„Halloween-Katastrophe in Seoul 2022“ – Versionsunterschied

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Experten wie Haghani, Galea, Drury oder Still hoben zudem hervor, dass ein solch inkorrekter Sprachgebrauch rechtliche Konsequenzen implementiere, irreführend sei und die Schuld an dem Unglück von den Organisatoren und Behörden auf die betroffenen Opfer in der Menschenmenge verschiebe.<ref name="channelnewsasia.com_2022-10-31_HMH" /><ref name="theguardian.com_2022-11-01_HDI">{{Internetquelle |autor=Samantha Lock |url=https://www.theguardian.com/world/2022/nov/01/how-do-crowd-crushes-happen-stampede-myth-what-happened-in-the-seoul-itaewon-halloween-crush |titel=Crowd crushes: how disasters like Itaewon happen, how can they be prevented, and the ‘stampede’ myth |titelerg=Crowd crushes are wholly preventable, predictable and avoidable, experts say. Here is what we can learn from the Halloween crowd crush in Seoul |werk=theguardian.com |datum=2022-11-01 |abruf=2022-11-02}}</ref> Haghani zufolge suggerierte der inkorrekte Sprachgebrauch fälschlicherweise, dass die in das Ereignis involvierten Menschen eine Art Fehl- oder regelwidriges Verhalten gezeigt hätten.<ref name="channelnewsasia.com_2022-10-31_HMH" /> Experten wie Still hoben hervor, der in den Medien verwendete Sprachgebrauch verkehre die Kausalität, da die Menschen bei solchen Ereignissen nicht sterben würden, weil sie in Panik geraten, sondern sie würden in Panik geraten, weil sie zu sterben beginnen.<ref name="theguardian.com_2022-11-01_HDI" /><ref name="channelnewsasia.com_2022-10-31_HMH" /><ref name="washingtonpost.com_2022-10-29_2022-10-30_HWC" /><ref name="nzz.ch_2022-11-04_HLH" />
Experten wie Haghani, Galea, Drury oder Still hoben zudem hervor, dass ein solch inkorrekter Sprachgebrauch rechtliche Konsequenzen implementiere, irreführend sei und die Schuld an dem Unglück von den Organisatoren und Behörden auf die betroffenen Opfer in der Menschenmenge verschiebe.<ref name="channelnewsasia.com_2022-10-31_HMH" /><ref name="theguardian.com_2022-11-01_HDI">{{Internetquelle |autor=Samantha Lock |url=https://www.theguardian.com/world/2022/nov/01/how-do-crowd-crushes-happen-stampede-myth-what-happened-in-the-seoul-itaewon-halloween-crush |titel=Crowd crushes: how disasters like Itaewon happen, how can they be prevented, and the ‘stampede’ myth |titelerg=Crowd crushes are wholly preventable, predictable and avoidable, experts say. Here is what we can learn from the Halloween crowd crush in Seoul |werk=theguardian.com |datum=2022-11-01 |abruf=2022-11-02}}</ref> Haghani zufolge suggerierte der inkorrekte Sprachgebrauch fälschlicherweise, dass die in das Ereignis involvierten Menschen eine Art Fehl- oder regelwidriges Verhalten gezeigt hätten.<ref name="channelnewsasia.com_2022-10-31_HMH" /> Experten wie Still hoben hervor, der in den Medien verwendete Sprachgebrauch verkehre die Kausalität, da die Menschen bei solchen Ereignissen nicht sterben würden, weil sie in Panik geraten, sondern sie würden in Panik geraten, weil sie zu sterben beginnen.<ref name="theguardian.com_2022-11-01_HDI" /><ref name="channelnewsasia.com_2022-10-31_HMH" /><ref name="washingtonpost.com_2022-10-29_2022-10-30_HWC" /><ref name="nzz.ch_2022-11-04_HLH" />


