Demokratie in der Schweiz

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Die direkte Demokratie ist in der Schweiz so ausgestaltet, dass die Stimmbürger als Souverän auf allen Staatsebenen (Gemeinde, Kanton, Bundesstaat) als Inhaber der obersten Gewalt (Souverän) in Sachfragen abschliessend entscheiden können. Für die überwiegende Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer ist die direkte Demokratie ein zentrales Element der Schweizer Staatsordnung.[1] Nach Ansicht des Ökonomen Gebhard Kirchgässner gibt es in keinem anderen Staat der Welt auf nationaler Ebene auch nur annähernd so weitgehende direkte Volksrechte.[2]

Die Landsgemeinde (Albert Welti 1910/12)

Begriff und Forschungsobjekt

Der Demokratiebegriff, als sozialer Hilfsbegriff, kann trotz äusserlich übereinstimmender Verfassungsmerkmale von Land zu Land grundverschieden sein. Für dessen Wesensinhalt ist die geistespolitische Einstellung der einzelnen Völker massgebend. Diese gründet in der Schweiz auf einem historisch gewachsenen Selbstverwaltungssystem der Gemeinden und der weitgespannten Dezentralisation der Verwaltung. Der Begriff wurde bereits 1618 in einer Quelle aus dem Kanton Graubünden als Gegenbegriff zu Monarchie und Aristokratie verwendet und gehörte zur politisch-sozialen Sprache der Alten Eidgenossenschaft und der Zugewandten Orte.

Die schweizerische direkte Demokratie mit ihrer spezifischen politischen Kultur entwickelte sich im 19. Jahrhundert in den einzelnen Kantonen sehr unterschiedlich,[3] wobei sie an republikanische und kommunalistische Strukturen anknüpfte und durch Aufklärung und Helvetik unterstützt wurde. Die direkte Demokratie in der Schweiz ist historisch wenig erforscht. Man befasste sich vor allem mit der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Demokratie, während die politische Geschichte mit ihrem historischen Kontext weitgehend unbearbeitet blieb. Seit 2006 nimmt sich das Forum zur Erforschung der direkten Demokratie mit verschiedenen Projekten, Arbeitstreffen und Konferenzen dieses Themas an.[4]

Landsgemeinde, Kanton Appenzell Innerrhoden, 2005
Landsgemeinde, Kanton Glarus, 2006

Die neuere verfassungsgeschichtliche Forschung sieht die Wurzeln der direkten Demokratie in der Kontinuität der versammlungsdemokratisch geprägten politischen Kultur der freien Gemeinden (Gemeindeversammlungen) und der Landsgemeinden seit dem Spätmittelalter, dem föderativen Referendum in den zugewandten Orten und den Ämteranfragen (auch «Volksanfragen», unverbindliche Meinungsumfragen der Obrigkeit) in den Städterepubliken. Die Gemeindefreiheit umfasst in erster Linie das Recht der Gemeinden zum Erlass eigener Rechtsnormen und zur Selbstverwaltung. Sie war im Freistaat Drei Bünden (heutiges Graubünden) des 16. Jahrhunderts am weitesten entwickelt.[5]

Die kantonale Entwicklung wurde zudem durch die Montagnardverfassung und den Girondistenentwurf von 1793 inspiriert, die beide auf Jean-Jacques Rousseau zurückführen.[6]

Entstehung und Entwicklung der demokratischen Institutionen

Seit dem Mittelalter gab es in einigen Kantonen die direktdemokratische Institution der Landsgemeinde. In den freien Gemeinden der Drei Bünden war die direkte Demokratie am weitesten entwickelt. In der Neuzeit wurde die demokratische Entwicklung in der Schweiz von den grösseren Kantonen mit ihren eher repräsentativen Systemen bestimmt. 1840 waren sieben Kantone mit Landsgemeinden (Appenzell Innerrhoden, Appenzell Ausserrhoden, Glarus, Nidwalden, Obwalden, Uri, Schwyz), sechs mit halbdirekter Demokratie (Baselland, Graubünden, Luzern, St. Gallen, Wallis, Zug), elf mit rein repräsentativer Demokratie (Aargau, Bern, Basel, Freiburg, Genf, Schaffhausen, Solothurn, Thurgau, Tessin, Waadt, Zürich) und einer als konstitutionelle Monarchie (Neuenburg) ausgestaltet.

Der Staatenbund der alten Schweiz hatte mit der Tagsatzung ein repräsentatives Gremium, ebenso wie der neue Bundesstaat mit der Bundesversammlung. Die Bundesverfassung von 1848 enthielt nur wenige Elemente der direkten Demokratie wie die Initiative auf Totalrevision der Verfassung. Die wichtigsten Volksrechte auf Bundesebene wurden 1874 mit dem fakultativen Gesetzesreferendum und 1891 mit der Verfassungsinitiative eingeführt. Damals wurde die Schweiz zu jenem Staat, der weltweit die am stärksten ausgebaute direkte Demokratie hat.[7]

Die genossenschaftliche Demokratie im frühneuzeitlichen Graubünden

Nach der 1499 erfolgten faktischen Trennung der Drei Bünde (Rätischer Freistaat) vom Heiligen Römischen Reich entwickelten sie sich zu einem im frühneuzeitlichen Europa einzigartigen Gebilde. Der dreisprachige und nach 1520 auch konfessionell vielgestaltige Freistaat stand seit dem 16. Jahrhundert unter einer kommunalen Herrschaft, die ihre Entscheide nach dem Mehrheitsprinzip traf. Die Bündner Bürger schworen auf ihre Freiheit der Selbstregierung und behaupteten, dass sie keinen Herrn über sich hätten ausser Gott allein. In einem Verband selbständiger politischer Gemeinden lebend, beanspruchten sie die Gewalt, je nach Mehrheit Gesetze zu machen und aufzuheben, Bündnisse mit fremden Fürsten und Gemeinschaften zu schliessen, über Krieg und Frieden zu bestimmen und alle anderen Angelegenheiten zu beraten, welche höhere und niedere Gewalt betrafen. Wie die Eidgenossenschaft blieb der Freistaat ein Bundesstaat aus souveränen Gliedern. Trotz der vielen Trennlinien – zum Beispiel wurden im Engadin lateinische Statuten errichtet, welche italienische Entwicklungen aufnahmen, während deutschsprachige Gemeinden im Norden gleichzeitig ihr Gewohnheitsrecht schriftlich festhielten – entwickelten sich gemeinsame politische Institutionen und eine gemeinsame politische Identität. Gegen Ende des 16. Jahrhunderts spiegelte sich dieses gemeinsame Bewusstsein auch in gemeinsamen Werten und sogar landesgeschichtlichen Mythen. Um 1620 erschien eine Fülle von Texten mit kommunalen Ideen zur politischen Macht und Legitimität, die sich auf die politische Erfahrung von einem Jahrhundert Gemeindepolitik und einer innen- und aussenpolitischen Krise stützten.[8]

Die Entwicklung der modernen Demokratie in den Kantonen und Gemeinden

Die moderne Demokratie entwickelte sich in der Schweiz ab den 1830er Jahren parallel mit dem Ausbau des Pressewesens und der verfassungsmässigen Verankerung der Pressefreiheit, die bereits während der Helvetik bestanden hatte. Das Pressewesen stellte einen wichtigen Faktor in der politischen Auseinandersetzung und der Verbreitung des direktdemokratischen Gedankengutes dar. Die theoretischen Grundlagen und rechtlichen Begründungen waren in der Schweiz bereits im 18. Jahrhundert von der Westschweizer Naturrechtsschule und Jean-Jacques Rousseau gelegt worden.

