Sebastian Haffner

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Dies ist eine alte Version dieser Seite, zuletzt bearbeitet am 20. September 2016 um 14:56 Uhr durch Jordi (Diskussion | Beiträge) (→‎Exil und Zweiter Weltkrieg (1938 bis 1945)). Sie kann sich erheblich von der aktuellen Version unterscheiden.
Zur Navigation springen Zur Suche springen
Gedenktafel auf der Ehrenbergstraße 33, Berlin-Dahlem

Sebastian Haffner, eigentlich Raimund Pretzel (* 27. Dezember 1907 in Berlin; † 2. Januar 1999 ebenda) war ein deutscher Publizist, Historiker, Schriftsteller, Journalist, Korrespondent und Kolumnist. Der promovierte Jurist verfasste schon im Exil Beiträge zu einer Historisierung des Nationalsozialismus. Er wurde durch seine zahlreichen kritischen Beiträge bekannt, die er nach dem Zweiten Weltkrieg hauptsächlich in der Zeitschrift Stern publizierte.

Leben und Wirken

Geboren wurde Sebastian Haffner als Raimund Pretzel in Berlin-Moabit. Sein Vater, Carl Pretzel, war ein angesehener Berliner Reformpädagoge und Schuldirektor und in der Weimarer Republik Beamter im preußischen Kultusministerium. Der Germanist Ulrich Pretzel war einer der Brüder Haffners.

In seiner Jugend besuchte Haffner das Königstädtische Gymnasium am Berliner Alexanderplatz. Zu seinen Mitschülern zählte Horst Wessel, der später als SA-Sturmführer und „Märtyrer“ der NS-Bewegung bekannt wurde.[1]

Nach dem Abitur begann Haffner, Rechtswissenschaften zu studieren. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Frühjahr 1933 entschied sich Haffner gegen die juristische Laufbahn, da der Rechtsstaat (nicht nur für ihn) mit der Errichtung der NS-Diktatur gestorben wäre. In seinen Jugenderinnerungen beschreibt Haffner seine Erlebnisse am Preußischen Kammergericht in Berlin in den ersten Monaten des Hitler-Regimes als die Schlüsselerfahrung, die ihn zu dieser Entscheidung bewog: Während er sich in Berlin auf das Assessorexamen vorbereitete, wurde Haffner unter anderem Zeuge, wie jüdische Juristen von SA-Trupps aus dem Kammergericht geworfen wurden und wie „in Ehren ergraute Richter“ sich aus Sorge, ihre Pensionsansprüche zu verlieren, den unsubstantiierten Urteilen von beinahe noch jugendlichen nationalsozialistischen Nachwuchsjuristen anschlossen. Seine Ausbildung schloss Haffner seinen Eltern zuliebe aber noch ab. Um seine Doktorarbeit zu schreiben, ging Haffner 1934 einige Monate nach Paris. Seiner Aussage in einem späteren Interview zufolge sah er sich dort nach Möglichkeiten um, in Frankreich zu leben.

Nach seiner Rückkehr nach Deutschland arbeitete Haffner nur noch gelegentlich als Jurist, meist als Vertreter anderer Anwälte. Er begann, seinen Lebensunterhalt als Journalist zu verdienen. Um sich nicht in den Dienst der NS-Propaganda stellen zu müssen, verfasste Haffner damals hauptsächlich Artikel für Modezeitschriften und für die unpolitischen Feuilleton-Sektionen verschiedener Zeitungen.

