Atropin

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Strukturformel
Strukturformel von Atropin
(R)-Form (oben) und (S)-Form (unten)
Allgemeines
Name Atropin; (±)-Hyoscyamin
Andere Namen
  • (±)-Tropintropat
  • (RS)-Tropintropat
  • rac-Tropintropat
  • (±)-β-Phenyl-γ-hydroxypropionsäuretropylester
  • (RS)-β-Phenyl-γ-hydroxypropionsäuretropylester
Summenformel C17H23NO3
Kurzbeschreibung

farblose Prismen[1]

Externe Identifikatoren/Datenbanken
CAS-Nummer
  • 51-55-8
  • 5908-99-6 (Atropinsulfat·Monohydrat)
PubChem 174174
DrugBank APRD00807
Wikidata Q26272
Arzneistoffangaben
ATC-Code
Wirkstoffklasse

Parasympatholytikum

Eigenschaften
Molare Masse 289,38 g·mol−1
Aggregatzustand

fest

Schmelzpunkt

118 °C[2]

pKS-Wert

9,43[2]

Löslichkeit

wenig löslich in Wasser (2,2 g·l−1 bei 25 °C)[2]

Sicherheitshinweise
Bitte die Befreiung von der Kennzeichnungspflicht für Arzneimittel, Medizinprodukte, Kosmetika, Lebensmittel und Futtermittel beachten
GHS-Gefahrstoffkennzeichnung aus Verordnung (EG) Nr. 1272/2008 (CLP),[4] ggf. erweitert[3]
Gefahrensymbol

Gefahr

H- und P-Sätze H: 300+330
P: 260​‐​264​‐​284​‐​301+310​‐​310[3]
Toxikologische Daten
Soweit möglich und gebräuchlich, werden SI-Einheiten verwendet. Wenn nicht anders vermerkt, gelten die angegebenen Daten bei Standardbedingungen.

Atropin (abgeleitet von Atropos, griechische Schicksalsgöttin) ist ein sehr giftiges Tropan-Alkaloid. Es handelt sich um ein Racemat (1:1-Mischung) aus den Isomeren (R)- und (S)-Hyoscyamin, das sich bei der Isolierung durch Racemisierung aus dem Naturstoff (S)-Hyoscyamin bildet.

Vorkommen

(S)-Hyoscyamin kommt in Nachtschattengewächsen wie Alraunen (Mandragora), Engelstrompete (Brugmansia) und Stechapfel (Datura stramonium) vor. Seinen Namen verdankt das Alkaloid der Schwarzen Tollkirsche (Atropa belladonna).

Die giftigen Beeren der Schwarzen Tollkirsche (Atropa belladonna)

Als Entdecker des Atropins gilt der Heidelberger Pharmazeut Philipp Lorenz Geiger (1785–1836).[7]

Chemische Struktur

Atropin ist die racemisierte Form des natürlich vorkommenden (S)-Hyoscyamins. Die Racemisierung findet bereits bei der Isolierung statt, wenn Laugen zum Einsatz kommen; hierbei bildet sich intermediär ein Enolat.[8] Durch eine Aufarbeitung unter neutralen Bedingungen (pH-Wert 7) kann die Racemisierung von (S)-Hyoscyamin unterdrückt werden. Der Bedeutung der Enantiomerenreinheit von Arzneistoffen wird zunehmend Beachtung geschenkt, denn die beiden Enantiomeren eines chiralen Arzneistoffes zeigen fast immer eine unterschiedliche Pharmakodynamik und Pharmakokinetik. Dies wurde früher aus Unkenntnis über stereochemische Zusammenhänge oft ignoriert.[9] Arzneimittel enthalten den Arzneistoff Atropin als Racemat (1:1-Gemisch der Enantiomere), wobei aus grundsätzlichen Überlegungen die Verwendung des besser bzw. nebenwirkungsärmer wirksamen Enantiomers zu bevorzugen wäre.

Das (S)-Hyoscyamin ist ein Ester der Tropasäure mit α-Tropin und zählt somit zu den Tropan-Alkaloiden. Allein das 1:1-Gemisch von (R)- und (S)-Hyoscyamin wird Atropin genannt (vgl. Cahn-Ingold-Prelog-Konvention zur Benennung). Ein dem Hyoscyamin strukturell nah verwandtes Alkaloid ist das Scopolamin (Hyoscin).