Die Entwicklung fand in den Kantonen statt und wurde von unten, von den demokratischen Bewegungen in den meist ländlichen Gemeinden und Untertanengebieten angestossen. Um die verschiedenen Forderungen nach dem Ausbau der demokratischen Rechte durchsetzen zu können, wurde mit Petitionen und Memorials die Änderung der Kantonsverfassungen verlangt. Entscheidendes neues direktdemokratisches Instrument, um die Volkssouveränität absichern zu können, wurde das Volksveto (ein Vorläufer des fakultativen Gesetzesreferendums), mit dem sich das souveräne Volk die Sanktion aller Gesetzesänderungen vorbehielt.

Der Kanton Appenzell Innerrhoden war einer der ersten, in dem die Kabinettspolitik der herrschenden Familien in der Landsgemeindedemokratie vom Volk nicht mehr toleriert und mit der Verfassung von 1829 eine moderne Demokratie nach dem Gusto des Volkes errichtet wurde.

Dem Kanton St. Gallen gelang 1831 mit der Einführung des Vetos eine Pionierleistung. Sie war das Resultat einer politischen Kompromisslösung zwischen der bürgerlich-liberalen und ländlich-demokratischen Strömung im Verfassungsrat und dem Einfluss des frühen Theoretikers der direkten Demokratie, Franz Anton Good.

Der Kanton Basel-Landschaft wollte sich 1832 mit der Einführung des modernen Vetorechts die während der Trennungswirren errungenen Souveränitäts- und Freiheitsrechte direktdemokratisch absichern. Mit dem Veto und besonders mit dem obligatorischen Referendum (1863) besass er eine eigentliche Vorreiterrolle. Kein anderer Kanton kannte eine derartige Vielfalt direktdemokratischer Rechte.

Der Kanton Basel-Stadt führte die direkte Demokratie als fünftletzter Kanton 1875 ein. Damit war er spät dran, dafür führte er gleich beide zentralen Instrumente der direkten Demokratie, das (fakultative) Referendum und die Volksinitiative ein.

Der Kanton Luzern war 1841 der dritte Kanton, der ein Gesetzesveto einführte und der erste, der dazu eine eigentliche Vetodebatte in Presse, Parlament und Öffentlichkeit durchführte. Die Luzerner Stimmberechtigten erhielten mit dem Instrument des Vetos an den Vetogemeinden ein Mitspracherecht bei Gesetzgebung, Bündnissen, Verträgen usw. und wurden damit im Sinne der Volkssouveränität oberste gesetzgebende Instanz. Nirgendwo sonst in der Eidgenossenschaft besass eine kantonale Bevölkerung soviel Macht. Diese Debatte war für die weitere Entwicklung der direkten Demokratie in den anderen Kantonen und auf Bundesebene bahnbrechend.[9]

Die neue Verfassung des Kantons Zürich, die am 18. April 1869 von über 60 Prozent der Stimmenden angenommen wurde, war die erste direktdemokratische Verfassung in der Schweiz. Vor Zürich hatte kein Kanton einen solch radikalen Wandel von einem reinen Repräsentativsystem zu einem Modell mit weitreichenden direktdemokratischen Elementen vollzogen. Die Idee der reinen Volksherrschaft wurde in einer den modernen Kulturverhältnissen entsprechenden Form eingeführt.[10]

Die Entwicklung der direkten Demokratie auf Bundesebene

Im 19. Jahrhundert wurde die aus dem Spätmittelalter stammende politische und genossenschaftliche Kultur (Landsgemeinden) fortgesetzt und verstärkt, die besonders bei der Schweizer Landbevölkerung auf grosses Interesse stiess («Volkstage» als «Landsgemeinden» ab 1830). Verschiedene Kräfte auf unterschiedlichen theoretischen Wegen waren am politischen Prozess zur Entwicklung der direkten Demokratie auf Bundesebene beteiligt:

Der Katholizismus hatte zur Entwicklung der direkten Demokratie mit seinem Einfluss auf die Volksschule und die höheren Schulen beigetragen. Die erste organisierte Gemeindeform in der Schweiz, war die genossenschaftlich und dezentral aufgebaute Kirchgemeinde (Kirchgenossen), die die Gemeindefreiheit (Selbstbestimmung) auf naturrechtlicher Grundlage förderte.[11]

Der Liberalismus prägte mit der liberalen Staatsidee der Aufklärungs- und französischen Revolutionszeit leitende Grundsätze der helvetischen Verfassungen und förderte die Volksschule, favorisierte die repräsentative Demokratie, bekämpfte die direkte Demokratie und den Föderalismus und negierte das moderne Naturrecht.[12]

Die Frühsozialisten festigten aufgrund des Naturrechts und mit Bezug zur Genossenschaftstradition die direktdemokratischen staatlichen Grundlagen.[13]

Den entscheidenden Durchbruch der direkten Demokratie auf Bundesebene erfolgte durch die temporäre Verbindung und gegenseitige Befruchtung von frühsozialistischen, liberal-radikalen Ansätzen mit katholisch-konservativen Vorstellungen. Mit dem Widerstand der Katholisch-Konservativen (Beharren auf der kantonalen Souveränität) und dem Sonderbundskrieg wurde 1848 als Kompromiss eine bundesstaatlich-föderalistische Lösung möglich. Das gemeinsame Ziel wurde die Schaffung der direkten Demokratie und damit die Konkretisierung der Volkssouveränität. Die Volksbewegung der ländlichen Bevölkerung war die Hauptträgerin direktdemokratischer Konzepte und Forderungen. Sie konnte schlussendlich die direkte Demokratie durchsetzen.

