O’Neill-Zylinder

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
(Weitergeleitet von O'Neill-Zylinder)
Zur Navigation springen Zur Suche springen
NASA-Illustration zweier O’Neill-Zylinder

Der O’Neill-Zylinder (auch O’Neill-Kolonie genannt) ist ein Weltraumsiedlungskonzept, das der US-amerikanische Physiker Gerard K. O’Neill in seinem 1976 erschienenen Buch The High Frontier: Human Colonies in Space vorschlug.[1] O’Neills sah die Weltraumkolonisierung für das 21. Jahrhundert vor, wobei Materialien verwendet werden sollten, die vom Mond und später von Asteroiden gewonnen würden.[2] Ein O’Neill-Zylinder würde aus zwei gegenläufig rotierenden Zylindern bestehen. Die Zylinder würden in entgegengesetzte Richtungen rotieren, um alle gyroskopischen Effekte auszugleichen, die es sonst schwierig machen würden, sie auf die Sonne auszurichten. Jeder Zylinder hätte einen Durchmesser von 8 km und eine Länge von 32 km und wäre an jedem Ende durch eine Stange über ein Lagersystem verbunden. Sie würden sich so drehen, dass sie durch die Zentrifugalkraft an ihren Innenflächen eine künstliche Schwerkraft erzeugen.[1]

Innenansicht mit Landschaften und großen Fensterstreifen

Hintergrund[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Künstlerische Darstellung des Inneren eines O’Neill-Zylinders, die die Krümmung der Innenfläche zeigt

Während er an der Princeton University Physik unterrichtete, stellte O’Neill seinen Studenten die Aufgabe, große Strukturen im Weltraum zu entwerfen, mit der Absicht zu zeigen, dass ein Leben im Weltraum wünschenswert sein könnte. Mehrere der Entwürfe waren in der Lage, Volumina zu schaffen, die groß genug waren, um für menschliche Besiedlung geeignet zu sein. Dieses kooperative Ergebnis inspirierte die Idee des Zylinders und wurde von O’Neill erstmals in einem Artikel in Physics Today vom September 1974 veröffentlicht.[3]

Das Projekt von O’Neill war nicht das erste Beispiel für dieses Konzept. Bereits 1954 beschrieb der deutsche Wissenschaftler Hermann Oberth in seinem Buch Menschen im Weltraum – Neue Projekte für Raketen- und Raumfahrt eine vergleichbare Struktur. 1970 schlug der Science-Fiction-Schriftsteller Larry Niven in seinem Roman Ringworld ein ähnliches, aber größer angelegtes Konzept vor. Kurz bevor O’Neill seinen Zylinder vorschlug, verwendete Arthur C. Clarke einen solchen Zylinder (wenn auch von außerirdischer Bauart) in seinem Roman Rendezvous mit 31/439 (englisch Rendezvous with Rama).

Insel[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

O’Neill schuf drei Referenzdesigns, die den Namen „Islands“ erhielten:

  • Island One ist eine rotierende Kugel mit einem Umfang von 1600 m und einem Durchmesser von ca. 510 m, auf der Menschen in der Äquatorialregion leben (siehe Bernal-Sphäre). Eine spätere NASA/Ames-Studie an der Stanford University entwickelte eine alternative Version von Island One: den Stanford-Torus, eine toroidale Form mit einem Durchmesser von ca. 490 m.[4]
  • Island Two ist kugelförmig und hat einen Durchmesser von 1600 m.
  • Das Island Three Design, besser bekannt als die O’Neill-Zylinder, besteht aus zwei gegenläufigen Zylindern. Sie haben einen Durchmesser von 8 km und können auf bis zu 32 km Länge skaliert werden.[5] Jeder Zylinder hat sechs flächengleiche Streifen, die über die Länge des Zylinders verlaufen; drei sind transparente Fenster, drei sind bewohnbare “Land”-Flächen. Darüber hinaus rotiert ein äußerer landwirtschaftlicher Ring mit einem Durchmesser von 32 km in einer anderen Geschwindigkeit, um die Landwirtschaft zu unterstützen. Der industrielle Fertigungsblock des Habitats befindet sich in der Mitte, um eine minimierte Schwerkraft für einige Fertigungsprozesse zu ermöglichen.

Um die immensen Kosten für den Transport der Materialien von der Erde mittels Raketen zu sparen, würden diese Habitate mit Materialien gebaut werden, die mit einem magnetischen Massentreiber vom Mond ins All geschossen werden.[1]

Design[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Künstliche Schwerkraft[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Ein NASA-Mondbasis-Konzept mit einem Massentreiber (die lange Struktur, die sich zum Horizont hin erstreckt und Teil des Plans zum Bau von O’Neill-Zylindern ist)

Die Zylinder rotieren, um eine künstliche Schwerkraft auf ihrer inneren Oberfläche zu erzeugen. Bei dem von O’Neill beschriebenen Radius müssten sich die Habitate etwa achtundzwanzig Mal pro Stunde drehen, um eine Standard-Erdgravitation zu simulieren; eine Winkelgeschwindigkeit von 2,8 Grad pro Sekunde. Forschungen zu menschlichen Faktoren in rotierenden Bezugssystemen zeigen, dass bei solch geringen Rotationsgeschwindigkeiten nur wenige Menschen aufgrund der auf das Innenohr wirkenden Corioliskräfte seekrank werden würden.[6][7][8][9][10] Die Menschen wären jedoch in der Lage, durch Drehen des Kopfes die Richtungen von Spin und Antispin zu erkennen, und heruntergefallene Gegenstände würden scheinbar um einige Zentimeter abgelenkt.[9] Die zentrale Achse des Habitats wäre eine Null-Schwerkraft-Region und es war vorgesehen, dass dort Erholungseinrichtungen untergebracht werden könnten.

Atmosphäre und Strahlung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Künstlerische Darstellung des Inneren eines O’Neill-Zylinders, beleuchtet durch reflektiertes Sonnenlicht

Das Habitat sollte Sauerstoff mit einem Partialdruck enthalten, der in etwa dem der irdischen Luft entspricht, d. h. 20 % des Luftdrucks der Erde auf Meereshöhe. Stickstoff würde ebenfalls enthalten sein, um weitere 30 % des Erdluftdrucks hinzuzufügen. Diese Halbdruckatmosphäre würde Gas sparen und damit die erforderliche Festigkeit und Dicke der Habitatwände reduzieren.[1][4]

Bei diesem Maßstab bieten die Luft innerhalb des Zylinders und der Mantel des Zylinders eine ausreichende Abschirmung gegen die kosmische Strahlungen.[1] Das innere Volumen eines O’Neill-Zylinders ist groß genug, um seine eigenen kleinen Wettersysteme zu unterstützen, die durch Veränderung der inneren atmosphärischen Zusammensetzung oder der Menge des reflektierten Sonnenlichts manipuliert werden können.[5]

Sonnenlicht[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

An der Rückseite jedes Fensterstreifens sind große Spiegel angebracht, wobei die Kanten der Fenster zur Sonne zeigen. Der Zweck der Spiegel ist es, das Sonnenlicht durch die Fenster in die Zylinder zu reflektieren. Die Nacht wird simuliert, indem die Spiegel geöffnet werden und das Fenster den Blick auf den leeren Raum freigibt; dadurch kann auch Wärme in den Raum abgestrahlt werden. Tagsüber scheint sich die reflektierte Sonne mit der Bewegung der Spiegel zu bewegen, wodurch ein natürlicher Verlauf des Sonnenwinkels entsteht. Das von den Spiegeln reflektierte Licht ist polarisiert, was bestäubende Bienen verwirren kann.[1]

Damit Licht in das Habitat eindringen kann, verlaufen große Fenster über die gesamte Länge des Zylinders. Diese würden nicht aus einzelnen Scheiben bestehen, sondern aus vielen kleinen Abschnitten, um katastrophale Schäden zu vermeiden – so können die Fensterrahmen aus Aluminium oder Stahl den meisten Belastungen durch den Luftdruck des Habitats standhalten. Gelegentlich könnte ein Meteoroid eine dieser Scheiben zerbrechen. Dies würde einen gewissen Verlust der Atmosphäre verursachen, aber Berechnungen zeigen, dass dies aufgrund des sehr großen Volumens des Habitats keinen Notfall auslösen würde.[1]

Lagekontrolle[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Das Habitat und seine Spiegel müssen ständig auf die Sonne ausgerichtet sein, um Sonnenenergie zu sammeln und das Innere des Habitats zu beleuchten. O’Neill und seine Studenten hatten sorgfältig eine Methode ausgearbeitet, um die Kolonie kontinuierlich um 360° pro Umlaufbahn zu drehen, ohne Raketen zu verwenden (die Reaktionsmasse abwerfen würden).[1]

Zunächst kann das Habitatpaar gerollt werden, indem die Zylinder als Reaktionsräder betrieben werden. Wenn die Rotation des einen Habitats leicht abweicht, drehen sich die beiden Zylinder umeinander. Sobald die Ebene, die durch die beiden Drehachsen gebildet wird, in der Rollachse senkrecht zur Umlaufbahn steht, kann das Zylinderpaar durch Ausüben einer Kraft zwischen den beiden sonnenzugewandten Lagern so ausgerichtet werden, dass es auf die Sonne zielt. Wenn man die Zylinder voneinander wegschiebt, werden beide Zylinder gyroskopisch präzessiert, und das System giert in die eine Richtung, während man sie aufeinander zu schiebt, was ein Gieren in die andere Richtung bewirkt. Die gegenläufig rotierenden Habitate haben keinen gyroskopischen Nettoeffekt und so kann diese leichte Präzession während der gesamten Umlaufbahn des Habitats fortgesetzt werden, wodurch es auf die Sonne ausgerichtet bleibt. Dies ist eine neuartige Anwendung von Gefesselten Kreiseln.

Design-Update und Derivate[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Im Jahr 2014 wurde eine neue Konstruktionsmethode vorgeschlagen, bei der eine übergroße Blase aufgeblasen und mit einer Spule (aus Materialien eines Asteroiden), ähnlich wie bei der Konstruktion eines ummantelten Druckbehälters (englisch Composite Overwrapped Pressure Vessel (COPV)) aus Verbundwerkstoffen umwickelt wird.[11]

In den Jahren 1990 und 2007 wurde ein kleineres Designderivat, bekannt als Kalpana One, vorgestellt, das den Taumeleffekt eines rotierenden Zylinders durch Vergrößerung des Durchmessers und Verkürzung der Länge angeht. Die logistischen Herausforderungen der Strahlungsabschirmung werden durch den Bau der Station in einer niedrigen Erdumlaufbahn und das Entfernen der Fenster bewältigt.[12]

Vorhaben[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Auf einer Blue-Origin-Veranstaltung in Washington am 9. Mai 2019 schlug Jeff Bezos den Bau von O’Neill-Kolonien vor, anstatt andere Planeten zu besiedeln.[13]

Darstellungen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

In der Fiktion[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • In Ringworld von Larry Niven (1970)
  • In Babylon 5 ein fiktiver O’Neill cylinder (1993 bis 1998)
  • Im Roman 2312 – der die Verwendung von O’Neill-Zylindern in ausgehöhlten Asteroiden namens „Terraria“ zum Inhalt hat. (2012)
  • In der Anime-Serie Mobile Suit Gundam die in der Zukunft, wo O’Neill-Zylinder die primären menschlichen Kolonien im Weltraum sind, spielt. (1979–1980)
  • Im Grafik-Hard Science-Fiction-Abenteuer-Spiel Policenauts. (1994)
  • Als Raumschiff im Science-Fiction-Roman Rendezvous mit 31/439 (englisch Rendezvous with Rama). (1973)
  • Im Science-Fiction-Film Interstellar die Cooper-Station. (2014)
  • Im Computerspiel Vanquish. (2010)
  • Im Action-Rollenspiel Mass Effect. (2007)
  • In der TV-Serie The Expanse ist die Nauvoo/Behemoth ein rotierender Zylinder mit Triebwerken, aber ohne Strahlungsabschirmung (Interstellares Schiff).
  • In Heaven’s River, Bobiverse-Serie, Buch 4 von Dennis E. Taylor (2020)

Siehe auch[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • T. A. Heppenheimer: Colonies in Space. Hrsg.: National Space Society. Stackpole Books, Harrisburg 1977, ISBN 0-8117-0397-5, S. 240 (englisch, archive.org – Leseprobe).

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. a b c d e f g h Gerard K. O’Neill: The High Frontier: Human Colonies in Space. William Morrow & Company, New York 1977, ISBN 0-688-03133-1 (englisch).
  2. J. Billingham, W. P. Gilbreath, B. Oleary, B. Gosset: Space Resources and Space Settlements (1977 Summer Study at NASA Ames Research Center). Hrsg.: NASA. NASA-SP-428. Moffett Field, CA 1. Januar 1979, S. 1–300 (englisch, nasa.gov [abgerufen am 11. Februar 2021]).
  3. Gerard K. O’Neill: The Colonization of Space. In: Physics Today. Band 27, Nr. 9, 1974, S. 32–40, doi:10.1063/1.3128863, bibcode:1974PhT....27i..32O (englisch).
  4. a b Richard D. Johnson, Charles Holbrow: Space Settlements: A Design Study. nss.org, archiviert vom Original am 14. Juni 2012; abgerufen am 25. Januar 2021 (englisch).
  5. a b O’Neill Cylinder Space Settlement. In: National Space Society. Abgerufen am 11. Februar 2021 (englisch).
  6. G. T. Beauchamp: Adverse Effects Due to Space Vehicle Rotation. In: Astronautical Sciences Review. Band 3, Nr. 4, 1961, S. 9–11 (englisch).
  7. Symposium on the Role of the Vestibular Organs in the Exploration of Space, U.S. Naval Scholl of Aviation Medicine, Pensacol, Florida, Jan. 21–22, NASA SP-77, 1965 Allen B. Thompson: Physiological Design Criteria for Artificial Gravity Environments in Manned Space Systems in der Google-Buchsuche-USA
  8. B. D. Newsom: Habitability factors in a rotating space station. In: Space Life Sciences. Band 3, Nr. 3, Juli 1972, S. 192–197, doi:10.1007/BF00928163, bibcode:1972SLSci...3..192N (englisch, astro.queensu.ca [PDF; abgerufen am 25. Januar 2021]). astro.queensu.ca (Memento des Originals vom 4. Oktober 2018 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.astro.queensu.ca
  9. a b Proceedings of the Fifth Symposium on the Role of Vestibular Organs in Space Exploration. Pensacola, Florida, 19–21. August 1970, NASA SP-314, 1973
  10. F. Altman: Some Aversive Effects of Centrifugally Generated Gravity. Hrsg.: Aerospace Medicine. Band 44, 1973, S. 418–421 (englisch).
  11. 10.0 A Construction Scenario for O’Neill Cylinder Space Settlement Habitats. In: Third Tennessee Valley Interstellar Workshop, Nov 10-11, 2014, Oak Ridge, TN, Dr. Gordon Woodcock (Boeing/NSS). 21. Dezember 2014, abgerufen am 25. Januar 2021 (englisch).
  12. Al Globus, Nitin Arora, Ankur Bajoria, Joe Strout: Kalpana One Space Settlement. (PDF) 11. November 2020, S. 1-12, archiviert vom Original am 11. November 2020; abgerufen am 25. Januar 2021 (englisch).
  13. Matt Blitz, Darren Orf: Blue Origin Reveals the Blue Moon Lunar Lander. In: Popular Mechanics. 11. Juni 2019, abgerufen am 25. Januar 2021 (englisch).
  14. Peter A. Curreri: A minimized technological approach towards human self sufficiency off Earth (Space Technology and Applications International Forum (STAIF) Conference, NM, 11.–15. Februar 2007). Hrsg.: NASA. 11. Februar 2007, S. 1–7 (englisch, nasa.gov [PDF; abgerufen am 11. Februar 2021]).