Nach Ansicht Haghanis war eine solch inkorrekte Bezeichnung entsprechender Ereignisse in der Vergangenheit eine der Ursachen dafür gewesen, dass aus vergleichbaren Ereignissen nicht die richtigen Lehren gezogen und bei der Organisation von Veranstaltungen keine ausreichenden Anstrengungen unternommen wurden, um die bestehenden Risiken zu minimieren. Der Vorfall in Itaewon hätte nach Ansicht Haghanis aufgrund dessen, dass vergleichbare Ereignisse der Vergangenheit bereits wissenschaftlich untersucht worden waren und man daraus hätte lernen müssen, verhindert werden sollen. So weise laut Haghani etwa das [[Unglück bei der Loveparade 2010]] die gleiche Charakteristik auf wie das Ereignis in Itaewon 2022, indem unter anderem bei beiden Ereignissen Zustrom und Dichte der betroffenen Menschenmenge nicht gesteuert und beobachtet worden seien.<ref name="channelnewsasia.com_2022-10-31_HMH">{{Internetquelle |autor=Jalelah Abu Baker |url=https://www.channelnewsasia.com/asia/seoul-crowd-crush-what-happened-what-do-3034321 |titel=Seoul crowd crush: How it may have happened and what to do in such a situation |titelerg=Preventing another tragedy like this involves monitoring and regulating the number of people in such spaces, and increasing education and awareness, said experts who spoke to CNA |werk=[[Channel NewsAsia|channelnewsasia.com]] (CNA) |datum=2022-10-31 |abruf=2022-11-02 |kommentar=Update vom 02. 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Videoanalysen zufolge sollen die Menschenmenge in bei der Halloweenfeier Itaewon 2022 im Epizentrum eine Dichte von rund zehn Personen pro Quadratmeter gehabt haben.<ref name="nzz.ch_2022-11-04_HLH">{{Internetquelle |autor=Corina Gall |url=https://www.nzz.ch/panorama/hillsborough-loveparade-die-halloween-nacht-in-suedkorea-wenn-die-panik-ausbricht-ist-das-gedraenge-bereits-toedlich-ld.1710515 |titel=Hillsborough, Loveparade, die Halloween-Party in Seoul: Wenn Panik ausbricht, ist das Gedränge bereits tödlich |titelerg=In einem Menschengedränge wirken ab einer gewissen Dichte Kräfte, gegen die Individuen kaum mehr ankämpfen können. Die richtigen Massnahmen können Leben retten |werk=nzz.ch |datum=2022-11-04 |abruf=2022-11-05}}</ref>
Nach Ansicht Haghanis war eine solch inkorrekte Bezeichnung entsprechender Ereignisse in der Vergangenheit eine der Ursachen dafür gewesen, dass aus vergleichbaren Ereignissen nicht die richtigen Lehren gezogen und bei der Organisation von Veranstaltungen keine ausreichenden Anstrengungen unternommen wurden, um die bestehenden Risiken zu minimieren. Der Vorfall in Itaewon hätte nach Ansicht Haghanis aufgrund dessen, dass vergleichbare Ereignisse der Vergangenheit bereits wissenschaftlich untersucht worden waren und man daraus hätte lernen müssen, verhindert werden sollen. So weise laut Haghani etwa das [[Unglück bei der Loveparade 2010]] die gleiche Charakteristik auf wie das Ereignis in Itaewon 2022, indem unter anderem bei beiden Ereignissen Zustrom und Dichte der betroffenen Menschenmenge nicht gesteuert und beobachtet worden seien.<ref name="channelnewsasia.com_2022-10-31_HMH">{{Internetquelle |autor=Jalelah Abu Baker |url=https://www.channelnewsasia.com/asia/seoul-crowd-crush-what-happened-what-do-3034321 |titel=Seoul crowd crush: How it may have happened and what to do in such a situation |titelerg=Preventing another tragedy like this involves monitoring and regulating the number of people in such spaces, and increasing education and awareness, said experts who spoke to CNA |werk=[[Channel NewsAsia|channelnewsasia.com]] (CNA) |datum=2022-10-31 |abruf=2022-11-02 |kommentar=Update vom 02. November 2022}} Vergleiche auch: {{Internetquelle |url=https://www.youtube.com/watch?v=LilUYv97a0U |titel=Why the Seoul crowd crush was not a stampede |werk=DW-TV Politik Direkt |hrsg=[[Channel NewsAsia|CNA]] |datum=2022-10-31 |abruf=2022-11-01 |format=[[YouTube]]-Video – 6:43min.}}</ref> Die Experten [[Anna Sieben]] ([[Universität St. Gallen]]) und [[Dirk Helbing]] ([[ETH Zürich]]) vertraten die Ansicht, bei dem Unglück auf der Loveparade 2010 und wahrscheinlich auch bei jenem in Itaewon 2022 habe es sich wahrscheinlich nicht um das Ergebnis einer „Massenpanik“ gehandelt, auch wenn man dies angesichts der Berichterstattung über die Situation vielleicht vermuten könnte.<ref name="dw.com_2022-11-02_SHS">{{Internetquelle |autor=Clare Roth |url=https://www.dw.com/en/the-science-of-human-stampedes/a-63617455 |titel=The science of human stampedes |titelerg=A stampede in a nightlife district in South Korea killed more than 150 people over the Halloween weekend. 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Anhand von Videoaufzeichnungen haben zwei Forscher der ETH Zürich jetzt rekonstruiert, wie es zu der Massentragödie kommen konnte |werk=nzz.ch |datum=2012-06-25 |abruf=2022-11-04}}</ref> Ber einer Dichte, die so gross ist, dass es zu unbeabsichtigten Körperkontakten kommt, werden laut Helbing Kräfte übertragen, die sich aufsummieren können. Es kann zu einer, von Helbing „Massenturbulenz“ (englisch: ''crowd turbulence'') oder „Massenbeben“ (englisch: ''crowd quake'') genannten, natürlichen Bewegung der Menschenmasse kommen, da die Menschen so eng aneinandergedrückt stehen, dass sie keine Kontrolle mehr über ihre Bewegungen haben und bei der der Sturz einer Person einen „Dominoeffekt“ auslösen kann, durch den Menschen sich übereinander aufhäufen können.<ref name="nzz.ch_2022-11-04_HLH" /><ref name="Helbing&Mukerji2012_EPJDS_1_7">{{Literatur |Autor=Dirk Helbing, Pratik Mukerji |Titel=Crowd disasters as systemic failures: analysis of the Love Parade disaster |Sammelwerk=EPJ Data Science |Band=1 |ArtikelNr=7 |Datum=2012 |DOI=10.1140/epjds7}}) Online veröffentlicht am 25. Juni 2012.</ref> Diese „Massenbeben“ sind nach Helbing und Mukerji (2012) eine typische Ursache für Massenunglücke (englisch: ''crowd disasters'') und müssen von Massenunglücken unterschieden werden, die aus ''mass panic'' oder ''crowd crushes'' resultieren.<ref name="Helbing&Mukerji2012_EPJDS_1_7" />


