Unternehmen Wüste

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Unternehmen „Wüste“ war der Deckname für ein Projekt des NS-Regimes im heutigen Zollernalbkreis im südlichen Baden-Württemberg, um im Rahmen des Geilenberg-Programms Treibstoff aus Ölschiefer zu gewinnen.

Überblick[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs brauchte die deutsche Kriegswirtschaft Mineralöle dringender als irgendeinen anderen Rohstoff. So war die deutsche Führung ab Ende 1943 gezwungen, neue Ölquellen zu erschließen. Die von der Wehrmacht eroberten sowjetischen Ölfelder waren nach der Niederlage bei Stalingrad 1943 verloren gegangen. Die kriegswichtigen rumänischen Rohölquellen im Gebiet von Ploiești wurden durch das Vorrücken der Roten Armee sowie durch die alliierten Luftangriffe auf Ploiești bedroht (nach der alliierten Landung in Italien veränderte sich der Einsatzradius der alliierten Luftflotten durch die Gewinnung italienischer Stützpunkte).

Ab Mai 1944 begann die große alliierte Luftoffensive, mit dem Teilziel durch die Bombardierung der Energieversorgungszentren die Ölproduktion in Deutschland entscheidend zu treffen und die Benzinvorräte stark zu dezimieren. Die USAAF und die Royal Air Force flogen zentrierte Luftangriffe gegen alle Hydrierwerke und Raffinerien im deutschen Einflussbereich, wie die Leunawerke, die Brabag-Werke in Böhlen bei Leipzig oder die Hydrierwerke Pölitz bei Stettin. Immer mehr motorisierte Truppenteile waren aus Treibstoffmangel nicht mehr voll einsatzfähig. Im Mai 1944 wurden 156.000 Tonnen Flugbenzin produziert; im Juli waren es nur 29.000 Tonnen.

Die teilweise Umrüstung der Fahrzeuge auf Holzvergaser brachte keine zufriedenstellende Lösung. Die Holzvergaseranlagen eigneten sich wegen ihres schlechten Wirkungsgrades nur für PKW und Lastwagen, nicht aber für Motorräder oder Kampffahrzeuge wie Panzer und Schützenwagen. Entlastung bringen sollte das bereits bekannte Verfahren, aus dem Lias-Ölschiefer Treibstoff zu gewinnen. Dabei waren mit den damals bekannten Verfahren nur sehr geringe Schieferölmengen zu erwarten, die man in Dieselmotoren mit Glühkopf verwenden konnte. Das Deutsche Reich befand sich jedoch in einer sehr prekären kriegswirtschaftlichen Notlage, so dass auch ineffiziente Produktionsverfahren zum Einsatz gelangten.

Versuchsanlagen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Um den gefährdeten Treibstoffnachschub zu sichern, plante das Naziregime, aus dem Ölschiefer des Lias epsilon Mineralöl für Panzer und Kampfflugzeuge zu gewinnen. Das Ölschiefervorkommen am Rand der Schwäbischen Alb erstreckt sich oberflächennah auf etwa 150 Kilometer Länge. Wegen seiner Reichhaltigkeit an Fossilien der Muschel „Posidonomya bronni“ (Bositra buchii) wird er auch als Posidonienschiefer bezeichnet. Sein Abbau und seine Nutzung haben im Bereich der Westalb eine lange Geschichte.

Zur Erprobung einer industriellen Ölgewinnung wurden drei Versuchsanlagen mit drei verschiedenen Verfahren errichtet:

