Allparteienregierung

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Unter einer Allparteienregierung oder Konzentrationsregierung wird in einer Demokratie eine Regierung verstanden, an der (fast) alle im Parlament vertretenen Parteien und Gruppierungen beteiligt sind. Allparteienregierungen werden häufig in Krisenzeiten, meistens während eines Notstands, gebildet, um gemeinsam eine Krise zu beenden oder bestimmte Bevölkerungsgruppen (häufig Minderheiten) nicht zu benachteiligen.[1] Weitere verwendete Bezeichnungen sind Regierung der nationalen Einheit/Einheitsregierung oder Regierung der nationalen Rettung.

Beispiele

Deutschland

In Baden-Württemberg waren von 1956 bis 1960 alle im Landtag befindlichen Parteien in den Kabinetten Müller und Kiesinger vertreten, so dass es in diesem Zeitraum keine parlamentarische Opposition in Stuttgart gab.

Ebenso waren in Berlin im Magistrat Reuter von 1948 bis 1951, im Senat Reuter von 1951 bis 1953 und im zweiten Senat Brandt von 1958 bis 1963 alle jeweils in der Stadtverordnetenversammlung bzw. Abgeordnetenhaus vertreten Parteien an der Regierung beteiligt.

In Rheinland-Pfalz regierte Peter Altmeier von 1947 bis 1951 mit einer Allparteienregierung.

Nach der Wende in der DDR wurde im November 1989 die Regierung Modrow mit Vertretern aller Blockparteien und Massenorganisationen der (noch unfrei gewählten) Volkskammer gebildet. Ab Februar 1990 gehörten ihr zudem Vertreter oppositioneller Parteien und Gruppen des Zentralen Runden Tisches an. Diese führte bis Regierungsbildung nach der ersten freien Volkskammerwahl die Geschäfte.

Finnland

Der liberale Ministerpräsident Risto Ryti nahm zwei Wochen nach dem Ende des Winterkrieges 1939/40 die konservative Sammlungspartei in die Regierung mit auf. Lediglich die Nationalisten der Vaterländischen Volksbewegung und die Kleinbauern, die zusammen zehn der 200 Mandate im Parlament stellten, gehörten nicht der Regierung an. Rytis Nachfolger Jukka Rangell führte zwischen Januar 1941 und März 1943 die Koalition mit Einbeziehung der Vaterländischen Volksbewegung fort. Danach folgten bis November 1944 die Regierungen Edwin Linkomies', Anders Hackzells und Urho Castréns, wobei die Vaterländischen Volksbewegung diesen Regierungen nicht mehr mit angehörte. Die größte Besonderheit aller fünf Regierungen war die erstmalige Zusammenarbeit von Sozialdemokraten und Konservativen, die danach erst wieder 1958/59 kurzzeitig und dann erst 1987 wieder stattfand.

Frankreich

Während des Ersten Weltkriegs bildete Premierminister Aristide Briand eine Regierung der nationalen Einheit (Gouvernement d'Union Nationale). Briand wurde 1915 Nachfolger von René Viviani und blieb Premierminister bis zu seinem Rücktritt im März 1917. Sein Nachfolger wurde Alexandre Ribot (siehe auch Liste der Premierminister von Frankreich).

Nach dem Rücktritt von Édouard Daladier (1934) bildete Gaston Doumergue eine Regierung der nationalen Einheit (frz. Union Nationale). Sie wurde nicht von den Kommunisten und Sozialisten gestützt. Sie regierte bis zu den Parlamentswahlen im Mai 1936. Danach bildete sich die Front populaire (übersetzt: Volksfront) aus Sozialisten, Kommunisten und Radikalsozialisten, wobei der Sozialist Léon Blum 1936/37 und 1938 Ministerpräsident wurde.

Griechenland

1974 nach dem Ende der Militärdiktatur bildete Konstantin Karamanlis eine Allparteienregierung. Näheres siehe Geschichte Griechenlands#Demokratisches Griechenland.

Israel

Nach dem Ausbruch des Sechstagekrieges formierte sich in Israel eine Regierung der nationalen Einheit unter Levi Eschkol.[2]

Da die Wahlen in Israel 1984 keinen eindeutigen Sieger brachten, einigten sich die Parteien auf eine Regierung der nationalen Einheit, zuerst mit Schimon Peres als Ministerpräsident der 21. Regierung. Nach der Hälfte der 11. Legislaturperiode übernahm Jitzchak Schamir den Posten des Ministerpräsidenten des 22. Kabinetts.[3] Die Rotation des Regierungschefs ging als Israelisches Modell in die Geschichte ein.

Jemen

Im Jemen wurde Anfang 2012 eine Regierung der nationalen Einheit nach dem Sturz Ali Abdullah Salehs gebildet.

Kenia

In Kenia bestand von 2008 bis 2013 eine Regierung der nationalen Einheit zwischen Mwai Kibaki und Raila Odinga.

Österreich

Allparteienregierungen gab es beispielsweise in Österreich in Deutschösterreich von 1918 bis 1919 unter Karl Renner und als „Konzentrationsregierung“ in der Zweiten Republik Österreich von 1945 bis 1947, bestehend aus SPÖ, ÖVP und KPÖ.

In den österreichischen Bundesländern Kärnten, Oberösterreich und Niederösterreich gilt dieses Prinzip nach wie vor in abgeschwächter Form: Den im Landtag vertretenen Parteien steht dann automatisch ein Regierungssitz, wenn sie bei den Landtagswahlen eine bestimmte Stärke erreicht haben (siehe auch Proporz).

Osttimor

Die Regierung, die aus den Parlamentswahlen in Osttimor 2012 hervorging, bestand aus der größten Partei, dem Congresso Nacional da Reconstrução Timorense CNRT und den kleineren Parteien Partido Democrático PD und Frenti-Mudança FM. Die FRETILIN, die zweitstärkste Kraft im Nationalparlament, bildete die einzige Opposition. 2015 trat aber Premierminister Xanana Gusmão vorzeitig zurück, um der nächsten Generation den Weg freizumachen. Auf seinen Betreiben hin, schlug der CNRT als neuen Premierminister das FRETILIN-Mitglied Rui Maria de Araújo vor. Er wurde am 16. Februar vereidigt. Seiner Regierung gehören Mitglieder aller vier Parteien an, genauso (wie bereits zuvor üblich) Parteilose. Kommentatoren sehen in der Allparteienkoalition einen Weg, die nationale Einheit ohne die Bindekraft des Freiheitshelden Xanana Gusmão, der die Regierung weiter als Minister unterstützt, zu erhalten.[4]

Palästinensische Autonomiegebiete

2007 wurde nach einer Regierungsumbildung eine Regierung der Palästinensischen Autonomiebehörde gebildet, die aus Mitgliedern von Hamas, Fatah und Mitgliedern weiterer Parteien, sowie Unabhängigen bestand. Aufgrund der Zusammenarbeit der beiden großen, miteinander rivalisierenden Fraktionen Hamas und Fatah wurde diese Regierung auch Regierung der nationalen Einheit genannt. Durch Präsident Mahmud Abbas wurde im selben Jahr die Regierung wieder aufgelöst und ein Notkabinett vereidigt.

Für das Jahr 2012 wurde erneut eine Einigung zur Bildung einer Einheitsregierung erzielt.[5]

Schweiz

In der Schweizer Konkordanzdemokratie war die Allparteienregierung von 1959 bis 2007 der Normalfall, wobei hier aber lediglich die vier größten Parteien im Nationalrat beteiligt sind. Diese Konstellation wird als Zauberformel bezeichnet.

Simbabwe

Nach langanhaltender öffentlicher Kritik an der Wahl Robert Mugabes wurde im Frühjahr 2009 in Simbabwe eine Regierung der nationalen Einheit gebildet und dem Oppositionsführer Morgan Tsvangirai das Amt des Regierungschefs übertragen.

Südafrika

Nach dem Ende der Apartheid gewann der ANC am 27. April 1994 die ersten demokratischen Wahlen Südafrikas mit absoluter Mehrheit. Am 9. Mai wurde Mandela vom neuen Parlament zum ersten schwarzen Präsidenten des Landes gewählt. Er führte eine Regierung, in der auch Minister der National Party und der Inkatha Freedom Party waren. Diese stellten die zweit- und drittgrößte im Parlament vertretenen Parteien dar. Abgesehen von einigen kleineren Parteien waren somit nahezu alle Parteien an der Regierung beteiligt.[6]

Vereinigtes Königreich

Im Vereinigten Königreich gab es eine Allparteienregierung während des Ersten Weltkriegs unter dem Liberalen David Lloyd George, gemeinsam mit den Konservativen. Ebenso gab es sie zur Zeit des Zweiten Weltkriegs, nach den National Government”-Kabinetten.

Siehe auch

Einzelnachweise

  1. www.bpb.de: „Allparteienregierung“, abgerufen am 24. Februar 2012.
  2. Factional and Government Make-Up of the Sixth Knesset. In: Factional and Government Make-Up. Knesset, abgerufen am 13. Dezember 2015 (englisch).
  3. The Main Events and Issues During the Eleventh Knesset. In: History of the Knesset. Knesset, abgerufen am 27. Dezember 2015 (englisch).
  4. Michael Leach: Generational change in Timor-Leste, Inside Story, 18. Februar 2015, abgerufen am 18. Februar 2015.
  5. www.spiegel.de: „Abbas soll Einheitsregierung der Palästinenser führen“, abgerufen am 24. Februar 2012
  6. Näheres und Belege siehe Nelson Mandela#Freilassung und das Ende der Apartheid