Zentrale Elemente der schweizerischen Demokratie

Volkssouveränität

Die Volkssouveränität bildet die Grundlage für jede Demokratie, denn sie bestimmt das Volk als Träger der höchsten Entscheidungsmacht. Die Zustimmung des Volks bildet die Legitimationsgrundlage des Staates und seiner Einrichtungen.[14] Absolute und unmittelbare Volkssouveränität (das Volk entscheidet über alle staatlichen Erlasse) lässt sich hingegen nicht verwirklichen, da das Volk nicht einheitlich handeln – dafür ist es zu heterogen – und aus einer Stimme sprechen kann. Die Demokratie wird dennoch vom Grundsatz getragen, dass die Bürger die staatliche Willensbildung tragen, wenngleich nicht jedes einzelne Gesetz und jeder einzelne Beschluss die Zustimmung aller Gruppen finden kann.[15]

Die Voulkssouveränität kann jedoch nicht eigenständig für eine funktionierende Demokratie sorgen. Zu deren Grundgerüst gehören unweigerlich die Gewaltenteilung und die Grundrechte. Demokratie ohne gesicherte Verfahren, wie sie die Verfassung bietet, verliert sich in unverbindlicher Spontanität oder in der Manipulation von ad hoc arrangierten Volksbefragungen. Demokratie ohne Grundrechte droht gewalttätig zu werden. Die Souveränität des Volkes unterliegt deswegen gewissen Schranken.[16]

Nach Jean-Jacques Rousseau, dem Begründer der Volkssouveränität, solle das Volk allgemeine Prinzipien formulieren, die auf das Gesamte ausgerichtet sind und alle betreffen. Diese Prinzipien bedürfen der Umsetzung in konkrete Entscheide durch das Parlament und die Justiz, die den Einzelfall mit seinen einzigartigen Umständen Interessen betrachten. Wird der staatliche Entscheidungsprozess in der Weise organisiert, dass das Volk über den Einzelfall entscheidet, ist die Rechtsgleichheit gefährdet und die Chance einer Willkürherrschaft der jeweiligen Mehrheit erhöht. Gewaltenteilung und Schutz individueller Freiheit setzen der Verfügungsgewalt des Volkes klare Grenzen.[17]

Repräsentative und direkte Demokratie

In keinem anderen Staat wird die Volkssouveränität so konsequent umgesetzt wie in der Schweiz. Das Volk entscheidet ausnahmslos über alle Verfassungsfragen, und wichtige Erlasse des Parlaments unterstehen der Nachentscheidung durch die Stimmbürger. Die ausgebauten Volksrechte sind das herausragende Merkmal der schweizerischen Demokratie. Während sich die Mitwirkungsmöglichkeiten der Bevölkerung in einer repräsentativen Demokratie auf die Wahl der gesetzgebenden Gewalt (Legislative) beschränken, trifft das Volk in einer direkten Demokratie die grundlegenden Sachentscheide oder es bestätigt Beschlüsse des Parlaments.[18] Die Mischform von repräsentativen und direktdemokratischen Elementen wird in Lehre und Praxis[19] zum Teil als halbdirekte Demokratie bezeichnet, wobei verschiedene neuere Lehrmeinungen[20] von dieser Begrifflichkeit abkehren, da sie entbehrlich und nicht aussagekräftig sei. Der Ausdruck suggeriere fälschlicherweise, dass es auch eine «nur» direkte Demokratie gebe, was im gewaltenteiligen Staat undenkbar ist.[21]

Die ausgebauten Volksrechte ändern aber nichts daran, dass Bund und Kantone primär repräsentative Demokratien sind. Die Mehrheit der politischen Entscheidungen erfolgen ohne Mitwirkung des Volkes; nur etwa gegen 7 % der referendumspflichtigen Erlasse wird es auch wirklich ergriffen.[22] Die Referenden knüpfen zudem alle an Parlamentsentscheide an. Das Volk kann den Inhalt der Vorlage daher nicht ändern. Die Volksinitiative auf Totalrevision der Verfassung beauftragt im Fall ihrer Annahme (Art. 193 Abs. 3 BV) das Parlament zur Ausarbeitung einer neuen Verfassung, die Volk und Ständen vorzulegen ist. Einzig die Volksinitiative auf Teilrevision hat revolutionären Charakter, denn sie verwirklicht eine parlamentsunabhängige Verfassungsrevision; die Volksinitiativen sind jedoch selten erfolgreich.[23] Die Volksrechte sind eingebettet in einen geordneten politischen Entscheidfindungsprozess, bei dem die demokratisch gewählten Repräsentativorgane einen erheblichen Anteil an der staatlichen Willensbildung haben.[24]

Rechtsstaatliche Demokratie

Die Schweiz ist ein Verfassungsstaat, in dem die Herrschaft des Rechts verwirklicht ist. Die Demokratie ist als rechtsstaatliche Demokratie ausgestaltet und ist dadurch an das Legalitätsprinzip gebunden, wonach alles staatliche Handeln einer rechtlichen Grundlage bedarf.[25] Das Recht ist nicht nur Grundlage (Art. 5 Abs. 1 BV), sondern auch Schranke der Demokratie und soll der willkürlichen Machtausübung einen Riegel vorschieben.[26]

Demokratie und Rechtsstaat stehen in einem Spannungsverhältnis. Während die Verwirklichung der Demokratie möglichst weitreichende Entscheidungsbefugnisse für die Bürger verlangt, setzt der Rechtsstaat voraus, dass auch demokratisch zustandegekommene Entscheide illegitim und illegal sein können und zum Schutz von unantastbaren Grundrechten aufgehoben werden müssen.[27] Im Unterschied zu Deutschland und den Vereinigten Staaten kennt die Schweiz keine umfassende Verfassungsgerichtsbarkeit. Zwar darf das Bundesgericht ein Bundesgesetz für verfassungswidrig erklären – Art. 190 BV stellt kein Prüfungsverbot dar. Jene Behörden, die das Recht anwenden (Gerichte, Verwaltungen), müssen eine verfassungswidrige Gesetzesbestimmung gleichwohl anwenden; die Verurteilung als verfassungswidrig ist somit folgenlos. Die richterliche solle sich nicht über die gesetzgebende Gewalt erheben, sondern innerhalb des gesetzlichen Rahmens entscheiden.[28]

Das demokratische Prinzip wird in der Schweiz stärker gewichtet als das rechtsstaatliche. Abgesehen von der fehlenden Verfassungsgerichtsbarkeit zeigt das die Tatsache, dass die Verfassung mit einem einfachen Mehr – 50 % der Parlamentarier der beiden Kammern müssen zustimmen – geändert werden kann, während es in Deutschland einer Zweidrittelmehrheit bedarf. Unantastbare Grundprinzipien sind dadurch weniger stark geschützt.[27] Auch Analysen aus Befragungen zeigen, dass für die Bürger die Beteiligung an einer Volksabstimmung wichtiger als der Grundrechtsschutz ist.[29] Für gewisse Autoren stellt dieses Ungleichgewicht einen Missstand dar und wollen daher den Rechtsstaat stärken[30][31], während andere den Status quo verteidigen.[32]

Abgesehen von den Spannungsfeldern, die es zwischen Demokratie und Rechtsstaat gibt, wirken beide Strukturprinzipien symbiotisch aufeinander. Der Rechtsstaat bedingt die Demokratie – und vice versa.[33] Der exzessive Gebrauch von Notrecht durch die Regierung gefährdet beispielsweise nicht nur den Rechtsstaat, indem die Macht des Parlaments ausgehöhlt wird, sondern ebenso die Mitwirkungsrechte des Volkes. Die demokratischen Rechte können nur dann verwirklicht werden, wenn sie umfassenden (gerichtlichen) Schutz erfahren.[34]

