Tilidin

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Strukturformel
Strukturformel von Tilidin
1:1-Gemisch der Stereoisomeren:
(1S,2R)-Isomer (links) und (1R,2S)-Isomer (rechts)
Allgemeines
Freiname Tilidin
Andere Namen
  • (1RS,2SR)-2-(Dimethylamino)-1-phenylcyclo- hex-3-en-carbonsäureethylester
  • (±)-(E)-2-(Dimethylamino)-1-phenyl-cyclohex- 3-en-1-carbonsäureethylester
  • rac-(E)-2-(Dimethylamino)-1-phenyl-cyclohex- 3-en-1-carbonsäureethylester
Summenformel C17H23NO2
Externe Identifikatoren/Datenbanken
CAS-Nummer
  • 20380-58-9 (trans-(±)-Tilidin)
  • 32447-90-8 (1S2R-trans-Tilidin, Dextilidin)
  • 38690-93-6 (1R2S-trans-Tilidin)
  • 27107-79-5 (trans-(±)-Tilidinhydrochlorid)
  • 255733-17-6 (trans-(±)-Tilidinhydrochlorid-Hemihydrat)
  • 157163-65-0 (trans-(±)-Tilidinhydrogen orthophosphat)
PubChem 30131
Wikidata Q45024802
Arzneistoffangaben
ATC-Code

N02AX01

Wirkstoffklasse

Opioid-Analgetikum

Eigenschaften
Molare Masse 273,37 g·mol−1
Aggregatzustand

fest

Schmelzpunkt

159 °C (Tilidin·Hydrochlorid)[1]

Siedepunkt

95,5–96 °C bei 1 Pa[1]

Sicherheitshinweise
GHS-Gefahrstoffkennzeichnung
keine Einstufung verfügbar[2]
Toxikologische Daten
Soweit möglich und gebräuchlich, werden SI-Einheiten verwendet. Wenn nicht anders vermerkt, gelten die angegebenen Daten bei Standardbedingungen.

Tilidin ist ein schmerzstillend wirksamer Arzneistoff aus der Gruppe der Opioide.

Die synthetisch hergestellte Substanz wird für die Behandlung starker und sehr starker Schmerzen eingesetzt. Als Prodrug hat Tilidin kaum eine schmerzstillende Wirkung und es wird erst in der Leber zu den Metaboliten Nortilidin und Bisnortilidin verstoffwechselt, von denen Nortilidin die hauptsächliche Wirkung zeigt.

Um einer missbräuchlichen Anwendung als Rauschmittel vorzubeugen, ist Tilidin in Fertigarzneimitteln meist in fixer Kombination mit dem Arzneistoff Naloxon enthalten. Naloxon ist nach peroraler Gabe in therapeutischen Dosierungen vernachlässigbar (Bioverfügbarkeit unter 1 %), hebt jedoch die Wirkung des Tilidins nach nicht-peroraler Gabe aufgrund des fehlenden First-Pass-Effekts beim Naloxon auf. Für die Behandlung chronischer Schmerzen ist Tilidin als Schmerzmittel in die Stufe 2 gemäß dem WHO-Stufenschema eingeordnet.

Chemie

Geschichte

Tilidin wurde 1967 von Gödecke (Valoron) patentiert und ist als Generikum im Handel.[4]

Herstellung

Die chemische Synthese von Tilidin geht vom Dimethylaminobuta-1,3-dien, welches aus Crotonaldehyd und Dimethylamin gewonnen wird, und Atropasäureethylester aus, die in einer Diels-Alder-Reaktion die Zielverbindung bilden.

Synthese von Tilidin

Die Trennung der Diastereomeren kann über chirale Zinkkomplexe erfolgen.[5][6][7]