  • Im September 1942 wurde die „LIAS-Ölschiefer-Forschungsgesellschaft mbH“ gegründet. Sie begann im Frühjahr 1943 mit dem Bau eines Werkes in Frommern. Es nutzte ein an der Universität Stuttgart entwickeltes und erstmals in Metzingen erprobtes Schwelverfahren im sogenannten Schweizer-Ofen und damit das am weitesten entwickelte Verfahren. Das KZ Frommern wurde am 1. März 1944 errichtet[1]; erste Erwähnung im Verzeichnis des Internationalen Suchdiensts am 22. Mai 1944.[2]
  • Ihr folgte am 30. Juli 1943 die vom „Kohlewertstoff-Verband der Großdeutschen Schachtbau GmbH“, ein Konzernunternehmen der „AG Reichswerke „Hermann Göring““, und der „Mannesmannröhren-Werke AG“ gegründete „Kohle-Öl-Union von Busse KG“ (KÖU) mit Sitz in Berlin. Sie errichteten am Ortsausgang von Schörzingen ein Untertagewerk zur Erprobung des Verfahrens und der Vorrichtung zum Untertageschwelen und -vergasen von brennbaren Stoffen. Der Ölschiefer wurde hier unterirdisch abgebaut und sogleich erhitzt und verschwelt. Für den Bau sollten ab Mitte Januar 1944 200 bis 300 KZ-Häftlinge in Zwangsarbeit herangezogen werden. Der Häftlingstransport verzögerte sich bis Februar 1944. Das KZ Schörzingen wurde zum ersten Mal schriftlich in einer Anlage zum „Schutzhaftlagerrapport“ des KZ Natzweiler vom 29. Februar 1944 erwähnt. Im vorausgegangenen Bericht vom 31. Januar 1944 wird es nicht genannt.[3]
  • Am 20. September 1943 wurde durch das Reichsamt für Wirtschaftsausbau (RWA) die „Deutsche Ölschiefer-Forschungsgesellschaft mbH“ (DÖLF) gegründet, um in Schömberg eine Versuchsanlage zu betreiben und das neue Meilerschwelverfahren zu erproben. Es sollte später in den untenstehenden Werken eingesetzt werden. Das KZ Schömberg, auch „Bahnhofs-KZ“ genannt, weil es in der Nähe des Bahnhofs gegenüber der Versuchsanlage der DÖLF an der Wellendinger Straße errichtet wurde – war das erste der sieben Wüste-Lager. Am 16. Dezember 1943 trafen die ersten Häftlinge ein.

Unternehmen „Wüste“[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Trotz der unbefriedigenden Ergebnisse der bis dahin durchgeführten Versuche zur Ölgewinnung aus Ölschiefer ordnete Albert Speer, Reichsminister für Rüstung und Kriegsproduktion, im Rahmen des „Geilenberg-Programms“, benannt nach Edmund Geilenberg, Generalkommissar für die Sofortmaßnahmen beim Reichsministerium für Rüstung und Kriegsproduktion, im Juli 1944 die Nutzung des Ölschiefervorkommens am Rande der Schwäbischen Alb an.

Das Deutsche Reich trieb unter dem Decknamen Unternehmen „Wüste“ in kürzester Zeit den Bau von zehn Ölschieferwerken in Württemberg und den Hohenzollerischen Landen voran und plante, den Ölschiefer auf einer Fläche von rund 110 Quadratkilometer ausschließlich von KZ-Häftlingen gewinnen zu lassen. An dem groß angelegten Projekt waren mehrere miteinander konkurrierende Organisationen, Ministerien, eigens gegründete Forschungsinstitute und Firmen beteiligt, zum Beispiel die „IG-Farben“ in Leuna, die „Deutsche Ölschieferforschungs-Gesellschaft“ (DÖLF) in Berlin und Schömberg, die „Kohle-Öl-Union“ in Schörzingen, die „LIAS-Forschungsgesellschaft mbH“ in Frommern, die „Deutsche Schieferöl GmbH“ in Erzingen – ein SS-eigener Betrieb –, die Organisation Todt (OT), die SS und die Deutsche Bergwerks- und Hüttenbaugesellschaft (DBHG) – eine Tochtergesellschaft der Reichswerke Hermann Göring.

Abbruchkante des ehemaligen Ölschieferabbaugeländes im „Kuhloch“ bei Bisingen (2022)

Die SS ließ an der Zollernalb, entlang der Bahnlinie Tübingen–Aulendorf und der Nebenstrecke Balingen-Rottweil, sieben KZ-Außenlager des KZ Natzweiler-Struthof zum Abbau des Ölschiefervorkommens und Gewinnung von Öl durch KZ-Häftlinge aufbauen. Die Lager lagen zwischen Hechingen und Rottweil, entlang dem Nordtrauf der Schwäbischen Alb. Die Ölschieferwerke wurden außerhalb der Konzentrationslager errichtet, dort wo die Ölschieferschicht, der Lias epsilon des Süddeutschen Juras, möglichst dicht unter der Erdoberfläche lag. Die Werke und Lager wurden als Eigenbetrieb der SS betrieben. Für das Unternehmen „Wüste“ stellte die SS in sieben Konzentrationslagern insgesamt über 10.000 Häftlinge zur Verfügung, die als Arbeitskräfte in den Ölschieferwerken ausgebeutet wurden und von denen mindestens 3.480 starben. Die SS bekam pro Häftling und Arbeitstag zwischen vier und sechs Reichsmark „Tagesmiete“. Die KZ-Häftlinge sollten nicht nur in den eigentlichen Steinbrüchen Zwangsarbeit für die Ölgewinnung leisten, sie mussten auch die gesamte Infrastruktur aufbauen.