Der Experte [[Mehdi Moussaïd]] ([[Max-Planck-Institut für Bildungsforschung]]), der die Dichte der Menschenmenge bei dem Unglück in Itaewon anhand von öffentlich verfügbaren Videoaufnahmen auf acht bis zehn Menschen pro Quadratmeter schätzte, hob als Unterschied des Massengedränges in Itaewon zu Massengedrängen bei Musikfestivals oder [[Wallfahrt|religiösen Pilgerfahrten]] hervor, dass die Menschen „in einer Stadt sind und es sich nicht um eine geplante Veranstaltung mit Eintrittskarten handelt, die es ermöglichen, die Menge zu leiten und zu wissen, wie viele Menschen ankommen werden usw." Es sei daher in Itaewon nicht bekannt gewesen, auf welche Straße und in welche Richtung die Menschen gehen würden.<ref name="washingtonpost.com_2022-10-29_2022-10-30_HWC" /> Der Experte [[Toshihiro Kawaguchi]] ([[Kansai-Universität]]) beschrieb das Ereignis in Itaewon 2022 mit dem Begriff „crowd avalanche“ (deutsch etwa: „Menschenmassenlawine“) und verglich es mit dem [[Massengedränge auf einer Fußgängerbrücke in Akashi]] in der [[Präfektur Hyōgo|japanischen Präfektur Hyōgo]] im Jahr 2001, bei dem 11 Menschen zu Tode gekommen waren. Laut Kawaguchi tritt eine ''crowd avalanche'' typischerweise nach Erreichen einer Dichte von 10 oder mehr Menschen pro Quadratmeter auf, da umfallende Menschen bei diesem Schwellenwert keine Möglichkeit mehr haben, den Körpern anderer Menschen auszuweichen, die sich auf ihnen stapeln, so dass die unten liegenden unter dem großen Druck sterben können.<ref name="asahi.com_2022-10-31_NES">{{Internetquelle |autor=Susumu Sakamoto, Yoshihiro Makino |url=https://www.asahi.com/ajw/articles/14756538 |titel=Experts: No escape in Seoul from ‘crowd avalanche’ |werk=[[Asahi Shimbun|asahi.com]] |datum=2022-10-31 |abruf=2022-11-05}}</ref>
Laut Helbing besteht in einer Menschenansammlung ab einer Dichte von etwa fünf Personen erhebliche Gefahr. Videoanalysen zufolge sollen die Menschenmenge in bei der Halloweenfeier Itaewon 2022 im Epizentrum eine Dichte von rund zehn Personen pro Quadratmeter gehabt haben.<ref name="nzz.ch_2022-11-04_HLH">{{Internetquelle |autor=Corina Gall |url=https://www.nzz.ch/panorama/hillsborough-loveparade-die-halloween-nacht-in-suedkorea-wenn-die-panik-ausbricht-ist-das-gedraenge-bereits-toedlich-ld.1710515 |titel=Hillsborough, Loveparade, die Halloween-Party in Seoul: Wenn Panik ausbricht, ist das Gedränge bereits tödlich |titelerg=In einem Menschengedränge wirken ab einer gewissen Dichte Kräfte, gegen die Individuen kaum mehr ankämpfen können. Die richtigen Massnahmen können Leben retten |werk=nzz.ch |datum=2022-11-04 |abruf=2022-11-05}}</ref> Der Experte [[Mehdi Moussaïd]] ([[Max-Planck-Institut für Bildungsforschung]]), der die Dichte der Menschenmenge bei dem Unglück in Itaewon anhand von öffentlich verfügbaren Videoaufnahmen auf acht bis zehn Menschen pro Quadratmeter schätzte, hob als Unterschied des Massengedränges in Itaewon zu Massengedrängen bei Musikfestivals oder [[Wallfahrt|religiösen Pilgerfahrten]] hervor, dass die Menschen „in einer Stadt sind und es sich nicht um eine geplante Veranstaltung mit Eintrittskarten handelt, die es ermöglichen, die Menge zu leiten und zu wissen, wie viele Menschen ankommen werden usw." Es sei daher in Itaewon nicht bekannt gewesen, auf welche Straße und in welche Richtung die Menschen gehen würden.<ref name="washingtonpost.com_2022-10-29_2022-10-30_HWC" /> Der Experte [[Toshihiro Kawaguchi]] ([[Kansai-Universität]]) beschrieb das Ereignis in Itaewon 2022 mit dem Begriff „crowd avalanche“ (deutsch etwa: „Menschenmassenlawine“) und verglich es mit dem [[Massengedränge auf einer Fußgängerbrücke in Akashi]] in der [[Präfektur Hyōgo|japanischen Präfektur Hyōgo]] im Jahr 2001, bei dem 11 Menschen zu Tode gekommen waren. Laut Kawaguchi tritt eine ''crowd avalanche'' typischerweise nach Erreichen einer Dichte von 10 oder mehr Menschen pro Quadratmeter auf, da umfallende Menschen bei diesem Schwellenwert keine Möglichkeit mehr haben, den Körpern anderer Menschen auszuweichen, die sich auf ihnen stapeln, so dass die unten liegenden unter dem großen Druck sterben können.<ref name="asahi.com_2022-10-31_NES">{{Internetquelle |autor=Susumu Sakamoto, Yoshihiro Makino |url=https://www.asahi.com/ajw/articles/14756538 |titel=Experts: No escape in Seoul from ‘crowd avalanche’ |werk=[[Asahi Shimbun|asahi.com]] |datum=2022-10-31 |abruf=2022-11-05}}</ref>


== Einzelnachweise ==
== Einzelnachweise ==

Version vom 6. November 2022, 01:11 Uhr

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Menschenmenge während der Halloween-Feierlichkeiten in Itaewon in der Nacht zum 30. Oktober 2022

Die Massenpanik in Seoul ereignete sich in der Nacht vom 29. auf den 30. Oktober 2022 bei Feierlichkeiten zu Halloween im Ausgehviertel Itaewon der südkoreanischen Hauptstadt Seoul. Mindestens 156 Menschen starben und 172 weitere wurden verletzt, 33 davon schwer.

Die Massenpanik war die tödlichste Katastrophe Südkoreas nach dem Untergang des Fährschiffs Sewol 2014, bei dem 304 Menschen ums Leben gekommen waren, und die tödlichste Massenpanik Südkoreas überhaupt.