Exil und Zweiter Weltkrieg (1938 bis 1945)

Seiner Auffassung nach erledige jeder Mensch, der in Deutschland lebe, die Arbeit des Regimes, selbst wenn er unpolitisch beschäftigt sei.[2] So begründete Haffner seinen Entschluss zu emigrieren. Um Deutschland verlassen und in Großbritannien – das aufgrund der anhaltenden Weltwirtschaftskrise eine verhältnismäßig restriktive Emigranten- und Flüchtlingspolitik betrieb – einreisen zu können, ließ er sich im August 1938 mit einem Auftrag der Ullstein-Presse nach England schicken. Dort bat er um Asyl mit Verweis auf seine schwangere Verlobte Erika Schmidt-Landry (1899–1969), die ihm nach England vorausgereist war und in Deutschland als Jüdin galt (nach Haffners Auffassung zu Unrecht, da ihre Familie evangelisch und sie selbst areligiös war), sodass die Beziehung dort verboten war und sie nicht nach Deutschland zurückkehren konnten. Am 1. September 1938 heiratete das Paar und Haffner erhielt eine zunächst für ein Jahr gültige Aufenthaltserlaubnis. Er befürchtete, danach ausgewiesen zu werden, aber vor Ablauf des Jahres brach der Zweite Weltkrieg aus.

1939 begann Haffner mit der Niederschrift seiner Jugenderinnerungen Geschichte eines Deutschen, in denen er seine Erlebnisse in den Jahren 1914 bis 1933 schildert. Die Niederschrift des Buches, das Haffner ursprünglich als Aufklärungsschrift über das nationalsozialistische Deutschland veröffentlichen wollte, brach er aber ab. Als publizistische Waffe gegen den Nationalsozialismus sei das Konzept unzulänglich. Er begann stattdessen mit dem handbuchartig angelegten Werk Germany. Jekyll and Hyde, in dem er ein Soziogramm des NS-Staates entwickelt. In ihm erläutert Haffner den britischen Lesern das Beziehungsgefüge innerhalb der deutschen Gesellschaft der NS-Zeit, die er in „Nationalsozialisten“ (20 % der Bevölkerung), „loyale Bevölkerung“ (40 %), „illoyale Bevölkerung“ (35 %) und „Opposition“ (5 %) einteilt. Er charakterisiert die verschiedenen Gruppen und erläutert, wie die Briten diese bekämpfen beziehungsweise durch Propaganda beeinflussen könnten. Ergänzend dazu liefert Haffner Porträts über Adolf Hitler, dessen Selbstmord im Angesicht der Niederlage er bereits damals (1940) voraussagt, und der weiteren Führer sowie „der kleinen Nazis“.

Anfang 1940 veröffentlichte er Germany. Jekyll and Hyde unter dem Pseudonym Sebastian Haffner. Den Namen wählte Pretzel dabei in Anlehnung an Johann Sebastian Bach und die Haffner-Sinfonie von Wolfgang Amadeus Mozart. Im Vorwort begründet er die Verwendung eines Pseudonyms mit dem Hinweis, dass sein Buch der „Aufmerksamkeit der Gestapo gewiss nicht entgehen“ werde. In Großbritannien stieß das Buch auf ein äußerst positives Echo: Der britische Kriegspremierminister Winston Churchill war so beeindruckt, dass er das Buch zur Pflichtlektüre für die Minister seines Kriegskabinetts machte.[3] Das Pseudonym behielt Haffner für den Rest seines Lebens bei.

Kurz nach Kriegsausbruch und noch einmal 1940 von den britischen Behörden als „Feindlicher Ausländer“ interniert, wurde er endgültig auf freien Fuß gesetzt. Er begann als Journalist für Die Zeitung zu schreiben. 1942 wechselte er zum Observer. Dort stieg er bald zu einem der engsten Mitarbeiter des Chefredakteurs und späteren Herausgebers, David Astor, auf.

Nachkriegszeit und Leben in der Bundesrepublik Deutschland (1945 bis 1999)

Ehrengrab, Thuner Platz 2-4, in Berlin-Lichterfelde

Nach dem Krieg ließ sich Haffner in Großbritannien einbürgern und kehrte schließlich 1954 als Korrespondent des Observer nach Berlin zurück. 1961 verließ er die Zeitung wegen Meinungsverschiedenheiten in der Berlin-Frage. In den folgenden Jahren schrieb Haffner für deutsche Zeitungen wie Christ und Welt und Die Welt. Von 1962 bis 1975 steuerte Haffner eine wöchentliche Kolumne beim Stern bei und verfasste für die Zeitschrift konkret Buchbesprechungen.

Haffner war kaum auf ein bestimmtes politisches Lager festzulegen. Während er in den 1950er Jahren antikommunistisch argumentierte, näherte er sich gegen Ende der 1960er Jahre dem linken Spektrum, von dem er sich später wieder entfernte. So bezog er damals ebenso Position für die demonstrierenden Studenten der 68er-Bewegung wie, angesichts der Spiegel-Affäre, für die journalistische Freiheit. Öffentliche Präsenz zeigte Haffner auch als Gastgeber seiner eigenen Fernsehkolumne beim SFB sowie als häufiger Gast in Fernsehsendungen wie z. B. Werner Höfers Internationalem Frühschoppen.

Neben seiner journalistischen Tätigkeit trat Haffner seit den 1960er Jahren auch durch mehrere Sachbuchveröffentlichungen hervor. Thematisch behandeln die meisten seiner entsprechenden Werke historische Themen, im Wesentlichen zur Geschichte des deutschen Nationalstaats seit 1871, beispielsweise Haffners historisch-politische Analyse der Novemberrevolution von 1918/19 unter dem Titel Der Verrat (als Buch veröffentlicht 1969), in der er als einer der ersten namhaften westdeutschen Publizisten einen kritischen Blick auf die Rolle der „Mehrheits-SPD“ um Ebert, Noske, Scheidemann als Blockierer der Revolution warf.

Insbesondere Haffners Veröffentlichung Anmerkungen zu Hitler aus dem Jahr 1978 stieß auf eine breite öffentliche Aufmerksamkeit und brachte ihm zahlreiche Auszeichnungen ein. Verschiedentlich wurde er in Rezensionen für seine Fähigkeit gewürdigt, komplizierte geschichtliche Zusammenhänge einem breiten Publikum verständlich zu machen und gleichzeitig neue Perspektiven zu eröffnen.

Haffner verstarb 1999 im Alter von 91 Jahren. Seine Urne wurde im Familiengrab auf dem Parkfriedhof Berlin-Lichterfelde West beigesetzt.

Die Malerin Sarah Haffner ist seine Tochter.

Ehrungen und Auszeichnungen

Bereits zu Lebzeiten wurde Haffner für seine publizistische Tätigkeit vielfach ausgezeichnet. 1978 erhielt er für sein Hitler-Buch den Heinrich-Heine-Preis der Stadt Düsseldorf. Später folgten der Johann-Heinrich-Merck-Preis (1980) und der Friedrich-Schiedel-Literaturpreis (1983). Postum erhielt er 2003 den Wingate Literary Prize.

Anlässlich seines 100. Geburtstages ehrte das Bezirksamt Berlin-Pankow Haffner am 27. Dezember 2007 in einer Festveranstaltung und benannte den Kultur- und Bildungsstandort im Haus Prenzlauer Allee 227/228 nach ihm, wo Haffner selbst als Kind von 1911 bis 1924 gelebt hatte.[4]

Haffners Grabstätte gehört zu den Ehrengräbern des Landes Berlin.

