvernement – ab 14. September 1942)
Im Bezirk des Reichskommissariats Ostland (heute Weißrussland)
Die folgenden Lager, die sich im weißrussischen Gebiet des von Deutschland auf sowjetischem Boden errichteten Reichskommissariats Ostland befanden, werden in der internationalen Holocaustforschung meist (noch) nicht mit zu den Vernichtungslagern gezählt. Einzelheiten wurden erst spät bekannt; die Opfer wurden meist erschossen und die Opferzahlen sind deutlich geringer – siehe dazu die Einzelartikel.
Name/Bezeichnung | Standort (heutiges Land) | Inbetriebnahme | Schließung/Befreiung | Geschätzte Anzahl der Toten |
---|---|---|---|---|
Bronnaja Gora (Breszkaja Woblasz) | Weißrussland | 1942 (Deportationszüge ab Juni 1942 nachgewiesen) | März 1944 | mehr als 50.000 |
Maly Trostinez (bei Minsk) | Weißrussland | Mai 1942 | Juli 1944 | 40.000–60.000 |
Tötungstechniken
In den Vernichtungslagern wurden drei unterschiedlich technisierte Formen des Massenmordes betrieben:
- In Belzec, Sobibor und Treblinka, den Lagern der Aktion Reinhardt im Generalgouvernement, wurden die Menschen durch das Einführen von Benzinmotorabgasen in Gaskammern getötet.[2]
- In Auschwitz-Birkenau, das zugleich auch Konzentrationslager war, wurden die Vergasungen mit Hilfe von Blausäuregas (Zyklon B) vorgenommen. Es wurden auch Erschießungen durchgeführt.
- In Majdanek, das zugleich auch Konzentrationslager war, wurden überwiegend Erschießungen durchgeführt; zudem wurden Vergasungen mit Hilfe von Kohlenstoffmonoxid aus Gasflaschen sowie später auch mit Blausäuregas (Zyklon B) vorgenommen.[3]
- In Chelmno wurden drei dort stationierte Gaswagen mit Benzinmotoren eingesetzt; eine Gaskammer gab es dort nicht.[4]
- In Maly Trostinez wurden die Opfer größtenteils erschossen; außerdem wurden dort Gaswagen eingesetzt.
- In Bronnaja Gora wurden die Opfer erschossen.
- Nicht mehr Gehfähige, also überwiegend sehr Alte, Kranke und Sterbende, wurden in den Reinhardt-Lagern zumeist erschossen.
Organisation und Instanzen
Mit der Durchführung der Endlösung der Judenfrage in den Vernichtungslagern waren ab Herbst 1941 drei verschiedene zentrale nationalsozialistische Instanzen, das Reichssicherheitshauptamt, die Kanzlei des Führers, das SS-Wirtschafts- und Verwaltungshauptamt, beauftragt:
- Chelmno und Maly Trostinez unterstanden dem Polizeiapparat des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) beziehungsweise den nachgeordneten Dienststellen des Inspekteurs der Sicherheitspolizei und des SD in Posen (Wartheland) und des Kommandeurs der Sicherheitspolizei und des SD in Minsk (Weißrussland).
- Belzec, Sobibor und Treblinka unterstanden als Lager der Aktion Reinhardt Hitlers Privatkanzlei, der Kanzlei des Führers unter Reichsleiter Philipp Bouhler. Diese Kanzlei war auch hauptverantwortlich für die Aktion T4, den Massenmord an Behinderten und Kranken in der sogenannten „Euthanasie“. Bei der Durchführung der Aktion Reinhardt im Generalgouvernement bediente sich die Kanzlei des Führers der Unterstützung des SS- und Polizeiführers im Distrikt Lublin, SS-Brigadeführer und Generalmajor der Polizei Odilo Globocnik, der wiederum dem Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei, Heinrich Himmler, persönlich unterstellt war.
- Auschwitz-Birkenau und Majdanek (genauer: KZ Lublin) unterstanden, wie die meisten Konzentrationslager, dem SS-Wirtschafts- und Verwaltungshauptamt (WVHA) unter Oswald Pohl und dort dem Inspekteur der Konzentrationslager Richard Glücks.
Information und Konfrontation im Nachkriegsdeutschland
Dieses Kapitel ist übernommen aus dem Artikel Konzentrationslager.