Bundesstaatliche Demokratie

Der föderalistische Aufbau der Schweiz bestimmt das Wesen der Demokratie in vielerlei Hinsicht. Dank der bundesstaatlichen Struktur ist eine politische Teilnahme des Volks in einem lokalen, ihnen nahen Rahmen möglich. Die Aufgabenteilung ist so strukturiert, dass immer die unterste Ebene, soweit möglich und sinnvoll, eine Aufgabe erfüllen muss, wodurch die Legitimitation des staatlichen Handelns erhöht wird.[35] Nur die weitreichende Organisationsautonomie der Kantone erlaubte es, dass sich eine grosse Vielfalt demokratischer Institutionen herausbilden konnten. Daher unterscheiden sich kantonale Demokratien bisweilen erheblich voneinander. Während die Kantone im 19. Jahrhundert als Vorbilder für die Demokratie im Bund dienten, ist die Demokratisierung zu einem Mittel geworden, um im Lichte der schleichenden Zentralisierung ihre Eigenständigkeit zu behaupten.[36] Föderalismus und Demokratie sind jedoch weniger eng miteinander verknüpft als die Demokratie mit dem Rechtsstaat. Der Föderalismus ist nicht an die Demokratie gebunden und die Demokratie ist – das zeigen die politischen Systeme Frankreichs und Englands – ohne den Föderalismus denkbar.[37]

Der Föderalismus schränkt die Demokratie auch ein, mehr noch: In der Sache bilden Föderalismus und Demokratie Gegensätze; jedenfalls förderte die direkte Demokratie der Kantone die Zentralisierung und sukzessive Entmachtung der Kantone.[38] Bei gewissen Vorlagen auf Bundesebene muss in der Schweiz nicht nur das Volk, sondern ebenfalls die Mehrheit der Stände (Kantone) zustimmen (Art. 140 BV). Dieses Ständemehr wirkt zugunsten der kleineren Kantonen und dient dem Minderheitenschutz (einem ähnlichen Zweck folgt der Ständerat), indem eine Majorisierung durch die dicht bevölkerten Kantone verhindert soll. Das Ständemehr bricht jedoch mit der fundamentalen Regel der Demokratie one man, one vote und hat zur Folge, dass eine Stimme bei besagten Vorlagen im Kanton Obwalden mehr Gewicht hat als eine im Kanton Zürich.[39] Dadurch wird eine allfällige negative Entscheidung der Kantone höher gewichtet als die Zustimmung des Volkes. Damit entsteht zwischen dem bundesstaatlichen Machtausgleich auf der einen und der demokratischen Mehrheitsregel auf der anderen Seite ein Widerspruch, der jedoch dadurch etwas abgefedert wird, dass die Standesstimmen ebenfalls demokratisch zustande kommen.[40]

Dieser Widerspruch zwischen Föderalismus und Demokratie ist aber gewollt. Die Kantone bestanden schon vor 1848, währenddessen die Bundesverfassung von 1848 das schweizerische Volk als Verfassungsorgan neu schuf. Die Kantone traten unter der Bedingung in den Bund ein, dass ihr Fortbestehen gesichert ist. Mit der Standesstimme steht ihnen ein Mittel zur Hand, mit dem sie einer vom Volksmehr ermöglichten Zentralisierung Einhalt gebieten und ihre Autonomie und Souveränität schützen können. Das Erfordernis des Ständemehrs ist das mit Abstand wirksamste Mittel der Kantone zu ihrer Behauptung im Bundesstaat. Der Ständerat erwies sich dagegen für den Föderalismus als ineffektiv[40] – allen voran wegen des Instruktionsverbots (Art. 161 Abs. 1 BV), das verlangt, dass die National- und Ständeräte ohne Weisung stimmen. Auch die Ständeräte sind Abgeordnete der Bundesversammlung (wie die US-Senatoren) und keine Delegierten der Kantone (anders als die Mitglieder des deutschen Bundesrats).[41]

Verhältnis von Regierung und Parlament

Dem Schweizer Staatswesen liegt eine Gewaltenteilung zugrunde, die dem Schutz der Grundrechte, des Föderalismus und der Demokratie dient. Das Konzept der Gewaltenteilung geht auf den Staat des 19. Jahrhunderts zurück und vermag die vorherrschende Staatswirklichkeit nicht adäquat zu beschreiben. Es beruht zu sehr auf der Trennung der Gewalten und berücksichtigt deren Zusammenwirken nur unzureichend; zudem überlappen die Funktionen der drei klassischen Gewalten. So ist der Bundesrat die oberste Exekutivbehörde, doch ist ihm ein wichtiger Teil der Rechtsetzung – die zentrale Aufgabe des Parlaments – zugewiesen (Art. 182 BV: Verordnungsgebung).[42]

Der Bundesversammlung kommt eine starke Rolle im Gewaltengefüge zu. Nach Art. 148 Abs. 1 BV übt sie die «oberste Gewalt», unter Vorbehalt der Volksrechte (Parlamentssuprematie). Daraus folgt aber keine rigorose hierarchische Abstufung in dem Sinne, dass die Exektuvie bloss das Recht, das von der übergeordneten Legislative erlassen wurde, vollzieht (das wird schon daran ersichtlich, dass die Bundesversammlung nicht die oberste Gewalt ist, sondern sie nur ausübt[43]).[44] Wegen der Vormachtstellung des Parlaments kennt die Schweiz als die Vereinigten Staaten kein System der checks and balances. Die schweizerische Regierung verfügt über keine rechtlichen Mittel, kein Vetorecht bei Parlamentsbeschlüssen, um die Gewalt der Bundesversammlung zu begrenzen; die hemmenden Befugnisse sind vor allem dem Parlament übertragen (Art. 169 BV, Oberaufsicht der Bundesversammlung über den Bundesrat und die Bundesverwaltung). Das Parlament untersteht seinerseits der Kontrolle des Volkes und derjenigen der Medien.[44] Über die personelle Gewaltenteilung hinaus wird die Regierung nicht vom Volk, sondern dem Parlament gewählt. Das Parlament verfügt über umfassende Informations- und Initiativrechte, und dessen Erlasse können vom Bundesgericht nicht wegen Verfassungswidrigkeit aufgehoben werden.[45]

Konkordanzdemokratie

Politische Entscheidungen werden in der Schweiz nach dem Modell einer Konkordanzdemokratie gefällt, die sich zwischen den Extremen der reinen Konkurrenzdemokratie, in der für einen Beschluss genügen 50 Prozent plus eine Stimme genügen, und der Konsensdemokratie, in der fast alle mit dem Beschluss einverstanden sein müssen, bewegt. Im konkurrenzdemokratischen System wird alles nach dem Willen der parlamentarischen Mehrheit entschieden. Die von ihr gebildete Regierung kann ihr politisches Programm durchsetzen, ohne dabei Rücksicht auf andere Parteien und Gruppierungen nehmen zu müssen. Referenden sind konkurrenzdemokratischen Systemen folglich fremd. Die Konsensdemokratie bezeichnet dagegen ein politisches System, das wesentlich auf Verhandlungen zwischen den einzelnen politischen Kräften basiert.[46] In der schweizerischen Konkordanzdemokratie streben die die politischen Akteure danach, möglichst grosse Mehrheiten zu bilden, Minderheiten zu integrieren und möglichst alle politischen Kräfte zu vertreten. Zentrales Kennzeichen der Konkordanzdemokratie ist deshalb das ständige Suchen von Kompromissen. Die stärkste Ausprägung dessen findet sich in der Organisation des Bundesrats, der als Kollegialbehörde die Geschicke lenkt. Die Zusammensetzung des Gremiums folgt der sogenannten Zauberformel, die einen bestimmten Parteienproporz bestimmt.[47] Auch die Zusammensetzung des Bundesgerichts entspricht weitgehend den parlamentarischen Kräfteverhältnissen. Die Bundesversammlung möchte damit erreichen, dass auch die politischen Richtungen verhältnismässig vertreten werden.[48]

Für die Schweizer Konkordanzdemokratie ist das Fehlen einer festgelegten Opposition, wie es sie in Deutschland oder den Vereinigten Staaten gibt, zentral. Stattdessen existiert eine Koalition, die alle grossen Parteien umfasst. Sie verantwort die Regierungsgeschäfte, während die ausserparlamentarischen Kräfte mittels direktdemokratischer Rechte punktuell opponieren. Deswegen haben wechselnde Kräfteverhältnisse im Parlament weniger Einfluss auf die Regierungspolitik als in Konkurrenzdemokratien. Die Konkordanzdemokratie ist darauf ausgerichtet, die Autonomie subnationaler Einheiten (Gliedstaaten, Regionen, Gemeinden) zu schonen, und sie ist in der Lage, gesellschaftliche Gruppen, die sich religiös, sprachlich oder ethnisch voneinander abgrenzen, zu integrieren. Damit eine Konkordanzdemokratie funktionieren kann, ist es elementar, dass die politischen Eliten der verschiedenen Gruppen miteinander kooperieren.[49]

Die Möglichkeit für Schweizer Stimmbürger, ein fakultatives Referendum zu ergreifen, war massgeblich für die Herausbildung der Konkordanzdemokratie verantwortlich. Bundesrat und Parlament ist es daran gelegen, eine Vorlage möglichst «referendumssicher» ausgzugestalten, um eine Abstimmung zu verhindern, bei der sie möglicherweise vom Volk abgelehnt wird. Durch das Referendum konnte ein grosser Bevölkerungsteil politisch partizipieren.[50]

Kategorien direktdemokratischer Rechte

Referendum

Mit dem Referendum bestätigt oder verwirft das Volk einen parlamentarischen Beschluss, wobei der Abstimmungstext nicht geändert werden kann. Der Beschluss des Parlaments ist somit nicht endgültig, sondern bedarf – entweder zwingend oder auf Verlangen der Stimmberechtigten – der Zustimmung des Volkes. Negative Entscheide, also die Ablehnung eines Beschlusses, unterstehen grundsätzlich nicht dem Referendum.[51] Das konstruktive Referendum ist ein Sonderfall des Referendums, da es die einzige Ausformung des Referendums ist, mit dem das Volk den Inhalt tatsächlich bestimmen kann. Es gibt einer bestimmten Zahl von Stimmberechtigten das Recht, einem Erlass, der dem fakultativen Referendum untersteht, einen Gegenentwurf gegenüberzustellen. Das konstruktive Referendum existiert auf Bundesebene nicht.[52] Eine Volksinitiative, die es auf Bundesebene einführen wollte, wurde 2001 mit 65,9 % Nein-Stimmen abgelehnt.[53]

Ein Referendum ist obligatorisch oder fakultativ. Das obligatorische Referendum unterstellt einen Parlamentsbeschluss von Amtes wegen der Volksabstimmung. Auf einen Beschluss des Parlaments muss daher eine Volksabstimmung folgen. Das fakultative Referendum wird hingegen von einem Teil der Stimmberechtigten oder von anderen Akteuren ausdrücklich verlangt. Ob ein Erlass dem fakultativen respektive dem obligatorischen Referendum untersteht, bestimmt die Verfassung oder das Gesetz.[54]

Das Referendum entfaltet bremsende Wirkung – im Gegensatz zur Volksinitiative. Während Volksinitiaven selten angenommen werden (es ist jedoch eine Tendenz zu erfolgreichen Initiativen auf Bundesebene festzustellen), haben Referenden eine erhebliche Chance, Beschlüsse des Parlamments zu Fall zu bringen. Das liegt vor allem an der grössen Personenzahl, die ein Referendum hinter sich vereinigen kann. Das sind zum einen die Anhänger des bisherigen Zustandes und die Befürworter kleinerer Änderungen, die finden, ein Beschluss sei unnötig oder wolle zu viel. Hinzu kommen kommen noch jene Kreise, denen der Beschluss zu wenig weit geht, und die sogenannten «chronischen Neinsager».[55]

Da Parlamentsvorlagen verhältnismässig leicht in der Volksabstimmung umgeworfen werden können, hat das Referendum erhebliche Vorwirkungen auf die Ausarbeitung des Beschlusses. Die Regierung und das Parlament sind bestrebt, eine Vorlage so auszuarbeiten, dass sich alle gewichtigen politischen Akteure mit ihr identifizieren können – sie soll so «referendumssicher» wie möglich sein. Das Referendum trug deswegen einen wichtigen Teil zur Ausformung der schweizerischen Konkordanzdemokratie bei. Aber auch wenn eine Vorlage in der abgelehnt wird, greift sie das Parlament zum Teil wieder auf, wobei jene Argumente, die im Abstimmungskampf dominierten, mit einbezogen werden.[56]

Initiativen

Mit der Initiative kann eine bestimme Zahl an Stimmberechtigten entweder direkt dem Volk oder zunächst dem Parlament einen Beschluss vorschlagen. Während das Referendum an einen Beschluss des Parlaments anknüpft, unterbreitet die Initiative einen Vorschlag. Sie unterscheidet sich jedoch grundlegend von anderen Vorschlagsrechten, zum Beispiel der Petition. Mit einer Petition (Art. 33 BV) kann jedermann den Behörden, auch dem Parlament, ein Anliegen vortragen; doch muss die Petition nicht einmal beantwortet werden.[57]

