Barmherzigkeit

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Die Barmherzigkeit (Lehnübersetzung von lateinisch misericordia) ist eine Eigenschaft des menschlichen Charakters. Eine barmherzige Person öffnet ihr Herz fremder Not und nimmt sich ihrer mildtätig an.

Die umgangssprachliche Formel „Mitleid und Barmherzigkeit“ deutet an, dass hier Unterschiedliches vorliegt, dass es also bei der „Barmherzigkeit“ weniger um ein Mit-Fühlen als um eine dessen nicht bedürftige Großherzigkeit geht. Sie gilt als eine der Haupttugenden und wichtigsten Pflichten der monotheistischen Religionen Judentum, Christentum, Islam, Bahai sowie anderer Religionen wie Buddhismus und Hinduismus.

Begriffsbildung und Wortgeschichte

Das zugrundeliegende Adjektiv barmherzig ist seit dem 8. Jahrhundert durch das althochdeutsche Stammwort armherzi als Lehnübersetzung von misericors (lateinisch miser „arm, elend“ und cor beziehungsweise cordis „Herz“) mit der Bedeutung von „der ein Herz für die Armen hat“ Teil des deutschen Standardwortschatzes.[1] Diese Form ist zu entsprechenden Belegen wie bibelgotisch arma-hairts und altenglisch earm-heort zu stellen.[2]

Judentum

In der jüdischen Bibel (Altes Testament der Christen) ist Barmherzigkeit eine der herausragenden Eigenschaften Gottes. In der zentralen Offenbarung am Sinai gibt sich JHWH zu erkennen: „der HERR ist ein barmherziger und gnädiger Gott, langmütig, reich an Huld und Treue“ (2. Buch Mose 34,6 mit vielen Parallelen). Während das „gnädig“ darauf verweist, dass Gott sich seinem Volk zuwendet, drückt das „barmherzig“ aus, dass Gott die Sünde zwar sieht, aber verzeiht und dem Bund mit seinem Volk treu bleibt. Dies wird insbesondere bei den Propheten der Exilszeit (Babylonisches Exil) betont: „Der Herr hat sein Volk getröstet und sich seiner Armen erbarmt. […] Kann denn eine Frau ihr Kindlein vergessen, eine Mutter ihren leiblichen Sohn? Und selbst wenn sie ihn vergessen würde: ich vergesse dich nicht.“ (Jesaja 49,13.15) Deshalb gilt auch die Forderung der Barmherzigkeit an den Menschen: „Es ist gut, zu beten und zu fasten, barmherzig und gerecht zu sein.“ (Tobit 12,8). In der deutschen Bibel (vor allem Lutherbibel) stehen Barmherzigkeit, barmherzig, Erbarmen, Erbarmer, barmherzig sein und deren Verneinungen vor allem für die hebräischen Wörter bzw. Wurzeln häsäd (hebr. חֶסֶד), dann für rahamim bzw. für rhm und Derivate, für hnn und Derivate, in geringerem Maße auch für hûs, hml und nhm.

Christentum

Vincent van Gogh: Der gute Samariter (nach Delacroix), 1890
Pierre Montallier: Die Werke der Barmherzigkeit, um 1680
Frans II Francken: Die Sieben Werke der Barmherzigkeit, 1605, Deutsches Historisches Museum Berlin