Hintergrund

Datei:Halloween festival.jpg
Menschenmenge während der Halloween-Feierlichkeiten in Itaewon (2015)

Der Stadtteil Itaewon ist ein beliebtes Ausgehviertel in Seoul mit Bars und Nachtclubs. Nachdem die Feierlichkeiten durch die COVID-19-Pandemie in den Jahren 2020 und 2021 nicht stattgefunden hatten, versammelten sich dieses Mal etwa 100.000 Menschen in den Straßen und Clubs.[1][2] Es ist eine der größten inoffiziellen öffentlichen Veranstaltungen in Seoul, wobei es sich demzufolge nicht um ein Straßenfest handelt. Man habe nicht mit einem solchen Andrang gerechnet.[1][3] An der U-Bahnstation Itaewon wurden mit mehr als 160.000 Ein- und Aussteigenden doppelt so viele wie im Tagesdurchschnitt der vergangenen drei Jahre gezählt.[4]

Hergang

Karte des Areals[5]

Gegen 22:20 Uhr Ortszeit kam es in der Nähe des Hamilton-Hotels[6] in einer etwa 45 Meter langen und 4 Meter breiten, leicht abschüssigen Seitengasse, an der sich auf beiden Seiten Bars und Restaurants reihen, zu einem Gedränge.[7][8][9][10] Viele Besucher waren zu Boden gestürzt, während andere nachgerückt seien, hinten hätten sich die Mengen gestaut, was zu einem Dominoeffekt führte. Laute Musik soll von den Rufen aus der Menge abgelenkt haben. Alles sei sehr schnell passiert, so dass die Menschen in der Menge kaum Zeit zur Flucht gehabt hätten. Lokalen Medien zufolge sollen Leute einen unidentifizierten prominenten Youtuber gesehen haben, dem sie folgen wollten. Das soll noch einmal zusätzliche Menschen angezogen haben.[11] Die Feuerwehr berichtete, dass bei dutzenden Menschen, die im Gedränge einen Herzstillstand erlitten hatten, Wiederbelebungsmaßnahmen durchgeführt werden mussten.[12][13]

Opfer

Nach offiziellen südkoreanischen Angaben starben 156 vor allem junge Menschen bei dem Unglück.[14][15][16][17] Es starben 101 Frauen und 55 Männer.[18][9] Unter den Todesopfern befanden sich laut Innenministerium 26 Ausländer.[19] Diese stammten aus dem Iran (5), Russland (4)[20] China (4), Japan (2)[21], den Vereinigten Staaten (2)[22], Norwegen, Österreich, Kasachstan, Sri Lanka, Australien, Malaysia, Usbekistan, Frankreich, Thailand, Vietnam.

Mindestens 172 Menschen wurden verletzt, 33 davon schwer.[23]

Lage vor Ort

In der Umgebung des Unglücksareals war es derart voll gewesen, dass die Hilfskräfte Probleme hatten, die Menschenmassen zu durchdringen, um die Unglücksstelle zu erreichen.[24] Ein Raum wurde eingerichtet um verletzte Personen zu versorgen, Dutzende von Bewusstlosen wurden gefunden. Sanitäter, die Polizei, Zuschauer und Überlebende führten eine Herz-Lungen-Wiederbelebung bei den Verunglückten durch.[25] In sozialen Medien kursieren Videos, in welchen Dutzende Personen, die am Straßenrand liegend mit blauen Plastikplanen bedeckt sind, zu sehen sind. In den Morgenstunden wurden die Leichname in eine Sporthalle transportiert, um Identifizierungen durch Angehörige zu ermöglichen. Insgesamt waren 142 Rettungsfahrzeuge im Einsatz, um Verletzte in umliegende Krankenhäuser zu bringen, insbesondere in das Soonchunhyang-Universitätsklinikum.[1][26]

Zusätzliche 83 Krankenwagen erreichten den Unglücksort nach 23:45 Uhr. Die Mobilfunk- und Internetnetze waren aufgrund des Unglücks zwischenzeitlich überlastet.[27]

Reaktionen

National

Gedenkaltar bei der Stadthalle von Seoul für die Verunglückten in Itaewon
Gedenkstelle an der Itaewon Station Exit 1
Der Ort des Geschehens am 1. November 2022

Der Präsident Südkoreas, Yoon Suk-yeol, leitete in der Nacht zum 30. Oktober eine Notfallsitzung. Zuvor ordnete er an, weiteres Notfallpersonal in das Areal zu entsenden und Krankenhausbetten vorzubereiten. Yoon ordnete eine einwöchige Staatstrauer an.[12] Er sagte in einer Fernsehansprache an die Nation: „Im Zentrum von Seoul ist eine Tragödie und Katastrophe geschehen, die nicht hätte passieren dürfen“. Yoon versprach, den Vorfall „gründlich zu untersuchen“ und sicherzustellen, dass so etwas nie wieder passiere.[28] Am folgenden Montag besuchte er einen Gedenkaltar für die Verunglückten in der Innenstadt von Seoul.[29]

Seouls Bürgermeister Oh Se-hoon, der zum Zeitpunkt des Unglücks auf Besuch in Europa war, kündigte seine sofortige Rückkehr an.[30]

Südkoreas Präsident Yoon Suk-yeol besuchte am nächsten Morgen den Unglücksort Itaewon. Er trat vor die Presse und sprach von einer Tragödie und Katastrophe, die nicht hätte passieren dürfen: „Ich spreche den Opfern des Unglücks mein Beileid aus und hoffe, dass die Verletzten bald wieder gesund werden. Mein Mitgefühl gilt den Familienangehörigen der Opfer, die unter dem Verlust eines geliebten Menschen zu leiden haben“. Der Präsident verhängte bis zum 3. November eine nationale Staatstrauer, Flaggen werden bis dahin auf halbmast gesetzt, Angestellte im öffentlichen Dienst und Beamte werden in dieser Zeit Trauerflor tragen.[31]

Es gab Kritik, die Behörden hätten die Menschenmassen nicht kontrolliert, was der südkoreanische Innenminister Lee Sang Min jedoch zurückwies. Da die Halloween-Party keine angemeldete Veranstaltung gewesen war, hätten die Massen auch nicht durch mehr Polizei verhindert werden können.[32] Die Polizei erklärte, dass 137 Beamte in Itaewon im Einsatz waren, wobei es deutlich mehr gewesen seien als bei den Halloween-Feiern in den Jahren zuvor. Die meisten Polizisten fokussierten sich örtlichen Medien zufolge allerdings darauf, den Drogenkonsum und Sexualdelikte der Feiernden zu unterbinden, und nicht um die Menschenmasse unter Kontrolle zu halten.[33][34]