Nicht nur das Volk, sondern ebenfalls die einzelnen Parlamentsmitglieder und die Regierung, im Bund auch die beiden Kammern der Bundesversammlung (parlamentarische Initiative) und die Kantone (Standesinitiative) verfügen über ein Initiativrecht (Art. 160 und Art. 181 BV). Dem Parlament steht es jedoch frei, diesen Auftrag weiterzuverfolgen oder ihn zu verwerfen. Gleiches gilt für Volksmotionen. Die Volksinitiative führt hingegen zur Volksabstimmung, entweder immer oder zumindest dann, wenn ihr nicht entsprochen wird (siehe Art. 138 Abs. 2 und Art. 139 Abs. 4 und 5 BV), denn ihr kann ein Gegenentwurf unterbreitet werden, und die Initianten können die Initiative zu dessen Gunsten zurückziehen.[57]

Volksinitiativen nehmen in der Schweiz verschiedene Formen an. Die beiden wichtigsten sind die allgemeine Anregung und der ausgearbeitete Entwurf. Mit der allgemeinen Anregung wird das Parlament angewiesen, in bestimmter Weise tätig zu werden. Die Gesetzesinitiative in der Form der allgemeinen Anregung beispielsweise verlangt, dass ein Gesetz in bestimmter Weise geändert werden soll. Die Ausarbeitung des Gesetzestextes ist Sache des Parlaments; die allgemeine Anregung gibt nur die Richtung der Revision an. Der ausgearbeitete Entwurf hingegen überlässt dem Parlament keinen Spielraum, die Bestimmung zu konkretisieren und schlägt einen endgültigen Wortlaut vor. Der ausgearbeitete Entwurf ist die radikalere und durchsetzungskräftigere Form der Volksinitiative und entsprechend wesentlich beliebter als die allgemeine Anregung (20 der ca. 500 lancierten Initiativen waren in der Form der allgemeinen Anregung.) Mit einer Initiative kann ebenso ein Verfahren auf Totalrevision, z. B. der Verfassung, begonnen werden. (Art. 138). Nebst der Volksinitiative kennt der Kanton Zürich eine Behörden- oder Einzelinitiative.[58]

Aus demokratischen Gesichtspunkten ist die Volksinitiative radikaler als das Referendum, da das Parlament umgangen wird. Während das Referendum konservativ wirkt, ist die Volksinitiative dynamisch. Sie vermag die bremsenden Wirkungen des Referendums teilweise zu kompensieren, indem sie die politische Innovation – ob direkt oder indirekt – fördert (siehe die Solarinitiative von 2000). Zudem führt sie zur stärkeren Berücksichtigung jener politischen Akteure, deren Interessen im repräsentativ-demokratischen System vernachlässigt werden.[59] Sie trägt auch der Tatsache Rechnung, dass der einzelne Stimmberechtigte je nach Sachgebiet einmal zur Mehrheit und ein anderes Mal zu einer Minderheit gehört. Diesen zahlreichen Minderheiten gibt das Initiativrecht die Möglichkeit, sich im Volk gegen die Parlamentsmehrheit in einer bestimmten Frage durchzusetzen.[60]

Entgegen ihrer eigentlichen Funktion, eine Volksabstimmung herbeizuführen, versuchen Initiativen zunehmend, das Parlament in ihrem Sinn zu beeinflussen und zur Ausarbeitung eines Gegenentwurfs zu bewegen, zu dessen Gunsten die Initiative meistens zurückgezogen wird. Auch Initiativbegehren, die in der Abstimmung verworfen werden, sich jedoch vergleichsweise einer hohen Unterstützung erfreuten, können die Tätigkeit des Parlaments beeinflussen.[61]

Ökonomische Aspekte der direkten Demokratie

Die über 150-jährige Geschichte des Bundesstaates ist eine Erfolgsgeschichte. Die Schweiz blieb nicht nur von Kriegen verschont, sie hat sich von einem der ärmsten Länder zum Flächenstaat mit einem der höchsten Lebensstandards entwickelt. Während in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts viele Schweizer aus wirtschaftlichen Gründen nach Amerika auswanderten, ist die Schweiz zu einem Einwanderungsland mit der höchsten Ausländerquote Europas geworden. Die Schweiz verdankt diese positive Entwicklung vor allem ihrer föderalen Struktur sowie den direkten Volksrechten, die den Bürgern eine starke Identifikation mit ihrem politischen System ermöglichen.

Die systematische Erforschung mit Hilfe ökonomisch-statistischer Verfahren zeigt, dass die direkte Demokratie in aller Regel besser abschneidet als die (rein) repräsentative Demokratie. Studien zeigen, dass die direkte Demokratie der Schweiz nicht nur modern und erfolgreich, sondern auch entwicklungs- und sogar exportfähig ist.[2]

Der Ökonom und Glücksforscher Bruno Frey untersuchte die Möglichkeiten zur politischen Mitbestimmung in den Kantonen und stellte fest, dass die Menschen dort, wo es mehr Mitbestimmung gibt und die Hürden für direkte Volksabstimmungen kleiner sind, glücklicher sind.[62]

Die Effizienz der direkten Demokratie zeigt sich zum Beispiel daran, dass es in den 1990er Jahren mit Zustimmung des Volkes und trotz des Einflusses von Interessengruppen gelungen ist, drastische Massnahmen zur Begrenzung des staatlichen Defizites und der Ausgaben sowie einen Schuldenabbau durchzusetzen (Schuldenbremse).[63][64]

Wie Vergleichsstudien zeigen, bewirken direkte Volksrechte, dass im Durchschnitt etwa dreissig Prozent weniger Steuern hinterzogen werden und Staatsausgaben und Staatsschulden geringer sind. Die politischen Institutionen sind effizienter, und das wirtschaftliche System weist eine höhere Produktivität aus.[65]

Identitätsstifter und gelebte Solidarität

Die direkte Demokratie braucht gemeinschaftliche Werte, die durch Erziehung und Bildung schon beim zukünftigen Stimmbürger gelegt und im politischen Bereich vorgelebt werden müssen. Im schweizerischen Bundesstaat leben unterschiedliche Kulturen und Sprachgemeinschaften gleichwertig nebeneinander und miteinander. Die Achtung der Verschiedenartigkeit und der Wunsch nach Erhalt grösstmöglicher Freiheit im Innern wie nach aussen bilden dabei ebenso die Grundlage des föderalistischen Staatsaufbaus wie der Ausgleich zwischen Starken und Schwachen im Sinne gegenseitiger Hilfe und Solidarität. Humanitäre Aktionen wurden schon im 19. Jahrhundert auf die ganze Welt ausgeweitet. Die im Jahr 1919 gegründete Stiftung Schweizerische Nationalspende für unsere Soldaten und ihre Familien (SNS) ist ein Zeichen der starken Solidarität zwischen der Zivilbevölkerung und der Milizarrmee.

Das 1863 vom Schweizer Henry Dunant gegründete Internationale Komitee vom Roten Kreuz, dessen Neutralität sich auf diejenige der Schweiz abstützt, wurde zum weltweiten Vorbild humanitärer Ideen und Rechtsgrundsätze. Dazu gehören auch die regelmässigen Spendenaktionen der Schweizer Bevölkerung – wie die Schweizer Spende nach dem Zweiten Weltkrieg – zur Linderung der Not in der Welt.