Für die Verwendung als Edukt in chemischen Synthesen ist es vorteilhaft, von reinem natürlichem (S)-Hyoscyamin oder (R)-Hyoscyamin auszugehen.

Wirkungen

Atropin gehört zu den Parasympatholytika (auch Anticholinergika genannt). Atropin wirkt demnach antagonistisch und konkurriert somit an den muskarinischen Rezeptoren des Parasympathikus mit dem Neurotransmitter Acetylcholin. Atropin blockiert teilweise die Rezeptoren und hemmt somit den Parasympathikus. Die Wirkung des Acetylcholins sinkt. Der Einfluss des Parasympathikus sinkt, wodurch der Einfluss des Sympathikus überwiegt.

Atropin hat folgende körperliche Wirkungen:

  • Beschleunigung der Herzfrequenz (positive Chronotropie)
  • Beschleunigung der Erregungsweiterleitung am Herz (positive Dromotropie)
  • Weitstellung der Bronchien (Bronchodilatation)
  • Weitstellung der Pupillen (= Mydriasis, vgl. Atropa belladonna, Schwarze Tollkirsche)
  • stark verminderte Schweißbildung
  • verminderte Speichelbildung
  • Hemmung der Magen-Darm-Tätigkeit (verminderte Sekretion und Peristaltik)
  • Erschlaffung der glatten Muskulatur (Spasmolyse)
  • verminderte Sehfähigkeit, insbesondere in der Nähe (Hemmung der Akkommodation)
  • starke Lichtempfindlichkeit (Photophobie)
  • blockiert Rezeptoren der Nervenzellen (kein Erreichen der Rezeptoren durch Transmitter; Rezeptoren bleiben inaktiv)

Medizinische Verwendung

Kreislaufstillstand

Atropin wurde in der kardio-pulmonalen Reanimation bei Asystolie und pulsloser elektrischer Aktivität (PEA) eingesetzt, Dosen von 0,5 bis maximal 3 mg wurden intravenös verabreicht. Wegen mangelnder Evidenz ist die Gabe von Atropin bei einer Reanimation nach den Richtlinien des European Resuscitation Council nicht mehr empfohlen.[10] Eine zu niedrige Dosierung kann paradoxerweise zu einer schweren Bradykardie führen und sollte entsprechend vermieden werden (mindestens 0,02 mg/kg Körpergewicht).

Einsatz bei Bradykardien

Atropin wird in der Anästhesie, Intensiv- und Notfallmedizin bei der symptomatischen Behandlung einer zu niedrigen Herzfrequenz (Bradykardie) verwendet. Bei fehlender Effektivität, etwa bei höhergradigen AV-Blöcken, ist die Anwendung von Katecholaminen (Adrenalin) und einer Schrittmachertherapie notwendig.[10]

Augenheilkunde

Atropin wird in der Augenheilkunde zur diagnostischen und therapeutischen Akkommodationslähmung eingesetzt. Als Mydriatikum wird Atropin aufgrund seiner langen Wirkdauer zur therapeutischen, jedoch nicht zur kurzzeitigen diagnostischen Erweiterung der Pupillen verwendet.

Verwendung als Gegengift

Atropin hemmt die muscarinartigen Wirkungen des Acetylcholins durch kompetitive Inhibition der Acetylcholinrezeptoren an der postsynaptischen Membran und unterbricht die Signalübertragung in der Nervenleitung. In sehr hohen Dosen hemmt Atropin vermutlich auch einige Subtypen des nikotinischen Acetylcholinrezeptors.[11]

Auf Grund dieses Wirkungsmechanismus wird Atropin als Gegengift (Antidot) bei Vergiftungen mit bestimmten Pflanzenschutzmitteln (Insektiziden) und Nervenkampfstoffen eingesetzt, deren Giftwirkung auf einer irreversiblen Hemmung der Acetylcholinesterase beruht (z. B. organische Phosphorsäureester und Phosphonsäureester wie Parathion, Tabun oder Paraoxon). Patienten (z. B. mit Sarin kontaminierte Soldaten) werden per Autoinjektor Gaben von 2 mg Atropinsulfat bzw. 2 mg Atropinsulfat plus 220 mg Obidoximchlorid verabreicht.