Nach der Befreiung der KZ-Gefangenen und deren medizinischer Versorgung sahen die Alliierten die Notwendigkeit, die deutsche Bevölkerung mit den unter ihren Augen begangenen Verbrechen zu konfrontieren. In den Konzentrationslagern wurden die unglaublichen Verbrechen sichtbar – auch für Menschen, die nicht bereits Augenzeugen der Verbrechen gewesen waren. Die örtliche Bevölkerung aus der Nachbarschaft der KZs wurde gezwungen, Lagerteile und Leichen der dort Ermordeten anzusehen. Sie wurde mehrfach gezwungen, Tote in würdigen Gräbern zu bestatten. Dabei ging es um unbestattete Leichen oder Umbettungen von Leichen aus Massengräbern. Es wurden mehrfach Filmdokumentationen und Fotobände für Vorführungen im besetzten Deutschland und Österreich hergestellt (erstes Beispiel ist der Film Die Todesmühlen (Death Mills)). Er setzt sich überwiegend aus Filmmaterial zusammen, das in kurz zuvor befreiten KZs gedreht wurde – unter anderem in Auschwitz-Birkenau, Majdanek, Treblinka, Bergen-Belsen. Der Film ist nur mit ernster klassischer Musik unterlegt und hat keine Rahmenhandlung. Er geht auch auf die wirtschaftliche Ausbeutung der Häftlinge ein. Die Dokumentationen wurden zum Teil auch als Beweismittel für allfällige Gerichtsverfahren gegen Beteiligte, z. B. in den Nürnberger Prozessen oder im Frankfurter Auschwitzprozess erstellt.
Siehe auch
- Sonderkommando KZ Auschwitz-Birkenau
- Sonderkommando 1005
- Konzentrationslager Jasenovac (Vernichtungslager im Unabhängigen Staat Kroatien (NDH) von 1941 bis 1945)
Literatur
- Adalbert Rückerl (Hrsg.): Nationalsozialistische Vernichtungslager im Spiegel deutscher Strafprozesse. Belzec, Sobibor, Treblinka, Chelmno. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1977, ISBN 3-423-02904-8.
- Yitzhak Arad: Belzec, Sobibor, Treblinka. The Operation Reinhard Death Camps. Bloomington and Indianapolis 1987 (Indiana University Press), ISBN 0-253-34293-7.
- Konnilyn G. Feig: Hitler's Death Camps: The Sanity of Madness. Holmes & Meier Publishers Incorporated, Neuausgabe 181, ISBN 0-8419-0676-9 (englisch).
- Hans Buchheim, Martin Broszat, Hans-Adolf Jacobsen: Anatomie des SS-Staates. Dtv; (1. Auflage 1965) 8. Auflage 2005, ISBN 3-423-30145-7 (darin: Martin Broszat, Die Konzentrationslager 1933-1945).
- Eugen Kogon: Der SS-Staat. Das System der deutschen Konzentrationslager. Alber, München 1946 (zuletzt: Heyne, München 2004, ISBN 3-453-02978-X).
- Eugen Kogon: The Theory and Practice of Hell: The German Concentration Camps and the System Behind Them. Octagon Books, 1972, ISBN 0-374-94610-8 (englisch).
Weblinks
- Auschwitz: „Fotografische Fragmente“
- „Vernichtungslager“ auf deathcamps
- Linkkatalog zum Thema Konzentrations- und Vernichtungslager bei curlie.org (ehemals DMOZ)
- Fritz Bauer Institut: Tonbandmitschnitt des 1. Frankfurter Auschwitz-Prozesses
Einzelbelege, Zitatnachweise
- ↑ Thomas Sandkühler: Die Täter des Holocaust, in: Karl Heinrich Pohl, Wehrmacht und Vernichtungspolitik, Göttingen 1999, S. 47
- ↑ Eugen Kogon et al. (Hrsg.): Nationalsozialistische Massentötungen durch Giftgas: Eine Dokumentation. Frankfurt/M 1983, ISBN 3-10-040402-5, S. 151–163 / Dieter Pohl: Massentötungen durch Giftgas im Rahmen der ‚Aktion Reinhardt‘. In: Günther Morsch, Bertrand Perz: Neue Studien zu nationalsozialistischen Massentötungen durch Giftgas. Berlin 2011, ISBN 978-3-940938-99-2, S. 185–195 / Dieter Pohl: Massentötungen durch Giftgas im Rahmen der ‚Aktion Reinhardt‘. In: Günther Morsch, Bertrand Perz: Neue Studien zu nationalsozialistischen Massentötungen durch Giftgas. Berlin 2011, ISBN 978-3-940938-99-2, S. 185–195.
- ↑ Tomasz Kranz: Das KZ Lublin – zwischen Planung und Realisierung. In: Ulrich Herbert, Karin Orth, Christoph Dieckmann: Die nationalsozialistischen Konzentrationslager. FiTb, Frankfurt 1998, ISBN 3-596-15516-9, S. 379
- ↑ Eugen Kogon et al. (Hrsg.): Nationalsozialistische Massentötungen durch Giftgas …, S. 110–145