Zunächst und zuerst ist Barmherzigkeit keine natürliche Eigenschaft des Menschen, sondern eine Eigenschaft Gottes, die der Mensch einerseits als himmlisches Motiv durch die ihm innewohnende Gottesliebe besitzt und die ihm andererseits in höherer Form und unerschöpflich durch Gott zuteil wird. Schon im Alten Testament gilt Gott vor allem als der „Barmherzige und Gnädige“ und wird immer wieder dafür in Dankbarkeit und Demut gelobt und gepriesen (z. B. Ps 103,8 EU). Jesus beschreibt Gott z. B. im Gleichnis vom verlorenen Sohn (Lk 15,11–32 EU) als unendlich großzügigen und jederzeit vergebungsbereiten „Vater“ und bringt damit zur Kenntnis, was Barmherzigkeit bedeutet kann: Eine irdisch unverdiente, aber himmlisch großzügige Zuwendung in bedingungsloser Liebe. Der Apostel Paulus betont immer wieder die Abhängigkeit des sündigen Menschen bzw. des Christen von der Vergebung Gottes in dessen unendlicher Barmherzigkeit. Aus Barmherzigkeit rettet Gott die Menschen aus der Verstrickung in ihre Schuld (z. B. Eph 2,4–5 EU), entweder weil sie ehrliche Reue gezeigt und Buße geleistet oder weil sie zur Umkehr gekommen sind und Gutes getan haben.

Die von Gott her erfahrene Barmherzigkeit wird dann auch zur Handlungs-Motivation des glaubenden Menschen. In diesem Sinne steht „Barmherzigkeit“ in engem Zusammenhang mit z. B. Nächstenliebe, Menschenliebe oder Humanität (siehe auch Diakonie); die lateinische Bezeichnung ist caritas (daher die katholische Organisation Caritas).

Jesus Christus hat in vielen Gleichnissen Barmherzigkeit verdeutlicht, z. B. im Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 10,25–37 EU – der wegen seiner gesellschaftlichen Herkunft vielerorts nicht gerade als „Rechtgläubiger“ galt, aber manche Hörer des Gleichnisses beschämt und so ihre Umkehr zur Hilfe für die Armen, Schwachen und Hilflosen eindrucksvoll einmahnt), und in den Krankenheilungen (Mk 1,16–20 EU; Lk 8,1–3 EU; Mk 7,31–37 EU). Auch in der Bergpredigt ist von der Barmherzigkeit die Rede:

„Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen.“

Matthäus 5,7 LUT

Seit dem Mittelalter zählt man in Abgrenzung zur Barmherzigkeit Gottes die Sieben Werke der Barmherzigkeit auf, die den Sieben Todsünden (Stolz, Neid, Zorn, Geiz, Unmäßigkeit, Unkeuschheit und eben Trägheit des Herzens) gegenübergestellt werden.

Römisch-Katholische Kirche

Nach der Lehre der römisch-katholischen Kirche empfangen die Gläubigen die Werke der Barmherzigkeit durch den Heiligen Geist. Die unendliche, bedingungslose Gottesliebe umfasst die Barmherzigkeit, beide Begriffe werden in der Tradition gerne wechselseitig eingesetzt.

Nach Thomas von Aquin ist im äußeren Bereich die Barmherzigkeit die größte aller Tugenden:

„An sich ist die Barmherzigkeit die größte der Tugenden. Denn es gehört zum Erbarmen, dass es sich auf die anderen ergießt und – was mehr ist – der Schwäche der anderen aufhilft; und das gerade ist Sache des Höherstehenden. Deshalb wird das Erbarmen gerade Gott als Wesensmerkmal zuerkannt; und es heißt, dass darin am meisten seine Allmacht offenbar wird“ (Summa Theologiae II-II, q. 30, a. 4).[3]

In seinem Apostolischen Schreiben Evangelii Gaudium vom 26. November 2013 zitiert Papst Franziskus diese Stelle, um den Vorrang der Barmherzigkeit beim kirchlichen Handeln zu betonen.[3] Er hat die Barmherzigkeit zu seinem Programm gemacht: „Die Barmherzigkeit ist die wahre Kraft, die den Menschen und die Welt vor dem ’Krebsgeschwür‘ retten kann: dem moralischen Bösen, dem spirituellen Übel.“[4]