Der Genfer Guillaume Henri Dufour (1787–1875) war in vielfacher Weise an der Entwicklung der Eidgenossenschaft zu einem föderalistischen Bundesstaat beteiligt. Er schuf mit der Dufourkarte die erste Landeskarte der Schweiz und machte den Vorschlag für das Staatswappen mit dem weissen Kreuz im roten Feld. Im Sonderbundskrieg von 1847 konnte Dufour nicht nur einen Zusammenbruch der Eidgenossenschaft durch eine Intervention ausländischer Mächte verhindern, sondern er schuf durch die strikte Einhaltung humanitärer Grundsätze bei den Kampfhandlungen eine Basis der Versöhnung, die den zerstrittenen Kantonen ermöglichte, sich bereits 1848 für einen gemeinsamen Bundesstaat zu einigen. Er setzte sich für eine glaubwürdige bewaffnete Neutralität ein, in dem er die erste eidgenössische Militärschule in Thun mitgründete und dort als Militärpädagoge lehrte, Festungen baute und als General bei Konflikten (Neuenburgerhandel, Savoyerhandel usw.) Übergriffe auf die Schweiz verhinderte. Als Vertreter einer weltoffenen, humanitären Schweiz war er massgeblich an der Gründung des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz beteiligt und wurde dessen erster Präsident.

Bedrohungen

Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es Anzeichen, dass der Bundesrat vom sogenannten Vollmachten-Regime, das er und das Parlament kriegs- und wirtschaftskrisenbedingt beansprucht hatten, zu weiten Teilen nicht mehr abrücken wollte. Aus diesem Grund wurde die Eidgenössische Volksinitiative «Rückkehr zur direkten Demokratie» lanciert, die in der Volksabstimmung vom 11. September 1949 knapp gutgeheissen wurde.