Südkoreas Ministerpräsident Han Duck-soo kündigte bei einer Krisensitzung in Seoul eine gründliche Untersuchung der Vorgänge an.[35] Es wurde ein Sonderteam aus 475 Personen der Polizei, unter Chefermittler Nam Gu Jun gebildet. Er sagte, „Wir möchten weitere Zeugenbefragungen, auch von Angestellten naheliegender Geschäfte.“[36][37]

Ministerpräsident Han Duck-soo sagte, dass keine Diffamierungen und Falschinformationen verbreitet werden sollen, „Im Internet und in den sozialen Medien posten einige Nutzer Hasskommentare über die Opfer oder verbreiten Bildmaterial und nicht bestätigte Informationen zu dem plötzlichen Massenandrang.“[38]

Der Generalkommissar der Koreanischen Nationalen Polizeibehörde Yoon Hee Keun räumte eine „schwere Verantwortung“ ein. Er sagte, Beamte hätten am Samstag früh eingehende Notrufe über das sich anbahnende Desaster nicht effektiv behandelt. Die Polizei habe bereits vor dem Unglück von einer „großen Menschenmenge“ erfahren, was ein „dringender Hinweis auf Gefahr“ gewesen sei. Präsident Yoon Suk Yeol sagte, dass es in Südkorea an Forschung zu Massenkontrolle ein Defizit gebe. Unbemannte Luftfahrzeuge und andere High-Tech-Ressourcen müssten dafür entwickelt werden. „Die Sicherheit der Menschen ist wichtig, unabhängig davon, ob es einen Veranstalter gibt oder nicht“. Ein Echtzeit-Überwachungssystem für Menschenansammlungen auf Basis von Handydaten war laut Medienberichten am Unglückstag inaktiv.[39]

International

Bundeskanzler Olaf Scholz drückte sein Beileid aus, die Ereignisse seien erschütternd und Deutschland stehe an der Seite Südkoreas.[40]

Japans Ministerpräsident Fumio Kishida kondolierte im Namen des japanischen Volkes. Er sei tief traurig und bete für die schnelle Erholung der Verletzten.[41]

Der chinesische Staatspräsident Xi Jinping sandte eine Botschaft an Präsident Yoon Suk Yeol, um den Familien der Todesopfer und den Verletzten sein aufrichtiges Mitgefühl auszusprechen.[42]

US-Präsident Joe Biden sagte, er und seine Frau Jill trauerten mit den Menschen in Südkorea. „Die Allianz zwischen unseren Ländern war niemals pulsierender und lebendiger – und die Beziehungen zwischen unseren Bürgern so stark wie nie.[43]

Untersuchungen nach dem Unglück

Anschließende Untersuchungen ergaben, dass es bereits Stunden vor dem Unglück mehrere Telefonanrufe bei der Polizei gegeben hatte, in denen besorgte Personen auf die Menschenmassen, die immer weiter zunahmen und in die engen Gassen strömten, hinwiesen. Anwohner der Gegend berichteten, dass die Straßen so dicht mit Menschen gefüllt waren, dass man kaum das Haus verlassen konnte. Direkt nach dem Unglück äußerten Augenzeugen die Ansicht, dass die Maßnahmen und das Verhalten der Polizei inadäquat gewesen seien. Dies wurde in einer Pressekonferenz am 1. November 2022 vom Leiter der südkoreanischen Polizei offiziell eingeräumt. In Vorbereitung auf die Halloween-Feiern hatte es mehrere Treffen zwischen Vertretern des Stadtbezirks, der örtlichen Polizei, örtlichen Geschäftsleuten und dem Aufseher der örtlichen U-Bahnstation gegeben, in denen verschiedene Problemfelder besprochen worden waren, so z. B. Minimierung des COVID-19-Infektionsrisikos, Vorgehen gegen Drogenhandel etc. Die Möglichkeit einer Überfüllung durch zu viele Besucher war dabei offenkundig nicht thematisiert worden. Ein Grund für den Massenandrang war die Nähe der U-Bahnstation Itaewon. Polizeivertreter warfen der U-Bahn-Direktion vor, nicht einem Polizeivorschlag gefolgt zu sein, den Ausstieg an der Station Itaewon zu unterbinden. Vertreter der U-Bahn Seoul widersprachen dem und erklärten, dass ein entsprechendes offizielles Ersuchen der Polizei erst eine Stunde nach dem Unglück eingegangen sei. Polizeivertreter äußerten auch, dass sie von Geschäftsleuten gebeten worden seien, die Polizeipräsenz zu reduzieren, da sich diese negativ auf die Geschäftserwartungen auswirke. Dies wurde von der örtlichen Vereinigung der Geschäftsleute dementiert.[44]

Kritik am medialen Sprachgebrauch zum Unglück

Schematische Darstellung des Dominoeffekts

Experten wie beispielsweise Milad Haghani (School of Civil and Environmental Engineering an der University of New South Wales), Edwin Galea (University of Greenwich) oder John Drury (University of Sussex) vertraten bereits wenige Tage nach dem Unglück die Ansicht, dass die in den Medien vorherrschenden Bezeichnungen wie „Massenpanik“ (im Englischen: „stampede“ oder „crowd surge“) inkorrekt seien,[45][46] da sie voraussetzen würden, dass den Menschen in der Menge Platz zur Bewegung zur Verfügung gestanden hätte.[45] Der Experte G. Keith Still (University of Suffolk) lehnte mit dem gleichen Argument den Begriff stampede als inkorrekt ab, hielt aber crowd crush oder crowd surge für geeignete Bezeichnungen.[47][48] Die Menschen in der Menge können bei diesem Phänomen nach Ansicht von Experten wie Still, begünstigt von der räumlichen Geometrie vor Ort, wie in einem „Dominoeffekt“ umfallen und dann nicht mehr aufstehen.[47][48][49]