Werke der Barmherzigkeit

Die sieben leiblichen Werke der Barmherzigkeit
  • Die Hungrigen speisen.
  • Den Dürstenden zu trinken geben.
  • Die Nackten bekleiden.
  • Die Fremden aufnehmen.
  • Die Kranken besuchen.
  • Die Gefangenen besuchen.
  • Die Toten begraben.
Die sieben geistigen Werke der Barmherzigkeit
  • Die Unwissenden lehren.
  • Den Zweifelnden recht raten.
  • Die Betrübten trösten.
  • Die Sünder zurechtweisen.
  • Die Lästigen geduldig ertragen.
  • Denen, die uns beleidigen, gerne verzeihen.
  • Für die Lebenden und die Toten beten.
Notwendigkeit der Barmherzigkeit in der Moderne

Trotz der festen Verankerung des Sozialstaates im politischen System moderner Staaten kommt die Gesellschaft auch heute nicht ohne Barmherzigkeit aus. Eine Erklärung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken hat dies 1995 klar herausgearbeitet: Ohne Barmherzigkeit „geht die motivationale Grundlage für die Sozialgesetzgebung verloren. Ohne sie werden neue Notlagen überhaupt nicht entdeckt“. Auch wenn das „soziale Netz“ die größte Not auffängt, gibt es viele, die durch dessen Maschen fallen. Nur die „behördlich erfassten Fälle“ sind in die staatliche und kommunale Sozialhilfe eingebunden. Daher muss Barmherzigkeit eine neue Dimension der Wahrnehmung anregen und erfahren. „Barmherzigkeit ist der Quellgrund der sozialen Gerechtigkeit.“[5]

Islam

„Allerbarmer“ (Ar-Rahman) ist einer der Namen Allahs und zusammen mit Allbarmherziger (Ar-Rahim) der häufigste im Koran vorkommende Name Gottes. Beide Namen stammen von der gleichen Wortwurzel ab und beschreiben die immerwährende Liebe Gottes, die dem Menschen zuteilwerden kann, wenn er sie annimmt. Eine Äußerung der Barmherzigkeit, das Geben von Almosen, ist die vierte der fünf Säulen des Islam und damit eine der Hauptanforderungen an die Gläubigen. In einem Hadith heißt es:

„Diejenigen, die nicht barmherzig sind, werden keine Barmherzigkeit erlangen.“

Somit sind alle Gläubigen zur Barmherzigkeit verpflichtet.

Buddhismus

Im Buddhismus wird die Barmherzigkeit üblicherweise als Mitgefühl (karuna) bezeichnet. Karuna ist eine der vier Brahmaviharas, in denen verschiedene Formen zwischenmenschlicher Verbundenheit (Liebe, Mitgefühl, Mitfreude und Gleichmut) beschrieben werden, die es zu kultivieren gilt. Karuna ist im Kern das Ergebnis meditativer Einsicht und Erlebens und folgt somit nicht einem imperativen „Du-Sollst“.

Besonders nach Katastrophen engagieren sich viele Laien und Ordinierte in buddhistischen Friedens- und Hilfsorganisationen.

Konfuzianismus und Daoismus

Für Konfuzius waren die Umgangsformen (li), die Güte des Rangoberen gegenüber den Unteren sowie die Menschenliebe wichtige Bestandteile der familiären und staatlichen Ordnung.

Auch Laotse forderte in seinem Buch Daodejing neben dem Nicht-Eingreifen die natürliche und unaufgeforderte Güte der Menschen untereinander.

Falun Gong

Falun Gong fordert als Grundvoraussetzung für den spirituellen Erfolg und die optimale Wirksamkeit der Übungen die Befolgung der drei Grundprinzipien „Barmherzigkeit“, „Wahrhaftigkeit“ und „Nachsicht“.