Stereoisomerie

2-(Dimethylamino)-1-phenylcyclohex-3-en-carbonsäure-ethylester enthält zwei stereogene Zentren. Es existieren also folgende vier Stereoisomere: (1R,2S)-Form und die dazu enantiomere (1S,2R)-Form sowie die (1R,2R)-Form und die (1S,2S)-Form. Der Arzneistoff Tilidin wird als Racemat (1:1-Mischung) aus dem (1R,2S)- und dem (1S,2R)-Enantiomeren eingesetzt.[8] Der Bedeutung der Enantiomerenreinheit der synthetisch hergestellten Arzneistoffe wird zunehmend Beachtung eingeräumt, denn die beiden Enantiomeren eines chiralen Arzneistoffs zeigen fast immer eine unterschiedliche Pharmakologie und Pharmakokinetik. Dies wurde früher aus Unkenntnis über stereochemische Zusammenhänge oft ignoriert.[9] So ist die (1S,2R)-Form [(+)-trans-Form] stärker wirksam, als die (1R,2S)-Form [(−)-trans-Form]. Bei subcutaner Anwendung verhalten sich die ED50-Werte dieser beiden Enantiomere wie 1:23.[10]

Darüber hinaus ist die racemische trans-Form [Tilidin = 1:1-Mischung aus (1R,2S)- und (1S,2R)-Form] etwa zweimal so aktiv, wie die nicht im kommerziellen Arzneistoff enthaltene racemische cis-Form [1:1-Mischung aus (1R,2R)- und (1S,2S)-Form].[11]

Pharmazeutische Informationen

Tilidin wird arzneilich in Form des Hydrochlorid-Hemihydrats und des Phosphats verwendet. Als Darreichungsformen gibt es Tropfen zum Einnehmen sowie Kapseln und Retardtabletten.

Klinische Angaben

Anwendungsgebiete

Tilidin ist angezeigt zur Behandlung starker und sehr starker Schmerzen. Die Potenz liegt bei 0,16–0,19 im Vergleich zu Morphin (etwa ein Fünftel der analgetischen Wirkstärke).[12]

Nebenwirkungen

Prinzipiell alle der opioidtypischen Nebenwirkungen treffen auf Tilidin zu (siehe Opioide, Abschnitt „Weitere Wirkungen“). Allerdings kann wegen des Naloxon-Zusatzes die Verstopfung (Obstipation) deutlich schwächer ausgeprägt sein. Auch vermindert Naloxon die atemdepressive Wirkung.[13] Der rasche Wirkungseintritt begünstigt Übelkeit und Erbrechen.

Anwendung bei eingeschränkter Leber- und Nierenfunktion

Bei Patienten mit bestehenden Vorschädigungen der Leber besteht die Gefahr eines Wirkungsverlustes, da die hepatische Metabolisierung zu den wirksamen Metaboliten beeinträchtigt werden kann. Eine Niereninsuffizienz erfordert keine Dosisanpassung.

Gegenanzeigen

Tilidin ist kontraindiziert bei Überempfindlichkeit gegen die Substanz und bei Opiatabhängigkeit (siehe Abschnitt Pharmakologie).

Pharmakologie

Tilidin an sich hat kaum opioidtypische Wirkung und wird erst bei seiner ersten Passage durch die Leber durch Demethylierung zu Nortilidin – dem eigentlichen opioiden Wirkstoff – verstoffwechselt. Nortilidin ist einerseits ein µ-Agonist, andererseits wird es im weiteren Verlauf in das wiederum aktive Bisnortilidin überführt, das ebenfalls opioide Effekte vermittelt. Nach der Einnahme von Tilidin baut sich die Opioidwirkung vergleichsweise schnell auf (etwa 10–20 Minuten). Die Enzyme, die an diesem Schritt beteiligt sind, gehören zur Klasse der Cytochrom P450. Im Detail scheinen die Enzyme CYP3A4 und CYP2C19 am Abbau von Tilidin zu Nortilidin und gleichfalls am weiteren Abbau zu Bisnortilidin und bisher nicht weiter untersuchter polarer Substanzen beteiligt zu sein. Dies konnte durch Inhibition mit Naloxon und spezifisch diese Enzyme hemmende Antagonisten nachgewiesen werden. Dabei werden zwei Drittel der Dosis von Tilidin zur Nortilidin verstoffwechselt, wovon durch Demethylierung die Hälfte weiter zu Bisnortilidin verstoffwechselt wird. Damit stehen ca. 33 % an der wirksamen Form Nortilidin zur Verfügung.[14]

In den üblichen Dosierungen, die patientenabhängig schwanken können, setzt die analgetische Wirkung nach etwa 5 bis 10 Minuten (Injektion, Tropfen zum Einnehmen) bzw. etwa 15 bis 20 Minuten (Kapseln) ein, die Wirkdauer beträgt ungefähr 4 bis 6 Stunden.[15] Bei Retardarzneimitteln, also Darreichungsformen, die den Wirkstoff nach und nach abgeben, ist die Wirkdauer entsprechend länger. Der analgetisch aktive Metabolit Nortilidin hat eine terminale Plasmahalbwertszeit von 3 bis 5 Stunden.[15]

Das dem Tilidin beigemengte Naloxon wird im Allgemeinen bei seiner ersten Passage durch die Leber fast vollständig abgebaut und inaktiviert. Da aber dem Tilidin eine relativ große Menge Naloxon beigemengt wird, wird davon nur ein Teil in der Leber deaktiviert, und es bleibt – bei der Einnahme einer größeren Menge Tilidin – noch stets genug davon übrig, um seine antagonistische Wirkung zu entfalten und die Wirkung des eingenommenen Tilidins oder weiterer Opioide zu hemmen oder zunichtezumachen. Bei Opiatabhängigen kann es somit auch bei oraler Gabe schwerste Entzugserscheinungen auslösen.

Tilidin hat keine antitussive Wirkung.[16]

Missbrauch

Um den Drogenmissbrauch von Tilidin einzuschränken, wird es in der Regel mit dem Opioidantagonist Naloxon fix kombiniert. Unter Konsumenten hochpotenter Opiate wie Morphin, halbsynthetischer Opioide wie Heroin oder vollsynthetischer Opioide wie Methadon ist Tilidin wenig verbreitet, es kommt im Zusammenhang mit Tilidin jedoch häufig zu Rezeptfälschungen.[17]

Betäubungsmittelrechtliche Vorschriften

Tilidin unterliegt betäubungsmittelrechtlichen Vorschriften. In Deutschland darf trans-Tilidin als verkehrs- und verschreibungsfähiges Betäubungsmittel[18] seit dem 1. Januar 2013 nur noch auf einem Betäubungsmittelrezept verordnet werden.[19] Ausgenommen sind feste Zubereitungen mit verzögerter Wirkstofffreigabe (Retardarzneimittel), die den Wirkstoff unterhalb einer festgelegten Dosisgrenze und in Kombination mit Naloxon enthalten.[20] cis-Tilidin ist verkehrs-, aber nicht verschreibungsfähig.[21] Auch in der Schweiz sind tilidinhaltige Arzneimittel (trans-Tilidin) auf einem Betäubungsmittelrezept zu verordnen.[22]

Tilidin wird hauptsächlich in Deutschland, Belgien und der Schweiz vertrieben, in den USA unterliegt Tilidin der Schedule-I; die Substanzen dieser Kategorie sind vergleichbar mit den Substanzen des BtMG der Anlage-I. Demnach wird für das Schmerzmittel Tilidin in den USA weder ein therapeutischer noch medizinischer Nutzen anerkannt und es ist verboten.[23]

Weblinks

Einzelnachweise

  1. a b The Merck Index. An Encyclopaedia of Chemicals, Drugs and Biologicals. 14. Auflage. 2006, ISBN 0-911910-00-X, S. 1622.
  2. Dieser Stoff wurde in Bezug auf seine Gefährlichkeit entweder noch nicht eingestuft oder eine verlässliche und zitierfähige Quelle hierzu wurde noch nicht gefunden.
  3. a b c Gödecke, Berlin / Freiburg im Breisgau, 1974.
  4. Römpp Lexikon Chemie. 10. Auflage. Georg Thieme-Verlag, Stuttgart/ New York 1999, S. 4556.
  5. G. Satzinger: Über Cyclohexene, I Synthese und Reaktionen von 4-Phenyl-3-amino-cyclohexenen-(1), einer neuen Klasse von Analgetica. In: Justus Liebigs Annalen der Chemie. 758, 1969, S. 64–87, doi:10.1002/jlac.19697280111.
  6. G. Satzinger: Über Cyclohexene, II Struktur und Eigenschaften der stereoisomeren 3-Dimethylamino-4-phenyl-4-ethoxycarbonyl-1-cyclohexene. In: Justus Liebigs Annalen der Chemie. 758, 1972, S. 43–64, doi:10.1002/jlac.19727580105.
  7. G. Satzinger: Über Cyclohexene, III Die absolute Konfiguration von (+)- und (−)-3r-Dimethylamino-4c-phenyl-4t-äthoxycarbonyl-1-cyclohexen. In: Justus Liebigs Annalen der Chemie. 758, 1972, S. 65–67, doi:10.1002/jlac.19727580106.
  8. Europäisches Arzneibuch. 6. Ausgabe. Deutscher Apotheker-Verlag, Stuttgart 2008, ISBN 978-3-7692-3962-1, S. 4160–4161.
  9. E. J. Ariëns: Stereochemistry, a basis for sophisticated nonsense in pharmacokinetics and clinical pharmacology. In: European Journal of Clinical Pharmacology. 26, 1984, S. 663–668, doi:10.1007/BF00541922.
  10. Hermann J. Roth, Christa E. Müller, Gerd Folkers: Stereochemie und Arzneistoffe. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart 1998, ISBN 3-8047-1485-4, S. 251–274.
  11. Hermann J. Roth, Christa E. Müller, Gerd Folkers: Stereochemie und Arzneistoffe. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart 1998, ISBN 3-8047-1485-4, S. 120.
  12. Hagers Handbuch der pharmazeutischen Praxis. Band 9, Springer Verlag, 1995, S. 934.
  13. J. Sorge: Medikamentöse Schmerztherapie - Opioide. In: M. Zenz, I. Jurna: Lehrbuch der Schmerztherapie. Stuttgart 2001, S. 462.
  14. J. Weiss, E. Sawa, K.-D. Riedel, W. E. Haefeli, G. Mikus: In vitro metabolism of the opioid tilidine and interaction of tilidine and nortilidine with CYP3A4, CYP2C19, and CYP2D6. In: Naunyn-Schmiedeberg’s Arch. Pharmacol. 378, 2008, S. 275–282, doi:10.1007/s00210-008-0294-7.
  15. a b K. Hardtke u. a. (Hrsg.): Kommentar zum Europäischen Arzneibuch. Ph. Eur. 7.0, Tilidinhydrochlorid-Hemihydrat. Loseblattsammlung, 39. Lieferung 2011, Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart.
  16. K. Aktories, U. Förstermann, F. B. Hofmann, K. Starke: Allgemeine und spezielle Pharmakologie und Toxikologie, 9. Auflage. Urban & Fischer in Elsevier, 2006, ISBN 3-437-44490-5.
  17. Berlin will schärfer gegen Modedroge Tilidin vorgehen. In: Der Spiegel. 11. August 2008, S. 131.
  18. gesetze-im-internet.de: Anlage III (zu § 1 Abs. 1) verkehrsfähige und verschreibungsfähige Betäubungsmittel zum Betäubungsmittelgesetz.
  19. Schnellfreisetzendes Tilidin bald BtM-pflichtig. In: pharmazeutische-zeitung.de. 1. Januar 2013, abgerufen am 13. April 2015.
  20. „…ausgenommen in festen Zubereitungen mit verzögerter Wirkstofffreigabe, die ohne einen weiteren Stoff der Anlagen I bis III je abgeteilte Form bis zu 300 mg Tilidin, berechnet als Base, und, bezogen auf diese Menge, mindestens 7,5 vom Hundert Naloxonhydrochlorid enthalten“, Quelle: gesetze-im-internet.de: Anlage III (zu § 1 Abs. 1) verkehrsfähige und verschreibungsfähige Betäubungsmittel zum Betäubungsmittelgesetz.
  21. Anlage II (zu § 1 Abs. 1) verkehrsfähige, aber nicht verschreibungsfähige Betäubungsmittel, gesetze-im-internet.de
  22. Verordnung des Schweizerischen Heilmittelinstituts über die Betäubungsmittel und psychotropen Stoffe (Memento vom 8. Januar 2010 im Internet Archive) vom 12. Dezember 1996 (Stand am 15. November 2005).
  23. U.S. DEA (US-Drogenbekämpfungsbehörde): Drug Scheduling.

Handelsnamen

Monopräparate

Valoron (CH)

Kombinationspräparate

Andolor (D), Celldolor (D), Valoron N (D), Valtran (B), zahlreiche Generika (D)