Experten wie Haghani, Galea, Drury oder Still hoben zudem hervor, dass ein solch inkorrekter Sprachgebrauch rechtliche Konsequenzen implementiere, irreführend sei und die Schuld an dem Unglück von den Organisatoren und Behörden auf die betroffenen Opfer in der Menschenmenge verschiebe.[45][46] Haghani zufolge suggerierte der inkorrekte Sprachgebrauch fälschlicherweise, dass die in das Ereignis involvierten Menschen eine Art Fehl- oder regelwidriges Verhalten gezeigt hätten.[45] Experten wie Still hoben hervor, der in den Medien verwendete Sprachgebrauch verkehre die Kausalität, da die Menschen bei solchen Ereignissen nicht sterben würden, weil sie in Panik geraten, sondern sie würden in Panik geraten, weil sie zu sterben beginnen.[46][45][47][49]

Nach Ansicht Haghanis war eine solch inkorrekte Bezeichnung entsprechender Ereignisse in der Vergangenheit eine der Ursachen dafür gewesen, dass aus vergleichbaren Ereignissen nicht die richtigen Lehren gezogen und bei der Organisation von Veranstaltungen keine ausreichenden Anstrengungen unternommen wurden, um die bestehenden Risiken zu minimieren. Der Vorfall in Itaewon hätte nach Ansicht Haghanis aufgrund dessen, dass vergleichbare Ereignisse der Vergangenheit bereits wissenschaftlich untersucht worden waren und man daraus hätte lernen müssen, verhindert werden sollen. So weise laut Haghani etwa das Unglück bei der Loveparade 2010 die gleiche Charakteristik auf wie das Ereignis in Itaewon 2022, indem unter anderem bei beiden Ereignissen Zustrom und Dichte der betroffenen Menschenmenge nicht gesteuert und beobachtet worden seien.[45] Die Experten Anna Sieben (Universität St. Gallen) und Dirk Helbing (ETH Zürich) vertraten die Ansicht, bei dem Unglück auf der Loveparade 2010 und wahrscheinlich auch bei jenem in Itaewon 2022 habe es sich wahrscheinlich nicht um das Ergebnis einer „Massenpanik“ gehandelt, auch wenn man dies angesichts der Berichterstattung über die Situation vielleicht vermuten könnte.[50] Helbing wies darauf hin, dass die meisten Katastrophen in Menschenmengen nicht durch einen psychologischen Zustand der „Panik“, sondern durch physikalischen Kräfte verursacht werden, die zu einem als „Massenturbulenz“ beschriebenen Phänomen führen.[50] Helbing zufolge, der die Katastrophe auf der Loveparade 2010 eingehend untersucht hatte, bei der Menschen aus einer „Massenturbulenz“-Situation heraus gestorben waren, wies das Unglück in Itaewon 2022 „auffällige Ähnlichkeiten“ zu jenem auf der Loveparade 2010 in Duisburg auf.[51] Helbing war durch qualitative Analyse bereits im Fall des Unglücks auf der Loveparade 2010 zu dem Ergebnis gekommen, dass die in den Medien verbreiteten Mutmaßungen, dass entweder eine durch Alkohol oder Drogen begünstigten Massenpanik oder Stampede oder aber von einer Treppe auf die Menge herabstürzende Menschen die Katastrophe verursacht hätten, widerlegt und stattdessen das Unglück dadurch verursacht worden sei, dass die Menschenmenge in einem bestimmten Bereich eine kritische Dichte überschritten habe.[52] Ber einer Dichte, die so gross ist, dass es zu unbeabsichtigten Körperkontakten kommt, werden laut Helbing Kräfte übertragen, die sich aufsummieren können. Es kann zu einer, von Helbing „Massenturbulenz“ (englisch: crowd turbulence) oder „Massenbeben“ (englisch: crowd quake) genannten, natürlichen Bewegung der Menschenmasse kommen, da die Menschen so eng aneinandergedrückt stehen, dass sie keine Kontrolle mehr über ihre Bewegungen haben und bei der der Sturz einer Person einen „Dominoeffekt“ auslösen kann, durch den Menschen sich übereinander aufhäufen können.[49][53] Diese „Massenbeben“ sind nach Helbing und Mukerji (2012) eine typische Ursache für Massenunglücke (englisch: crowd disasters) und müssen von Massenunglücken unterschieden werden, die aus mass panic oder crowd crushes resultieren.[53]

Laut Helbing besteht in einer Menschenansammlung ab einer Dichte von etwa fünf Personen erhebliche Gefahr. Videoanalysen zufolge sollen die Menschenmenge in bei der Halloweenfeier Itaewon 2022 im Epizentrum eine Dichte von rund zehn Personen pro Quadratmeter gehabt haben.[49] Der Experte Mehdi Moussaïd (Max-Planck-Institut für Bildungsforschung), der die Dichte der Menschenmenge bei dem Unglück in Itaewon anhand von öffentlich verfügbaren Videoaufnahmen auf acht bis zehn Menschen pro Quadratmeter schätzte, hob als Unterschied des Massengedränges in Itaewon zu Massengedrängen bei Musikfestivals oder religiösen Pilgerfahrten hervor, dass die Menschen „in einer Stadt sind und es sich nicht um eine geplante Veranstaltung mit Eintrittskarten handelt, die es ermöglichen, die Menge zu leiten und zu wissen, wie viele Menschen ankommen werden usw." Es sei daher in Itaewon nicht bekannt gewesen, auf welche Straße und in welche Richtung die Menschen gehen würden.[47] Der Experte Toshihiro Kawaguchi (Kansai-Universität) beschrieb das Ereignis in Itaewon 2022 mit dem Begriff „crowd avalanche“ (deutsch etwa: „Menschenmassenlawine“) und verglich es mit dem Massengedränge auf einer Fußgängerbrücke in Akashi in der japanischen Präfektur Hyōgo im Jahr 2001, bei dem 11 Menschen zu Tode gekommen waren. Laut Kawaguchi tritt eine crowd avalanche typischerweise nach Erreichen einer Dichte von 10 oder mehr Menschen pro Quadratmeter auf, da umfallende Menschen bei diesem Schwellenwert keine Möglichkeit mehr haben, den Körpern anderer Menschen auszuweichen, die sich auf ihnen stapeln, so dass die unten liegenden unter dem großen Druck sterben können.[54]