Siehe auch

Literatur

  • Markus Zehetbauer: Barmherzigkeit als Lehnübersetzung. Die Etymologie des Begriffes im Hebräischen,Griechischen, Lateinischen und Deutschen – eine kleine Theologiegeschichte. In: Biblische Notizen. Band 90, 1997, ISSN 0178-2967, S. 67–83.
  • Ralf van Bühren: Die Werke der Barmherzigkeit in der Kunst des 12.–18. Jahrhunderts. Zum Wandel eines Bildmotivs vor dem Hintergrund neuzeitlicher Rhetorikrezeption. Hildesheim / Zürich / New York Verlag=Verlag Georg Olms 1998, ISBN 3-487-10319-2 (Studien zur Kunstgeschichte, 115).Englisches Abstract, deutsches Abstract.
  • Karl Bopp: Barmherzigkeit im pastoralen Handeln der Kirche. Eine symbolisch-kritische Handlungstheorie zur Neuorientierung kirchlicher Praxis. Don Bosco-Verlag, München 1998.
  • Stefan Dybowski: Barmherzigkeit im Neuen Testament – Ein Grundmotiv caritativen Handelns. HochschulVerlag, Freiburg 1992, ISBN 3-8107-2243-X (HochschulSammlung Theologie. Exegese Band 2).
  • Sein Zepter ist Barmherzigkeit! Eulenfisch. Limburger Magazin für Religion und Bildung 7. Jahrgang. Ausgabe 13 (2/2014). Limburg 2014 ISSN 1866-0851 - Inhalt, manche Artikel online verfügbar
  • Manfred Hermanns, Angela Stempin: Barmherzigkeit – unmodern? Eine Anfrage an die Gesellschaft zur schwindenden Dimension im Sozialstaat. In: Karl Hugo Breuer (Hrsg.), Jahrbuch für Jugendsozialarbeit. Bd. XVII. Verlag „Die Heimstatt“, Köln 1996, ISSN 0721-6084, S. 161–179.
  • Daniil Granin: Die verlorene Barmherzigkeit. Eine russische Erfahrung. Herder, Freiburg, Basel, Wien 1993, ISBN 3-451-04043-3.
  • Matthias Franz: Der barmherzige und gnädige Gott. Die Gnadenrede vom Sinai (Exodus 34,6–7) und ihre Parallelen im Alten Testament und seiner Umwelt, Kohlhammer-Verlag, Stuttgart 2003, ISBN 3-17-017896-2.
  • Walter Kasper: Barmherzigkeit: Grundbegriff des Evangeliums – Schlüssel christlichen Lebens. Herder, Freiburg im Breisgau/Basel/Wien 2012, ISBN 978-3-451-30642-6.
  • Martin W. Ramb, Holger Zabarowski (Hrsg.): Jenseits der Ironie. Dialoge der Barmherzigkeit. Wallstein Verlag, Göttingen 2016, ISBN 978-3-8353-1907-3.
  • Andreas Thelen-Eiselen: Barmherzigkeit. Arbeitsheft für Sekundarstufe und Katechese. Lahn-Verlag, Kevelaer 2016, ISBN 978-3-7840-3542-0.
  • Papst Franziskus: Der Name Gottes ist Barmherzigkeit. Ein Gespräch mit Andrea Tornielli. Aus dem Italienischen von Elisabeth Liebl. Kösel, München 2016, ISBN 978-3-466-37173-0.

Weblinks

Wiktionary: Barmherzigkeit – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise

  1. Althochdeutscher Isidor: armhaerzin. Sankt Galler Winithar Handschrift, Paulus-Glossen (2. Korinther): armiherzi-dono i.e. misericordiarum
  2. Elmar Seebold: Chronologisches Wörterbuch des deutschen Wortschatzes: der Wortschatz des 8. Jahrhunderts (und früherer Quellen). De Gruyter, Berlin/New York 2001, S. 81.
  3. a b zitiert nach Papst Franziskus: Evangelii Gaudium, auch als pdf-Datei verfügbar, Nr. 37
  4. br.de (Memento vom 22. Februar 2014 im Internet Archive)Vorlage:Webarchiv/Wartung/Linktext_fehlt
  5. ZdK-Erklärung „Barmherzigkeit – Eine neue Sichtweise zu einem vergessenen Aspekt der Diakonie“ (1995)