Die zwischen September 1944 bis April 1945 in einer festen Bauzeit von zwei bis vier Monaten errichteten zehn Ölgewinnungswerke waren:

Die hochgesteckten Erwartungen des NS-Regimes erfüllten sich nicht: nur in vier von zehn Ölschieferwerken konnte bis Kriegsende die Produktion notdürftig anlaufen. Deren kriegswirtschaftlicher Nutzen kann als sehr gering angesehen werden. Das angewendete Meilerschwelverfahren war ineffektiv und durch den geringen Bitumen-Anteil (etwa fünf Prozent des Ölschiefers) war die Ausbeute sehr gering: Um eine Tonne Mineralöl zu gewinnen, mussten 35 Tonnen Ölschiefer verschwelt werden. Das Mineralöl war so minderwertig, dass es nur in speziellen Motoren verbrannt werden konnte. Bis Kriegsende wurden trotzdem rund 1500 Tonnen Mineralöl gewonnen.

Nachkriegszeit[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Nach dem Krieg übernahm die französische Besatzungsmacht das LIAS-Werk Frommern, in dem Internierte 500 Tonnen Öl pro Monat produzierten. Nach Beendigung der Zwangsverwaltung stellte der Württembergische Staat dort medizinische Salben her. Da die Erlöse nicht die Kosten deckten, wurde die Anlage 1949 zum Verkauf ausgeschrieben. Heute werden etwa 1000 Tonnen Ölschiefer pro Tag im Zollernalbkreis abgebaut.[4]

In Schörzingen erinnert seit 1989 die Gedenkstätte Eckerwald an das Unternehmen „Wüste“.

Das verwendete Ölgewinnungsverfahren der zehn Wüste-Werke[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Ölbehälter des Werks 2 im KZ Bisingen (2022)

Zunächst wurde der Lias-Ölschiefer im Tagebau händisch, mit Schaufel und Eimer, durch die KZ-Häftlinge abgebaut. Anschließend wurde je nach Standort das abgebaute Gestein mit Feldbahnen oder Seilbahnen abtransportiert. Die Extraktion des Öls fand im Meilerverfahren statt: Hierbei wird zunächst das Gestein aufgeschichtet, mit brennbaren Materialien und mit einer abschließenden Erdschicht abgedeckt. Durch Verschwelung verdampft das im Gestein gebundene Schweröl und wird in Destillationsanlagen kondensiert. Die gewonnenen Mengen sind äußerst gering und das Öl ist von sehr schlechter Qualität.

Siehe auch[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Michael Grandt: „Unternehmen Wüste. Hitlers letzte Hoffnung. Das NS-Ölschieferprogramm auf der Schwäbischen Alb“, 2002, Silberburg-Verlag Tübingen, ISBN 978-3-87407-508-4.
  • Christine Glauning: Entgrenzung und KZ-System. Das Unternehmen "Wüste" und das Konzentrationslager in Bisingen 1944/45 (= Reihe Geschichte der Konzentrationslager 1933-1945, Bd. 7). Metropol-Verlag, Berlin 2006, ISBN 978-3-938690-30-7.
  • Wolfgang Benz, Barbara Distel (Hrsg.): Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Band 6: Natzweiler, Groß-Rosen, Stutthof. C.H. Beck, München 2007, ISBN 978-3-406-52966-5.
  • Michael Walther: Schieferölprojekt und Unternehmen „Wüste“ – Polykratisches Kompetenzchaos oder flexibles Netzwerk?. In: Zeitschrift für Hohenzollerische Geschichte, Bd. 53/54, 2017/2018, S. 295–373.

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Fußnoten[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Marsch des Lebens (Memento des Originals vom 26. Juni 2015 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.tos.info (PDF; 1,7 MB)
  2. Vgl. Holoch (1978)
  3. Vgl. Rudi Holoch: Das Lager Schörzingen in der “Gruppe Wüste”. In: Herwart Vorländer (Hrsg.): Nationalsozialistische Konzentrationslager im Dienste der totalen Kriegsführung. Sieben württembergische Außenkommandos des Konzentrationslagers Natzweiler/Elsass. Stuttgart 1978. S. 232.
  4. Ölschiefer nach 1945 (Memento des Originals vom 18. Mai 2014 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.planet-schule.de