Einzelnachweise

  1. a b c „Tödliches Gedränge bei Halloween-Feier in Seoul". In: Deutsche Welle. 30. Oktober 2022, abgerufen am 30. Oktober 2022.
  2. Südkorea: Mindestens 149 Tote bei Halloweenfeierlichkeiten in Südkorea. In: Spiegel Online. 29. Oktober 2022, abgerufen am 29. Oktober 2022.
  3. „Massenpanik in Seoul: Zahl der Toten steigt auf 151“. tagesschau.de, 30. Oktober 2022, abgerufen am 31. Oktober 2022.
  4. Patrick Welter: „Halloween-Massenpanik in Seoul: Südkorea diskutiert über Versagen der Behörden“. faz.net, 31. Oktober 2022, abgerufen am 31. Oktober 2022.
  5. „South Korea mourns, wants answers after Halloween crush kills 153 people“. channelnewsasia.com, 31. Oktober 2022, abgerufen am 2. November 2022 (englisch).
  6. Hamilton Hotel Seoul, abgerufen am 30. Oktober 2022
  7. Halloween-Party: Mindestens 151 Tote bei Massenpanik in Seoul. In: MDR aktuell. Mitteldeutscher Rundfunk, 30. Oktober 2022, abgerufen am 30. Oktober 2022.
  8. Elia Del Favero: „Seoul: Mindestens 146 Tote wegen Massenpanik bei Halloween-Feier“. In: Nau.ch. Nau media, 30. Oktober 2022, abgerufen am 30. Oktober 2022.
  9. a b Katharina Graça Peters: Massengedränge in Südkorea – Die Tragödie von Seoul. In: Der Spiegel. 29. Oktober 2022, abgerufen am 29. Oktober 2022.
  10. Survivor’s injuries in Seoul show how crowd crushes can kill. In: Washington Post. ISSN 0190-8286 (englisch, washingtonpost.com [abgerufen am 1. November 2022]).
  11. „Massenpanik in Seoul: Zwei Drittel der Todesopfer sind Frauen“. n-tv.de, 31. Oktober 2022, abgerufen am 1. November 2022.
  12. a b Patrick Welter: Mehr als 150 Tote in Seoul: „Sie fielen um wie Dominosteine“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 30. Oktober 2022, ISSN 0174-4909 (faz.net [abgerufen am 30. Oktober 2022]).
  13. Halloween in Südkorea: Mindestens 146 Personen sterben bei Massenpanik in Seoul. In: Stuttgarter Nachrichten. 29. Oktober 2022, abgerufen am 30. Oktober 2022.
  14. Toll rises to 156 as Seoul stampede survivors recall ‘slow, agonising crush’ - latest. 1. November 2022, abgerufen am 1. November 2022 (englisch).
  15. ‘이태원 참사’ 사망자 1명 늘어 155명…부상자 3명 추가. 31. Oktober 2022, abgerufen am 31. Oktober 2022 (koreanisch).
  16. SBS 뉴스: 이태원 압사 참사 사망자 154명으로 늘어…외국인 26명. 30. Oktober 2022, abgerufen am 30. Oktober 2022 (koreanisch).
  17. [속보] 오전 9시30분 이태원 참사 사망 151명, 부상 82명으로 늘어 : 사회일반 : 사회 : 뉴스 : 한겨레모바일. In: Hankyoreh. 30. Oktober 2022, abgerufen am 30. Oktober 2022 (koreanisch).
  18. "[종합] 이태원 참사, 156명 사망 · 151명 부상 - 시사IN". Sisain Korea, 31. Oktober 2022, abgerufen am 1. November 2022 (koreanisch).
  19. Seoul und das tödliche Massengedränge: »Nicht schubsen! Die Leute sind gefallen!« In: Der Spiegel. 30. Oktober 2022, ISSN 2195-1349 (spiegel.de [abgerufen am 30. Oktober 2022]).
  20. „Die Leichen der Russinnen, die bei der Massenpanik in Seoul getötet wurden, werden mit der Fähre nach Primorje gebracht (Fotos)“. In: topnews.ru. 31. Oktober 2022, abgerufen am 31. Oktober 2022 (russisch).
  21. Soja Kim: „Die Tochter, die sagte: "Ich möchte lange in Korea leben"... Einreise der Eltern japanischer Opfer“. In: hani.co.kr. 31. Oktober 2022, abgerufen am 1. November 2022 (koreanisch).
  22. Haris Alic, Caroline McKee, Chad Pergram: „Ohio congressman's niece killed during South Korea Halloween stampede“. In: foxnews.com. 31. Oktober 2022, abgerufen am 1. November 2022 (englisch).
  23. [1], abgerufen am 3. November 2022.
  24. „Massenpanik in Seoul: Regierung kündigt Untersuchung an." zdf.de, 31. Oktober 2022, abgerufen am 31. Oktober 2022.
  25. „How Halloween parties turned deadly in Seoul's popular Itaewon district“. reuters.com, 1. November 2022, abgerufen am 1. November 2022 (englisch).
  26. Something terrible is happening: „Scenes of horror in Seoul after Halloween stampede“. In: The Straits Times. 29. Oktober 2022, abgerufen am 30. Oktober 2022 (englisch).
  27. „How Itaewon turned into epicenter of tragedy“. koreatimes, 30. Oktober 2022, abgerufen am 31. Oktober 2022 (englisch).
  28. Zahl der Toten bei Massenpanik in Seoul steigt auf 151. In: tagesschau.de. Norddeutscher Rundfunk, 30. Oktober 2022, abgerufen am 30. Oktober 2022.
  29. „Nach Massenpanik in Südkorea: Regierung kündigt Untersuchungen an“. In: Kölnische Rundschau. 31. Oktober 2022, abgerufen am 31. Oktober 2022.
  30. Halloween-Feiern: Mindestens 146 Tote nach Gedränge in Seoul. In: tagesschau.de. Norddeutscher Rundfunk, 29. Oktober 2022, abgerufen am 30. Oktober 2022.
  31. „Massenpanik in Seoul: Vier Meter breite Gasse wurde zur Todesfalle“. tagesschau.de, 31. Oktober 2022, abgerufen am 31. Oktober 2022.