Literatur

Commons: Direkte Demokratie in der Schweiz – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. Gemäss der Univox II B-Umfrage zu den direktdemokratischen Einrichtungen 2006/2007 möchten 58 % der Befragten den Status quo der direktdemokratischen Institutionen beibehalten, 25 % sind für einen Ausbau und weniger als 10 % für eine Einschränkung (Archiv).
  2. a b Gebhard Kirchgässner, Lars P. Feld, Marcel R. Savioz: Die direkte Demokratie: Modern, erfolgreich, entwicklungs- und exportfähig. Helbling & Lichtenhahn, Basel/ Genf/ München 1999, ISBN 3-7190-1837-7.
  3. Wege zur direkten Demokratie in den schweizerischen Kantonen.
  4. Forum zur Erforschung der direkten Demokratie. (Memento vom 21. Februar 2014 im Internet Archive)
  5. Randolph C. Head: Demokratie im frühneuzeitlichen Graubünden. Chronos-Verlag, Zürich 2001, ISBN 3-0340-0529-6.
  6. Demokratie in der Schweiz – Länderbericht 2008/2009.
  7. Gebhard Kirchgässner: Direkte Demokratie. Universität St. Gallen, 2010.
  8. Randolph C. Head; Verein für Bündner Kulturforschung (Hrsg.): Demokratie im frühneuzeitlichen Graubünden. Gesellschaftsordnung und politische Sprache in einem alpinen Staatswesen, 1470–1620. Chronos, Zürich 2001, ISBN 3-0340-0529-6.
  9. Eduard His: Luzerner Verfassungsgeschichte der neuern Zeit (1798–1940). Luzern 1940.
  10. NZZ vom 17. April 2019: Der Tag, an dem Zürich sich für eine «wahrhaft demokratische» Verfassung entscheidet
  11. René Roca (Hrsg.): Katholizismus und moderne Schweiz. Beiträge zur Erforschung der Demokratie. Band 1, Schwabe Verlag, Basel 2016, ISBN 978-3-7965-3498-0.
  12. René Roca (Hrsg.): Liberalismus und moderne Schweiz. Beiträge zur Erforschung der Demokratie. Band 2, Schwabe Verlag, Basel 2017, ISBN 978-3-7965-3639-7.
  13. René Roca (Hrsg.): Frühsozialismus und moderne Schweiz. Beiträge zur Erforschung der Demokratie. Band 3, Schwabe Verlag, Basel 2018, ISBN 978-3-7965-3819-3.
  14. Hangartner, Kley et al.: Die demokratischen Rechte in Bund und Kantonen der Schweizerischen Eidgenossenschaft. 2. Auflage. 2023, S. 133.
  15. Hangartner, Kley et al.: Die demokratischen Rechte in Bund und Kantonen der Schweizerischen Eidgenossenschaft. 2. Auflage. 2023, S. 135 f.
  16. Jörg Paul Müller, Giovanni Biaggini: Die Verfassungsidee angesichts der Gefahr eines Demokratieabsolutismus. In: Zentralblatt für Staats- und Verwaltungsrecht. Mai 2015, S. 236 f.
  17. Jörg Paul Müller, Giovanni Biaggini: Die Verfassungsidee angesichts der Gefahr eines Demokratieabsolutismus. In: Zentralblatt für Staats- und Verwaltungsrecht. Mai 2015, S. 240 f.
  18. Adrian Vatter: Das politische System der Schweiz. 4. Auflage. 2020, S. 351.
  19. Vatter: Das politische System der Schweiz. 2020, S. 351; Rhinow/Schefer/Uebersax: Schweizerisches Verfassungsrecht. 2016, Rz. 2055
  20. Berhard Ehrenzeller: Direkt, halbdirekt oder einfach: demokratisch? In: Zentralblatt für Staats- und Verwaltungsrecht. Nr. 11, 2016, S. 566.; Biaggini: BV Kommentar Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft. 2017, S. 1074.; Kaspar Ehrenzeller: St. Galler Kommentar. 2023, S. 3596 Rz. 8
  21. Hangartner, Kley et al.: Die demokratischen Rechte in Bund und Kantonen. 2. Auflage. 2023, S. 136.
  22. René Rhinow, Markus Schefer, Markus Uebersax: Schweizerisches Verfassungsrecht. 3. Auflage. 2016, S. 424.
  23. Übersicht in Zahlen. Bundeskanzlei, abgerufen am 20. Juli 2023.
  24. Andreas Kley: Verfassungsrecht der Schweiz. 2. Auflage. Band 1, 2020, S. 88.
  25. Hangartner, Kley et al.: Die demokratischen Rechte in Bund und Kantonen der Schweizerischen Eidgenossenschaft. 2. Auflage. 2023, S. 138 f.
  26. Johannes Reich: Verfassungsrecht der Schweiz. 2. Auflage. Band 1, 2020, S. 340.
  27. a b Daniel Kübler: Verfassungsrecht der Schweiz. 2. Auflage. Band 1, 2020, S. 326.
  28. Johannes Reich: Verfassungsrecht der Schweiz. 2. Auflage. Band 1, 2020, S. 350 f.
  29. Anna Christmann: Die Grenzen direkter Demokratie: Volksentscheide im Spannungsverhältnis von Demokratie und Rechtsstaat (= Politik und Demokratie in den kleineren Ländern Europas). 1. Auflage. Nomos, Baden-Baden 2012, ISBN 978-3-8329-7337-7, S. 86.
  30. Andreas Kley, Alexander Schaer: Gewährleistet die Religionsfreiheit einen Anspruch auf Minarett und Gebetsruf? 2009, S. 98, doi:10.5167/UZH-23694 (uzh.ch).
  31. Guisep Nay: Demokratie und Rechtsstaat – Eckpfeiler unseres Verfassungsstaates. In: Georg Kreis (Hrsg.): Erprobt und entwicklungsfähig: zehn Jahre neue Bundesverfassung. Neue Zürcher Zeitung, Zürich 2009, ISBN 978-3-03823-519-4, S. 173.
  32. Regina Kiener, Melanie Krüsi: Bedeutungswandel des Rechtsstaates und Folgen für die (direkte) Demokratie am Beispiel völkerrechtswidriger Volksinitiativen. In: Zentralblatt für Staats- und Verwaltungsrecht. Nr. 110, Januar 2009, S. 237–258.
  33. Pierre Tschannen: Staatsrecht der Schweizerischen Eidgenossenschaft (= Stämpflis juristische Lehrbücher). 5. Auflage. Stämpfli Verlag, Bern 2021, ISBN 978-3-7272-8928-6, S. 98, Rz. 251.
  34. Benjamin Schindler: Die schweizerische Bundesverfassung: St. Galler Kommentar. 4. Auflage. Band 1, 2023, ISBN 978-3-03891-222-4, S. 214.
  35. Pierre Tschannen: Staatsrecht der Schweizerischen Eidgenossenschaft (= Stämpflis juristische Lehrbücher). 5. Auflage. Stämpfli Verlag, Bern 2021, ISBN 978-3-7272-8928-6, S. 99.
  36. Kaspar Ehrenzeller: Die schweizerische Bundesverfassung: St. Galler Kommentar. 4. Auflage. Band 2, 2023, S. 3596 f.
  37. Andreas Kley: Verfassungsrecht der Schweiz. 2. Auflage. Band 1, 2020, S. 628.
  38. Andreas Kley: Verfassungsrecht der Schweiz. 2. Auflage. Band 1, 2020, S. 636.
  39. Pierre Tschannen: Staatsrecht der Schweizerischen Eidgenossenschaft (= Stämpflis juristische Lehrbücher). 5. Auflage. Stämpfli Verlag, Bern 2021, ISBN 978-3-7272-8928-6, S. 100.
  40. a b Andreas Kley: Verfassungsrecht der Schweiz. 2. Auflage. Band 1, 2020, S. 629.
  41. Giovanni Biaggini: BV Kommentar Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft. 2. Auflage. 2017, S. 1229.
  42. René Rhinow, Markus Schefer, Peter Uebersax: Schweizerisches Verfassungsrecht. 3. Auflage. 2016, S. 430 f.
  43. Biaggini: BV Kommentar: Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft. 2. Auflage. 2017, S. 1170.
  44. a b René Rhinow, Markus Schefer, Peter Uebersax: Schweizerisches Verfassungsrecht. 3. Auflage. 2020, S. 432 f.
  45. Adrian Vatter: Das politische System der Schweiz. 4. Auflage. 2020, S. 266.
  46. Andreas Kley: Verfassungsrecht der Schweiz. 2. Auflage. Band 1, 2020, S. 90.
  47. Bernhard Ehrenzeller: Die schweizerische Bundesverfassung: St. Galler Kommentar. 4. Auflage. Band 1, 2023, S. 4153 f.
  48. Pierre Tschannen: Staatsrecht der Schweizerischen Eidgenossenschaft. 5. Auflage. Bern 2021, ISBN 978-3-7272-8928-6, S. 543.
  49. Andreas Kley: Verfassungsrecht der Schweiz. 2. Auflage. Band 1, 2020, S. 91.
  50. René Rhinow, Markus Schefer, Peter Uebersax: Schweizerisches Verfassungsrecht. 3. Auflage. 2016, S. 387–389, S. 424.
  51. Hangartner, Kley et al.: Die demokratischen Rechte in Bund und Kantonen der Schweizerischen Eidgenossenschaft. 2. Auflage. 2023, S. 153.
  52. Hangartner, Kley et al.: Die demokratischen Rechte in Bund und Kantonen der Schweizerischen Eidgenossenschaft. 2. Auflage. 2023, S. 156.
  53. Initiative für ein konstruktives Referendum. In: Swissvotes. Institut für Politikwissenschaft der Universität Bern, abgerufen am 20. Juni 2023.
  54. Hangartner, Kley et al.: Die demokratischen Rechte in Bund und Kantonen der Schweizerischen Eidgenossenschaft. 2. Auflage. 2023, S. 154 f.
  55. Hangartner, Kley et al.: Die demokratischen Rechte in Bund und Kantonen der Schweizerischen Eidgenossenschaft. 2. Auflage. 2023, S. 164.
  56. Hangartner, Kley et al.: Die demokratischen Rechte in Bund und Kantonen der Schweizerischen Eidgenossenschaft. 2. Auflage. 2023, S. 164 f.
  57. a b Hangartner, Kley et al.: Die demokratischen Rechte in Bund und Kantonen der Schweizerischen Eidgenossenschaft. 2. Auflage. 2023, S. 163.
  58. Hangartner, Kley et al.: Die demokratischen Rechte in Bund und Kantonen der Schweizerischen Eidgenossenschaft. 2. Auflage. 2023, S. 164 f.
  59. Adrian Vatter: Das politische System der Schweiz. 4. Auflage. 2020, S. 392.
  60. Hangartner, Kley et al.: Die demokratischen Rechte in Bund und Kantonen der Schweizerischen Eidgenossenschaft. 2. Auflage. 2023, S. 167.
  61. Hangartner, Kley et al.: Die demokratischen Rechte in Bund und Kantonen der Schweizerischen Eidgenossenschaft. 2. Auflage. 2023, S. 168.
  62. Bruno S. Frey: Wie vertragen sich direkte Demokratie und Wirtschaft? In: Neue Zürcher Zeitung. 19. März 2014.
  63. Marcel Amrein: Schuldenbremse: Diese Kuh verdient es, heilig zu sein In: Neue Zürcher Zeitung. 19. Oktober 2016.
  64. Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich: Eine Schuldenbremse für den deutschen Bundeshaushalt, Zürich März 2007. (PDF)
  65. Gebhard Kirchgässner: Auswirkungen der direkten Demokratie auf die öffentlichen Finanzen: Empirische Ergebnisse für die Schweiz. (PDF) In: Schweizerische Zeitschrift für Volkswirtschaft und Statistik. 2002, Vol. 138 (4), S. 411–426.