Prämedikation

Atropin hemmt vor allem die M1-, M2- und M3-Rezeptoren und verursacht so eine Steigerung der Herzfrequenz (M2), eine Reduktion der Magensäureproduktion (M1) sowie eine Speichelreduktion (M3). Zusammen mit einer dezenten Bronchodilatation (M3) sind diese Wirkungen auch von Vorteil für eine Narkoseeinleitung. Ein genereller Einsatz in der Prämedikation (medikamentöse Vorbereitung) von Narkosepatienten wird jedoch heute nicht mehr empfohlen, da das Nutzen-Nebenwirkungs-Verhältnis von Atropin-Sulfat schlecht ist.

Atropin vermindert die Speichel- und Schleimsekretion, was bei Operationen im Mund und Rachenbereich sowie bei fiberoptischen Intubationen und Bronchoskopien genutzt werden kann.

Seltene Anwendungsgebiete

Seltener findet Atropin Anwendung bei Krämpfen der glatten Muskulatur im Bereich des Magen-Darm-Trakts. Auch kann Atropin bei erschwerter Blasenentleerung, bei Harninkontinenz und zur Behandlung einer Reizblase gegeben werden. Selten wurde Atropin in der Frauenheilkunde bei Dysmenorrhoe (schmerzhafte Regelblutung) eingesetzt. Den gleichen Effekt erzielt man heute mit Butylscopolamin, einem chemisch weiterentwickelten Derivat des Scopolamins, das entspannend auf die verkrampfte glatte Muskulatur wirkt und aufgrund der geringeren Nebenwirkungen rezeptfrei erhältlich ist. Als Asthmamittel wird Atropin nicht mehr verwendet, stattdessen werden besser verträgliche Arzneistoffe eingesetzt. Der Atropintest kann zur kardiologischen Diagnostik und als Hilfestellung bei der Feststellung des Hirntodes verwendet werden.

Außerdem wird Atropin auch gegen übermäßiges Schwitzen (Hyperhidrose) eingesetzt (Off-Label-Use).

Missbrauch, Überdosierung, Vergiftung

Die Wirkungen auf Herz und Kreislauf stehen schon bei geringen Dosen im Vordergrund (z. B. zur Narkoseeinleitung). Psychische („berauschende“) Wirkungen sind erst bei hohen Dosen zu erwarten, bei denen unangenehme und gefährliche körperliche Nebenwirkungen auftreten.

Als Vergiftungssymptome wird bei hohen Dosen (siehe anticholinerges Syndrom) von Rötungen der Haut, Mydriasis, Herzrasen und Verwirrtheit wie Halluzinationen berichtet. Bei noch höheren Dosen tritt Bewusstlosigkeit ein, die von Atemlähmung gefolgt sein kann; bei einer Atemlähmung sind die Vergiftungen in der Regel tödlich. Die LD50 (oral) beträgt für den Menschen 453 mg.[12] Ab 10 mg treten Delirien und Halluzinationen auf. Ab 100 mg kann eine tödliche Atemlähmung einsetzen. Insbesondere Kinder sind schon bei geringeren Dosen ab 10 mg in Gefahr.

Neben Vergiftungen durch freiwilligen oder unfreiwilligen Verzehr von Pflanzenteilen (zum Beispiel Tollkirsche) kommen medizinale Vergiftungen infolge Überdosierung, Verwechslung oder falscher Anwendung vor.

Die Erste Hilfe bei Atropinvergiftung besteht in sofortiger Entleerung des Magen-Darm-Traktes (Erbrechen, Magenspülung) sowie erforderlichenfalls künstlicher Beatmung bzw. Atemspende. Die erweiterten Maßnahmen zielen auf die medikamentöse Hemmung der Acetylcholinesterase, durch Physostigmin als Antidot, wodurch der Abbau des Acetylcholins verzögert wird. Folglich erhöht sich die Konzentration im synaptischen Spalt. Am Rezeptor selbst wird somit indirekt eine parasympathische Wirkung erzielt. Das Atropin wird aus dem Bereich der Rezeptoren verdrängt und die Reizleitung ist wiederhergestellt.