  32. „Could Itaewon tragedy have been prevented?“ koreaherald.com, 30. Oktober 2022, abgerufen am 31. Oktober 2022 (englisch).
  33. „Nach tödlicher Massenpanik: Kritik an Polizei in Seoul wird laut“. - n-tv.de, 31. Oktober 2022, abgerufen am 31. Oktober 2022.
  34. „Role of administrative authorities questioned in Itaewon disaster“. In: Koreatimes. 31. Oktober 2022, abgerufen am 31. Oktober 2022 (englisch).
  35. „Südkorea - Untersuchung nach Massenpanik mit mehr als 150 Toten“. deutschlandfunk.de, 31. Oktober 2022, abgerufen am 31. Oktober 2022.
  36. „Nach Massenpanik in Seoul: Regierung will Untersuchung“. In: Westfälische Nachrichten. 31. Oktober 2022, abgerufen am 1. November 2022.
  37. „South Korea begins probe into deadly Halloween crush“. reuters.com, 31. Oktober 2022, abgerufen am 1. November 2022 (englisch).
  38. „Nach Massenpanik in Seoul: Regierung will Untersuchung“. morgenpost.de, 31. Oktober 2022, abgerufen am 31. Oktober 2022.
  39. „Mehr als 150 Tote in Seoul: Polizeichef räumt Fehler bei Halloween-Panik ein“. tagesschau.de, 1. November 2022, abgerufen am 1. November 2022.
  40. Südkorea: Scholz erschüttert über Halloween-Drama von Seoul. In: Deutschlandfunk. 30. Oktober 2022, abgerufen am 30. Oktober 2022.
  41. „Massenpanik bei Halloween-Feiern: Mehr als 150 Tote in Seoul“. faz.net, 31. Oktober 2022, abgerufen am 31. Oktober 2022.
  42. „Internationale Gemeinschaft trauert um Opfer tödlicher Massenpanik in Seoul“. kbs world, 31. Oktober 2022, abgerufen am 31. Oktober 2022.
  43. Südkorea: Mehr als 150 Tote bei Halloween-Feiern in Seoul. In: sueddeutsche.de. 30. Oktober 2022, abgerufen am 30. Oktober 2022.
  44. Itaewon crush: First emergency call came hours before crush. In: BBC News. 2. November 2022, abgerufen am 2. November 2022 (englisch).
  45. a b c d e f Jalelah Abu Baker: Seoul crowd crush: How it may have happened and what to do in such a situation. Preventing another tragedy like this involves monitoring and regulating the number of people in such spaces, and increasing education and awareness, said experts who spoke to CNA. In: channelnewsasia.com (CNA). 31. Oktober 2022, abgerufen am 2. November 2022 (Update vom 02. November 2022). Vergleiche auch: Why the Seoul crowd crush was not a stampede. (YouTube-Video – 6:43min.) In: DW-TV Politik Direkt. CNA, 31. Oktober 2022, abgerufen am 1. November 2022.
  46. a b c Samantha Lock: Crowd crushes: how disasters like Itaewon happen, how can they be prevented, and the ‘stampede’ myth. Crowd crushes are wholly preventable, predictable and avoidable, experts say. Here is what we can learn from the Halloween crowd crush in Seoul. In: theguardian.com. 1. November 2022, abgerufen am 2. November 2022.
  47. a b c d Praveena Somasundaram, Joyce Sohyun Lee, Annabelle Timsit: Here’s what causes crowd crushes like the deadly one in Seoul. In: washingtonpost.com. 1. November 2022, abgerufen am 5. November 2022 (Update vom 30. Oktober 2022).
  48. a b Armani Syed: Why Crowd Crushes Like South Korea’s Halloween Surge Are So Deadly. In: time.com. 31. Oktober 2022, abgerufen am 5. November 2022.
  49. a b c d Corina Gall: Hillsborough, Loveparade, die Halloween-Party in Seoul: Wenn Panik ausbricht, ist das Gedränge bereits tödlich. In einem Menschengedränge wirken ab einer gewissen Dichte Kräfte, gegen die Individuen kaum mehr ankämpfen können. Die richtigen Massnahmen können Leben retten. In: nzz.ch. 4. November 2022, abgerufen am 5. November 2022.
  50. a b Clare Roth: The science of human stampedes. A stampede in a nightlife district in South Korea killed more than 150 people over the Halloween weekend. Crowd researchers explain how such tragedies can happen and what you can do to stay safe. In: dw.com. 2. November 2022;.
  51. Juwon Park, David Rising: Seoul’s Halloween victims primarily women, young people. In: apnews.com. 1. November 2022, abgerufen am 4. November 2022.
  52. Christian Speicher: Eine Massenturbulenz mit tödlichen Folgen. Vor zwei Jahren starben an der Love Parade in Duisburg 21 Menschen im dichten Gedränge. Anhand von Videoaufzeichnungen haben zwei Forscher der ETH Zürich jetzt rekonstruiert, wie es zu der Massentragödie kommen konnte. In: nzz.ch. 25. Juni 2012, abgerufen am 4. November 2022.
  53. a b Dirk Helbing, Pratik Mukerji: Crowd disasters as systemic failures: analysis of the Love Parade disaster. In: EPJ Data Science. Band 1, 2012, 7, doi:10.1140/epjds7.) Online veröffentlicht am 25. Juni 2012.
  54. Susumu Sakamoto, Yoshihiro Makino: Experts: No escape in Seoul from ‘crowd avalanche’. In: asahi.com. 31. Oktober 2022, abgerufen am 5. November 2022.

Koordinaten: 37° 32′ N, 127° 0′ O