Schriften

  • Raimund Pretzel: Die Aufwertung von Fremdwährungsschulden: Ein Beitrag zur Theorie der Aufwertung (= Rechtswissenschaftliche Studien. Heft 59). Ebering, Berlin 1936 (Dissertation, Universität Berlin).
  • Germany. Jekyll & Hyde, London 1940 (deutsche Ausgabe Germany. Jekyll & Hyde. Deutschland von Innen betrachtet, Berlin 1996)
  • Die sieben Todsünden des Deutschen Reiches im Ersten Weltkrieg, Hamburg 1964
  • Winston Churchill ( rororo 50129, Rowohlts Monographien), Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1967; 6. Auflage als rororo 61354, 2010, ISBN 978-3-499-61354-8.
  • Der Teufelspakt: 50 Jahre deutsch-russische Beziehungen, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1968
  • Die verratene Revolution – Deutschland 1918/19, Hamburg 1969
  • Anmerkungen zu Hitler, Frankfurt am Main 1978
  • Der Vertrag von Versailles, München 1978 (als Hrsg.)
  • Preußen ohne Legende, Hamburg 1979 (Bildteil: Ulrich Weyland, Hrsg.: Henri Nannen)
  • Überlegungen eines Wechselwählers, München 1980
  • Preußische Profile, Königstein im Taunus 1980 (zusammen mit Wolfgang Venohr)
  • Sebastian Haffner zur Zeitgeschichte, München 1982
  • Im Schatten der Geschichte. Historisch-politische Variationen, Stuttgart 1985
  • Von Bismarck zu Hitler: Ein Rückblick, München 1987
  • Zwischen den Kriegen. Essays zur Zeitgeschichte, Berlin 1997
  • Geschichte eines Deutschen: Die Erinnerungen 1914–1933, Stuttgart & München 2000 (1939 geschrieben, aber erst postum veröffentlicht)
  • Der Neue Krieg, Berlin, Alexander Verlag, 2000 (postum)
  • Die Deutsche Frage. 1950–1961. Von der Wiederbewaffnung bis zum Mauerbau, Frankfurt am Main 2002 (postum)
  • Schreiben für die Freiheit. 1942–1949. Als Journalist im Sturm der Ereignisse, Frankfurt am Main 2003 (postum)
  • Als Engländer maskiert: Ein Gespräch mit Jutta Krug über das Exil (mit einem Nachwort von Uwe Soukup), Stuttgart & München 2001 (postum) (ein 1989 mit ihm geführtes, aber bis dato unveröffentlichtes Interview)
  • Das Leben der Fußgänger. Feuilletons 1933–1938, Hanser, München 2004, ISBN 3-446-20490-3, als Taschenbuch: dtv, München 2006, ISBN 978-3-423-34293-3 (postum).

Literatur

Biografien
Interviews und Gespräche
  • Gero von Boehm: Sebastian Haffner. 21. Juni 1983. Interview in: Begegnungen. Menschenbilder aus drei Jahrzehnten. Collection Rolf Heyne, München 2012, ISBN 978-3-89910-443-1, S.78-86
Allgemeines und Einzelaspekte
  • Ralf Beck: Der traurige Patriot. Sebastian Haffner und die deutsche Frage, Berlin 2005
  • Joachim Fest: Der fremde Freund. Die Widersprüche des Sebastian Haffner, in: Begegnungen. Über nahe und ferne Freunde, Reinbek bei Hamburg 2004
  • Daniel Kiecol: Haffner für Eilige, Berlin 2002
  • Hans Mommsen: Jekyll & Hyde. Zu Sebastian Haffners früher Hitler-Deutung, in: Gerhard Albert Ritter/Peter Wende (Hrsg.): Rivalität und Partnerschaft. Studien zu den deutsch-britischen Beziehungen im 19. und 20. Jahrhundert. Festschrift für Anthony J. Nicholls, Paderborn et al., 1999, S. 285-296
  • Ulrich Schlie: „Geschichte Deutschlands als Teil privater Lebensgeschichte“. Ein Rückblick auf die Haffner-Welle, in: Historische Zeitschrift, München 2004, S. 399-415

Filme

  • Rajan Autze: Sebastian Haffner – Emigration aus Liebe zu Deutschland, 2002
  • "Mein Kampf mit Hitler", Doku 2012, ZDF, 45 min

Weblinks

Commons: Sebastian Haffner – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Hördateien:

Einzelnachweise

  1. Anmerkungen zu Haffner in: Die Welt vom 28. Dezember 2007; mit falscher Angabe zu Erich Mielke, der das Köllnische Gymnasium besucht hatte.
  2. Sebastian Haffner, Von Bismarck zu Hitler. Ein Rückblick. Redaktion Volker Zastrow. München 1987, S. 270.
  3. The Observer vom 20. März 2005, S. 16 der Sektion „Features and Reviews“.
  4. Ehrung für Sebastian Haffner.