Geschichte

Die Wirkung von Atropin wurden unter anderem von Friedlieb Ferdinand Runge (1795–1867) studiert, im Jahr 1831 stellte jedoch der deutsche Pharmazeut Heinrich F. G. Mein (1799–1864)[13] Atropin in kristalliner Form dar,[14] die erste Synthese gelang dem Chemiker Richard Willstätter im Jahr 1901.[15][16]

Bedeutung des Atropins in der Renaissance

Große Pupillen galten während der Renaissance unter europäischen Frauen als schön („bella donna“). Das Einträufeln der (S)-Hyoscyamin enthaltenden Tollkirschen-Extrakte in die Augen bewirkte eine bis zu mehreren Tagen anhaltende Pupillenerweiterung („feuriger Blick“).[1]

Einzelnachweise

  1. a b Eintrag zu Atropin. In: Römpp Online. Georg Thieme Verlag
  2. a b c d e f g Eintrag in der ChemIDplus-Datenbank der United States National Library of Medicine (NLM) (Seite nicht mehr abrufbarVorlage:ChemID/temp-PubChem).
  3. a b Eintrag zu Atropin in der GESTIS-Stoffdatenbank des IFA (JavaScript erforderlich).
  4. Eintrag zu Atropine im Classification and Labelling Inventory der Europäischen Chemikalienagentur (ECHA) Hersteller bzw. Inverkehrbringer können die harmonisierte Einstufung und Kennzeichnung erweitern.
  5. Raymond L. Cahen, Kristen Tvede: Homatropine Methylbromide: A Pharmagological Reevaluation. In: Journal of Pharmacology and Experimental Therapeutics. Bd. 105, Nr. 2, June 1952, S. 166–177.
  6. Daniel Bovet, Filomena Bovet-Nitti: Structure et Activité Pharmacodynamique des Médicaments du Système Nerveux Végétatif. S. Karger, Basel 1948, S. 482.
  7. Geiger, Philipp Lorenz. In: Edward Kremers, George Urdang: Kremers and Urdang's History of Pharmacy. Reprint of the 4th Edition. American Institute of the History of Pharmacy, Madison WI 1986, ISBN 0-931292-17-4, S. 459.
  8. Woldemar Schneider: Zur Kenntnis des 1-Hyoscyamins und Atropins. In: Archiv der Pharmazie. Bd. 284, Nr. 5/6, 1951, S. 306–318, doi:10.1002/ardp.19512840514.
  9. E. J. Ariëns: Stereochemistry, a Basis for Sophisticated Nonsense in Pharmacokinetics and Clinical Pharmacology. In: European Journal of Clinical Pharmacology. Bd. 26, Nr. 6, 1984, S. 663–668, doi:10.1007/BF00541922.
  10. a b Charles D. Deakin, Jerry P. Nolan, Jasmeet Soar, Kjetil Sunde, Rudolph W. Koster, Gary B. Smith, Gavin D. Perkins: European Resuscitation Council Guidelines for Resuscitation 2010 Section 4. Adult advanced life support. In: Resuscitation. Bd. 81, Nr. 10, October 2010, S. 1305–1352, PMID 20956049, doi:10.1016/j.resuscitation.2010.08.017.
  11. Ruud Zwart, Henk P. M. Vijverberg: Potentiation and inhibition of neuronal nicotinic receptors by atropine: competitive and noncompetitive effects. In: Molecular Pharmacology. Bd. 52, Nr. 5, November 1997, S. 886–895, PMID 9351980, (Experiment an Frosch-Eizellen).
  12. E. Goodman, J. Ketchum, R. Kirby: Historical Contributions to the Human Toxicology of Atropine. In: Eximdyne (2010). ISBN 978-0-9677264-3-4, S. 120.
  13. Biography of Heinrich Friedrich Georg Mein (1799–1864).
  14. Heinrich Friedrich Georg Mein (1831): Ueber die Darstellung des Atropins in weissen Kristallen, In: Annalen der Pharmacie, 6(1): 67–72 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
    Unabhängig davon wurde Atropin 1833 von Geiger und Hesse isoliert:
    1. Geiger and Hesse (1833): Darstellung des Atropins, In: Annalen der Pharmacie, 5: 43–81 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
    2. Geiger and Hesse (1833): Fortgesetzte Versuche über Atropin, In: Annalen der Pharmacie, 6: 44–65 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
  15. Richard Willstätter (1901) Synthese des Tropidins, Berichte der Deutschen chemischen Gesellschaft zu Berlin, 34: 129–144.
  16. Richard Willstätter (1901) Umwandlung von Tropidin in Tropin, Berichte der Deutschen chemischen Gesellschaft zu Berlin, 34: 3163–3165.

Handelsnamen

Monopräparate

Bellafit (CH), Dysurgal (D), Generika (D, A, CH)

Weblinks

Commons: Atropin – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien