Michael Winterhoff

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Michael Winterhoff (2010)

Michael Winterhoff (* 3. Januar 1955 in Bonn) ist ein deutscher Kinder- und Jugendpsychiater, Psychotherapeut und Autor. Seine Sachbücher über die Entwicklung von Kindern erreichten hohe Auflagen, sodass Winterhoff sehr präsent in den Medien war. In der Fachwelt werden seine entwicklungspsychologischen Thesen vorwiegend negativ beurteilt. Eine im August 2021 ausgestrahlte ARD-Reportage über Winterhoffs Methoden führte zu eingehender Kritik in den Medien und an der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland.

Michael Winterhoff wuchs als zweites von vier Geschwistern in Bonn auf. Die Eltern betrieben am Ort eine Café-Konditorei. Er besuchte zunächst die Bonner Münsterschule (Hauptschule) und anschließend die Gottfried-Kinkel-Realschule. Entscheidende Impulse für seine spätere berufliche Ausrichtung erhielt Winterhoff erst als Teilnehmer, schließlich als aktiver Leiter von Jugendgruppen. In dieser Zeit entstand sein Wunsch, Medizin zu studieren. Mit diesem Ziel absolvierte er die gymnasiale Oberstufe am Ernst-Moritz-Arndt-Gymnasium Bonn und machte Abitur.[1]

Winterhoff studierte nach eigenen Angaben von 1977 bis 1983 Humanmedizin an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.[2] Seine Promotion zum Dr. med. erfolgte 1984 zum Thema Gastrinsekretion bei Ulcusdiathese durch Winkelbauer-Starlinger-Operation am Hund.[3]

Von 1988 bis 2021 arbeitete Winterhoff in Bonn als Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie in seiner eigenen Praxis.[4] Er befasste sich vorrangig mit psychischen Entwicklungsstörungen im Kindes- und Jugendalter aus tiefenpsychologischer Sicht. Zum 10. Dezember 2021 schloss Winterhoff aus Altersgründen seine Praxis.[5]

Zentrale Thesen

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Kindliche Entwicklung

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Für Winterhoff ist ein Irrtum in der Einschätzung des Kindes die Annahme, kindliches Verhalten sei Ausdruck der Persönlichkeit. Hier verkenne man entwicklungsspezifische Verhaltensweisen als individuelle Merkmale, denn Kinder hätten, so Winterhoff, bis zum Alter von sieben Jahren noch keine Persönlichkeit. Diese Entwicklung setze erst mit dem achten Lebensjahr ein.[6]

Winterhoff beruft sich eigenen Angaben zufolge auf die psychoanalytische Tradition.[7] So verbindet er das Freudsche Modell infantiler Sexualentwicklung mit Einsichten des Stufenmodells von Erik und Joan Erikson. Kinder durchliefen bis zum sechsten Lebensjahr die orale (0–2. Lebensjahr), die anale (3.–4. Lebensjahr) sowie die „magisch-ödipale“ Phase (5.–6. Lebensjahr). Diese Phasen seien mit entsprechenden „Weltbildern“ verknüpft, in denen sich das entwicklungsspezifische Selbst- und Realitätsverständnis des Kindes darstelle. Erst mit Abschluss der letzten Phase sei ein Kind „[…] in der Lage, zu erkennen, dass eine Eigenreaktion eine Gegenreaktion im Gegenüber auslösen“ könne. Es habe gelernt, in Konflikten Eigenanteile zu erkennen und sei damit im eigentlichen Sinne „schulreif“.[8]

Um diese Entwicklungsphasen absolvieren zu können, bedürfe das Kind eines elterlichen Gegenübers, das sich phasenspezifisch verhalte und so dafür sorge, dass diese Entwicklungsschritte abgeschlossen werden können. Im Gegensatz dazu steht nach Winterhoff der weitverbreitete Irrtum, die Entwicklung der Psyche wäre ein autonomer, von selbst ablaufender Prozess. Hier setzt seine Kritik am bestehenden „Grundkonsens der Gesellschaft“ an, die sich in pädagogischen Debatten verzettele, ohne deren Vorbedingung erreichter psychischer Reife zu reflektieren.

Kritische Diagnose

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Winterhoff vertritt in seinem Buch Warum unsere Kinder Tyrannen werden: Oder: Die Abschaffung der Kindheit die These, dass das gegenwärtige Erziehungsklima einen Entwicklungsstillstand der Kinder herbeiführe. Als Kinderpsychiater sieht Winterhoff die Ursache für den von ihm beobachteten epidemischen Zuwachs von Problemverhalten bei Kindern in der Psyche der Erwachsenen, die in Kontakt zu den Kindern stehen. Spezifische, der gesellschaftlichen Entwicklung geschuldete Fehlhaltungen behindern seiner Ansicht nach das Heranreifen des Nachwuchses:[9]

  • Kind als Partner: Das Kind werde als gleichberechtigter Erwachsener behandelt. Der Erwachsene begebe sich auf eine Stufe mit dem Kind. Diese Tendenz beobachte er seit Anfang der 1990er Jahre. Winterhoff wendet sich gegen die moderne, „partnerschaftliche“ Pädagogik, wobei er seine Kritik nicht als Beitrag zur pädagogischen Debatte verstanden wissen will.
  • Projektion: So nennt Winterhoff das Bedürfnis des Erwachsenen, vom Kind geliebt zu werden, sofern dieses Bedürfnis die erzieherische Autorität korrumpiere. Diese Tendenz beobachte er seit Mitte der 90er Jahre. Der gesellschaftlich enttäuschte Erwachsene begebe sich „in der Projektion“ auf eine Stufe unter das Kind, um hier seine Bedürftigkeit nach Liebe und Anerkennung stellvertretend zu kompensieren. Aus Angst vor Liebesverlust gerate der Erziehende in eine Position passiver, diagnostizierender Beobachtung, um anschließend zuvörderst erzieherische Probleme an therapeutische Instanzen zu delegieren.
  • Symbiose: Das Kind werde im Rahmen einer psychischen Verschmelzung ein Teil des Erwachsenen. Die Symbiose sei gleichzeitig die Extremform in der absteigenden Trias der Fehlhaltungen, in welcher keinerlei seelische Abgrenzung mehr erkennbar sei. Als Endpunkt einer verheerenden Fehlentwicklung finde sich diese Verfallsform seit der Jahrtausendwende.[10]

In seiner Diagnose des gegenwärtigen, gesamtgesellschaftlichen Erziehungsklimas sieht Winterhoff zeittypische Formen der Überforderung oder des emotionalen Missbrauchs des Kindes. Die zunehmende Überforderung der Erwachsenen verschiebe die natürliche Machtbasis zugunsten des Nachwuchses und führe schließlich zu der völligen Machtumkehr, die Winterhoff als „Tyrannei“ des Kindes beschreibt. In Abhängigkeit von allgemeinen gesellschaftlichen Fehlentwicklungen gelinge es den Erwachsenen so immer weniger, den Kindern ein förderndes Gegenüber zu sein. Die Gesellschaft ziehe sich in epidemischem Ausmaß eine Horde kindlicher „Tyrannen“ heran, deren weitere Entwicklung eine gesamtgesellschaftliche Bedrohung darstelle.

Seit 2008 sieht Winterhoff diese Entwicklung durch die Digitalisierung weiter verstärkt.[11] Die Reizüberflutung mit Informationen (bspw. durch Smartphones) führe bei immer mehr Erwachsenen zu einem depressionsnahen Zustand, den er den „Katastrophenmodus“ nennt. Um die mangelnde Abgrenzung bei Betroffenen wiederherzustellen, empfiehlt Winterhoff nach eigenem Vorbild ausgedehnte, mehrstündige Waldspaziergänge[12] und eine kritische Reflexion des allgegenwärtigen Überforderungsbegriffs, den er in seinem Buch Mythos Überforderung. Was wir gewinnen, wenn wir uns erwachsen verhalten thematisiert. Winterhoff prognostiziert, ohne eine baldige Verhaltensänderung würde „unsere Gesellschaft ihre Kinder hassen!“ Der emotionale Missbrauch der Kinder unter dem Deckmantel eines partnerschaftlichen Umgangs gefährde die kulturelle Lebensfähigkeit der Gesellschaft. Er fordert, die psychische Entwicklung von Kindern in den Mittelpunkt der Erziehung zu stellen. Kinder seien keine kleinen Erwachsenen. Nur wenn sie wie Kinder behandelt würden, befähige man sie „in einem positiven Sinne lebensfähig“ zu werden.[13][14]

Rezeption und Kritik

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Bücher und öffentliche Auftritte

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Winterhoffs Buch Warum unsere Kinder Tyrannen werden: Oder: Die Abschaffung der Kindheit erreichte laut Verlagswerbung binnen eines Jahres eine Auflage von 280.000 Exemplaren. In der Jahresbestsellerliste 2008 des Magazins Der Spiegel kam es auf Platz 4 der Sachbücher.[15] Sein Nachfolger Tyrannen müssen nicht sein stand im Januar 2009 kurzzeitig auf Platz 1 der Spiegel-Bestsellerliste. Bis Anfang August 2009 wurden insgesamt 420.000 Exemplare von Warum unsere Kinder Tyrannen werden und 160.000 Exemplare von Tyrannen müssen nicht sein verkauft.[16] Die Gesamtverkaufszahl seiner Publikationen lag nach Verlagsangaben 2017 bei 1,3 Millionen Exemplaren.

Seit dem Erscheinen seines ersten Bestsellers im Jahr 2008 erhielt Winterhoff Medienpräsenz als Gast in verschiedenen Talkshows wie Anne Will, Maischberger und Markus Lanz.[17] Außerdem wurde Winterhoff europaweit für Vorträge über Bildungs- und Erziehungsthemen eingeladen.[18]

Kurz nach dem Erscheinen von Winterhoffs erstem Buch Warum unsere Kinder Tyrannen werden kritisierte der Pädagoge und Familientherapeut Wolfgang Bergmann die Arbeit. Er warf Winterhoff vor, mit seinen undifferenzierten Thesen und Empfehlungen einseitig auf Gehorsam abzuzielen und damit ein kaltes Erziehungsklima zu fördern. Gehorsam behindere nach Bergmann die Intelligenz, die Entfaltung und die Freiheit eines Kindes.[19] Die Historikerin Miriam Gebhardt machte darauf aufmerksam, dass die Rede vom „kindlichen Tyrannen“ eine typisch deutsche Prägung sei, deren Wurzel in der autoritären Pädagogik der Zeit des Nationalsozialismus liege, etwa den einschlägigen Erziehungsratgebern der Johanna Haarer, wie sie in ihrem Buch Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind niedergelegt sind.[20]

Der Heilpädagoge Henning Köhler fand im Herbst 2009 die Wurzeln dieser Auffassung in der weiteren Tradition der schwarzen Pädagogik. Er widmete den Thesen Winterhoffs eine ausführliche Kritik, in der unter anderem der wissenschaftliche Anspruch moniert wird, mit dem der Kinderpsychiater auftrete. So bediene er sich eines überholten Narzissmusbegriffes der klassischen Psychoanalyse, der das obsolete Muster für die Standarddiagnose „frühkindliche narzisstische Störung“ bzw. Fixierung abgebe, nämlich Winterhoffs Rede vom Stehenbleiben auf der Stufe eines 10 bis 16 Monate alten Kindes. Unter Berufung auf neuere Forschung von Martin Dornes seien etwa das Wissen um die Subjektivität des Anderen, die Begabung zu Empathie und Kommunikation beim Säugling angeborenes „Kernwissen“ und nicht die hier behauptete kindliche Allmachtsphantasie tyrannischer Verfügung über Menschen als Objekte. Als vorgeblicher „Retter“ im „Krisengebiet Kindheit“ agitiere Winterhoff „eine völlig unangebrachte restaurative Propaganda“, während profunde Beiträge zur Erziehungsdebatte weithin unerhört blieben.[21][22]

Der Literaturkritiker Denis Scheck bemängelte in der Besprechung der Spiegel-Bestsellerlisten 2009 den demagogischen Duktus des Erstlings Winterhoffs Warum unsere Kinder Tyrannen werden. In Fragen der Erziehung gelte das unbedingte Primat der Form. Für das Zweitwerk des Autors (Tyrannen müssen nicht sein), das zu diesem Zeitpunkt ebenfalls auf der Bestsellerliste stand, fand er eine ähnlich resümierende Kritik: „Menschen, die selbst nicht erwachsen sind, so die Generalthese des Jugendpsychiaters Winterhoff, geben schlechte Eltern ab. Mag sein, klingt jedenfalls plausibel. Ganz sicher aber wollen tatsächlich erwachsene Leser nicht in dem krud manipulativen Ton dieses Sachbuchs angesprochen werden.“[23]

In der Wochenzeitung Die Zeit kontrastierte der Journalist Martin Spiewak Winterhoffs Thesen mit neueren wissenschaftlichen Untersuchungen, die zu diametral anderen Ergebnissen kämen. Winterhoff stütze sich ausschließlich auf Fallschilderungen aus seiner eigenen therapeutischen Praxis, die er generalisiere.[24] Spiewak berief sich insbesondere auf die Studie des Psychologen Martin Dornes zur Modernisierung der Seele aus dem Jahr 2012. Dornes besprach in diesem an empirischen Befunden orientierten Überblickswerk kritisch die gängigen Topoi der Erziehungsdebatte. Winterhoff setze einen eigenen Akzent, indem er den vermeintlichen Zuwachs an Krankheitsfällen bei Kindern als eigentlichen Zuwachs an Entwicklungsstörungen diagnostiziere, die durch defizitäre Erziehung (Erziehungsverzicht) verursacht seien. Er vertrete eine „modifizierte Parentifizierungsthese“, auf die seine „Katastrophendiagnose“ aufbaue,[25] ohne dass sich belastbare Statistiken oder seriöse Einschätzungen zur gesellschaftlichen Relevanz der beschriebenen Phänomene fänden. Die Zahl fehlerzogener und symptombehafteter Kinder sei in den späten 1950er-Jahren höher gewesen. Dornes stellt die Winterhoffschen Datierungsangaben infrage und sieht eine Überspannung des beschworenen Verfallsszenarios eines kommenden gesellschaftlichen Zusammenbruchs. Er bemängelt die „unangemessen negative Einschätzung“ des modernen Erziehungsstils und hält die beschriebenen Phänomene erziehungsunfähiger Elternschaft für ein Minderheitenproblem. Die ungenannten Vorläufer der These vom narzisstischen Tyrannen fänden sich bereits in der Erziehungsliteratur der 1950er- und 1970er-Jahre. Insbesondere die Winterhoffsche „Projektion“ sei als Narzissmuskritik schon 1975 in Thomas Ziehes Studie zum neuen Sozialisationstyp (Pubertät und Narzissmus) vorgetragen worden.[26]

Spiewak kritisierte an Deutschland verdummt, dass Winterhoff „sich seine Schulrealität aus Zeitungsartikeln, Meinungsumfragen und Interviews mit Praktikern, die der Autor über das Buch streut“ bastele und vermutet, dass diese Gespräche so nie stattgefunden hätten, weil sie nahezu identisch Winterhoffs Aussagen bestätigten. Er bezeichnete Winterhoff als „Thilo Sarrazin der Erziehung in Deutschland“. Spiewak erkannte drei Gründe für Winterhoffs Erfolg: einen Expertenbonus, Horrorlust und den Entlastungseffekt.[27]

Der Journalist Alex Rühle hielt Winterhoff im Jahr 2019 vor, in seinem neuen Werk Deutschland verdummt „mit dem Pauschalpanzer durchs Theoriegelände [zu donnern]“ und „dröhnende Endzeitrhetorik“ zu verbreiten. Dies sei „schade“ angesichts der treffenden Kernthese: „Der sogenannte ‚offene Unterricht‘ lässt Schüler wie Lehrer viel zu oft allein. Wenn Lehrer zu ‚Lernbegleitern‘ werden, läuft das dem Bedürfnis der Kinder nach Orientierung und Bindung zuwider.“ Winterhoffs gesellschaftspsychologische These einer gefährdeten politischen Stabilität, die nichts Gutes für die Zukunft verheiße, bezeichnete Rühle als „doch eher unterkomplex bis fragwürdig“. In seiner kritischen Doppelrezension stellte er Winterhoff das gleichzeitig erschienene Werk Ist die Schule zu blöd für unsere Kinder? des FAZ-Herausgebers Jürgen Kaube gegenüber. Dem entnahm er eine ähnlich kritische Haltung wie Winterhoff und ähnliche Kritikpunkte wie beispielsweise eine zu frühe Digitalisierung der Schulen. Statt Winterhoffs Dramatisierung und Verzerrung „ins Apokalyptische“ komme Kaube jedoch „witzig, kompetent und empirie- und faktengesättigt rüber“ und zeige eine idealistische Emphase.[28]

Susanne Billig von Deutschlandfunk Kultur kritisierte, dass die Forderungen, die einer Pädagogik aus vergangenen Zeiten entstammten und nicht zukunftstauglich seien. Winterhoff wünsche sich die von Frontalunterricht, Autorität und Gehorsam angstgeprägte Pädagogik der 1960er- und 1970er-Jahre zurück.[29] Der Kinder- und Jugendpsychiater Kai von Klitzing sieht als Ursache des medialen Interesses an Winterhoff, der in der Fachwelt auf medial kaum wahrgenommene Kritik stieß, „ein kollektives Schuldgefühl“ gegenüber den Kindern wegen deren Vernachlässigung im frühen Kindesalter und den daraus resultierenden Folgen. Durch die Darstellung von Kindern als Tyrannen fände eine Täter-Opfer-Umkehr statt, gegen die man sich wehren müsse. Von Klitzing hält dies für „eine sehr bequeme These, die man gerne“ höre.[30]

Auch der Journalist und Erziehungswissenschaftler Reinhard Kahl fragte in der taz nach den Gründen für den Erfolg Winterhoffs. Er attestierte Winter den pathologischen Narzissmus, den dieser mit einem „Parolenmix“ statt fundierter Theorie und einer monotonen diagnostischen und therapeutischen Praxis auf seine Klientel projiziert habe. Sein Erfolg verweise „aber auch auf einen blinden Fleck der Gesellschaft in nachautoritären und zugleich postantiautoritären Zeiten“, Helikopter-Eltern, die nicht in der Lage seien, das innere Kind zu schützen.[31]

Folgen der kritischen ARD-Reportage (2021)

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Die Sendereihe Die Story im Ersten befasste sich im August 2021 in der Folge „Warum Kinder keine Tyrannen sind“ kritisch mit Winterhoffs Arbeit. Vorgestellt werden Fälle, in welchen Winterhoff Kindern pauschal das ruhig stellende Medikament Pipamperon verordnet, oftmals ohne erkennbare Indikation. In allen dargestellten Fällen beruft er sich dabei auf eine als unwissenschaftlich kritisierte Diagnose,[32] welche den fragwürdigen Thesen seiner Veröffentlichungen entspricht. Kritisiert wird, dass die Verabreichung des Neuroleptikums zu häufig, zu lange und in zu hohen Dosen erfolgte. Der Bericht schließt mit der Schilderung von Fällen, in denen Winterhoff an Jungen Untersuchungen des Genitalbereichs durchgeführt habe, die von den betroffenen Personen als nachhaltig traumatisierend beschrieben werden. Die Kinderpsychiaterin Ulrike Mattern-Ott bezeichnet die geschilderten Untersuchungen als „mehr als befremdlich“ für den kinderpsychiatrischen Bereich.[33] Auch Herbert Renz-Polster kommentierte, dass das System nur funktioniere, weil Winterhoffs Art des Denkens über Kinder und Beziehungen heute noch von vielen Menschen geteilt werde.[34]

Die Familienministerien der Länder Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz kündigten nach der Ausstrahlung an, Winterhoffs Behandlungsmethoden umfangreich zu untersuchen.[35] Das Jugendamt der Stadt Sankt Augustin kündigte die Zusammenarbeit mit Winterhoff aufgrund möglicher Hinweise auf eine „fachlich nicht vertretbare, schadenverursachende Arbeitsweise“.[36] Der Diözesan-Caritasverband für das Erzbistum Köln forderte alle etwa 60 Träger der Kinder- und Jugendhilfe auf, die Zusammenarbeit mit Winterhoff kritisch zu prüfen. Der Verband zeigte sich erschrocken davon, wie unkritisch Kinder- und Jugendhilfeinstitutionen Winterhoffs psychiatrische Diagnostik und Therapie akzeptierten und dass Jugendämter und Familiengerichte die Gutachter-Empfehlungen ungeprüft übernommen hätten.[37]

Gegen Winterhoff wurde im August 2021 bei der Staatsanwaltschaft Bonn von dem Rechtsanwalt Mehmet Daimagüler für einige Betroffene Strafanzeige wegen des Verdachts der schweren Körperverletzung und der Körperverletzung zulasten der behandelten Kinder sowie wegen Betruges zulasten der Krankenkassen, mit denen er die Behandlungskosten abrechnete, erstattet.[38] Die Ärztekammer Nordrhein prüfte ein berufsrechtliches Vorgehen gegen Winterhoff.[39] Die Rechtsanwälte Winterhoffs erklärten, die Reportage habe Falschaussagen enthalten, die Verordnung des Medikaments Pipamperon sei zulässig gewesen und bei den Abrechnungen seien kleinere Fehler passiert.[40]

Ende März 2022 beschrieben die Journalisten Nicole Rosenbach und Rainer Stadler den Stand der Ermittlungen. Während die Ärztekammer ein zurückhaltendes Gutachten zur Verschreibung von Pipamperon veröffentlicht habe („als Dauermedikation in aller Regel nicht indiziert“), sei vonseiten der Anwälte Irritation über das Vorgehen und schleppende Prozedere der Staatsanwaltschaft zu vernehmen. Der nordrhein-westfälische Familienminister Joachim Stamp habe trotz anderslautender Ankündigungen nichts zur Aufklärung der im Raum stehenden Straftaten beigetragen.[41] Im Mai 2022 wurden auf Veranlassung der Staatsanwaltschaft Bonn die Patientenakten in Winterhoffs ehemaliger Praxis sowie in weiteren Jugendhilfeeinrichtungen zur Sicherung möglichen Beweismaterials beschlagnahmt.[42][43] Wenige Wochen später berichtete die Presse zunächst von einer dreistelligen Gesamtzahl von Anzeigen und Fällen.[44]

Anfang Juli 2023 hat die Staatsanwaltschaft Bonn beim Landgericht Bonn Anklage gegen Winterhoff wegen gefährlicher Körperverletzung in 36 Fällen erhoben.[45] Die Anwälte Winterhoffs, Kerstin Stirner und Carsten Brennecke, wiesen die von der Staatsanwaltschaft erhobenen Vorwürfe als unbegründet zurück. Medikamente seien lediglich bei medizinischer Indikation verordnet worden und die Verschreibung hätte einer regelmäßiger Überprüfung unterlegen; Nachweise für eine nachteilige Auswirkung der verordneten Medikamente würden nicht vorliegen.[46][47]

Bis 2013, also in seinen ersten Publikationen, arbeitete Winterhoff mit dem Ghostwriter Carsten Tergast zusammen.[48]

  • Warum unsere Kinder Tyrannen werden: Oder: Die Abschaffung der Kindheit. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2008, ISBN 978-3-579-06980-7.
  • Tyrannen müssen nicht sein: Warum Erziehung nicht reicht – Auswege. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2009, ISBN 978-3-579-06899-2.
  • Persönlichkeiten statt Tyrannen: Oder: Wie junge Menschen in Leben und Beruf ankommen. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2010, ISBN 978-3-579-06867-1.
  • Lasst Kinder wieder Kinder sein! Oder: Die Rückkehr zur Intuition. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2011, ISBN 978-3-579-06750-6.
  • Moderne Entwicklungsstörungen bei Kindern und Jugendlichen Analyse – Herausforderungen und Aufgaben – Auswege. Ein Vortrag auf DVD von Michael Winterhoff. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2011, ISBN 978-3-579-07636-2.
  • SOS Kinderseele. Was die emotionale und soziale Entwicklung unserer Kinder gefährdet – Und was wir dagegen tun können. C. Bertelsmann, München 2013, ISBN 978-3-570-10172-8.
  • Mythos Überforderung. Was wir gewinnen, wenn wir uns erwachsen verhalten. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2015, ISBN 978-3-579-06620-2.
  • Die Wiederentdeckung der Kindheit. Wie wir unsere Kinder glücklich und lebenstüchtig machen. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2017, ISBN 978-3-579-08662-0.
  • Deutschland verdummt: Wie das Bildungssystem die Zukunft unserer Kinder verbaut. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2019, ISBN 978-3-579-01468-5.[49]
  • Olaf Link: Erziehung und Aufklärung. Eine Hilfe, die Funktion von Super-Nanny, Bernhard Bueb und Michael Winterhoff im geschichtlich-gesellschaftlichen Kontext zu verstehen. Kid Verlag, Bonn 2011, ISBN 978-3-929386-31-8.
Commons: Michael Winterhoff – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise und Anmerkungen

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  1. Den Kindern die Kindheit lassen. Michael Winterhoff im Gespräch mit Katrin Heise, Deutschlandfunk Kultur, 31. August 2017, Audio (36:05), abgerufen am 5. September 2017.
  2. Johannes Süßmann: Michael Winterhoff: „Der Vorgang scheint größere Ausmaße anzunehmen“, zeit.de, 13. August 2021
  3. Michael Winterhoff: Gastrinsekretion bei Ulcusdiathese durch Winkelbauer-Starlinger-Operation am Hund, worldcat.org
  4. „Michael Winterhoff schließt seine Praxis in Bonn“, Generalanzeiger Bonn, 6. Dezember 2021, abgerufen am 10. Januar 2022
  5. Umstrittener Kinderpsychiater Winterhoff schließt Praxis (Memento vom 8. Dezember 2021 im Internet Archive)
  6. Winterhoff (2008), S. 28.
  7. Vgl. Winterhoff (2008), S. 35.
  8. Winterhoff (2008), S. 36.
  9. vgl. hierzu und dem Folgenden: Winterhoff (2008) sowie „Auf dem Stand eines Zweijährigen“. Tatort Familie. In: Spiegel Online. 4. Mai 2010, archiviert vom Original (nicht mehr online verfügbar) am 28. November 2012; abgerufen am 17. März 2017 (Michael Winterhoff im Interview).
  10. Bis etwa Mitte der 1990er Jahre hätten Kinder laut Winterhoff eine normale seelische Entwicklung aufgewiesen, und die Erziehung der 1950er Jahre habe im Gegensatz zur aktuellen Lage „lebenstüchtige“, „arbeits- und beziehungsfähige“ Erwachsene hervorgebracht. Diese Entwicklung begründet Winterhoff mit der Unabhängigkeit des kindlichen Reifungsprozesses vom jeweiligen Erziehungsstil und dem offenbar epidemischen Schwund „in sich ruhender“ Erwachsener in den letzten zwei Jahrzehnten. Vgl.: His Majesty the Baby: Wie Erziehung narzisstisch macht. Vortrag beim Wiener RPP-Institut, 6. Mai 2017, Video, 62 Min.
  11. Wie die Digitalisierung unsere Kinder verblödet (Michael Winterhoff). In: YouTube. RPP Institut, abgerufen am 25. Januar 2021.
  12. Zur Validierung seiner Beobachtungen vgl.: Vier bis fünf Stunden in den Wald. Moritz Rosenkranz im Interview mit Michael Winterhoff, General-Anzeiger Bonn, 12. Oktober 2016, abgerufen am 17. März 2017.
  13. Behütet, verwöhnt oder gefährdet? Wie Kinder heute aufwachsen. (Vortragsreihe) In: DHMD: Deutsches Hygiene-Museum. Universitätsklinikum Dresden, 5. September 2018, abgerufen am 25. Januar 2021.
  14. Martin Spiwak: Was versteht dieser Mann von Kindern?. In: DIE ZEIT, Nr. 34. 19. August 2021. S. 31
  15. Jahresbestsellerliste 2008 bei buchreport.de (Memento vom 25. April 2009 im Internet Archive)
  16. Blick des Psychologen auf kleine Tyrannen. Bücher zur Erziehungsdebatte. In: buchreport.de. 6. August 2009, abgerufen am 30. Juli 2021.
  17. Julia Beil: Der Psychiater, der Kinder mit Medikamenten ruhigstellte: Was ein Experte zu den Vorwürfen gegen Michael Winterhoff sagt. businessinsider.de, 13. August 2021.
  18. Nicole Rosenbach: Warum Kinder keine Tyrannen sind. wdr.de, 11. August 2021.
  19. Zur Hölle mit der Disziplin. Interview mit Wolfgang Bergmann, Süddeutsche Zeitung. 20. Februar 2009, abgerufen am 11. Juli 2019.
  20. Die ewige Angst vor dem kleinen Tyrannen. In: Berliner Morgenpost. 16. Januar 2010 (morgenpost.de), abgerufen am 16. November 2016; sowie Erziehung gestern (Memento vom 8. Januar 2016 im Internet Archive; PDF 43,4 kB), Vortrag an der Evangelischen Akademie Tutzing.
  21. Henning Köhler: Dressurpädagogik? Nein danke! Die individualpädagogische Antwort auf Michael Winterhoff und Bernhard Bueb. (PDF; 437 kB) Janusz-Korczak-Institut, 2009, archiviert vom Original (nicht mehr online verfügbar) am 12. Dezember 2016; abgerufen am 15. August 2021.
  22. Henning Köhler: Dressurpädagogik? Nein danke! Die individualpädagogische Antwort auf Michael Winterhoff und Bernhard Bueb. Eine Stellungnahme im Auftrag des Studienkreises für Neue Pädagogik (SNP). (PDF) Janusz-Korczak-Institut, 2009, archiviert vom Original (nicht mehr online verfügbar) am 31. März 2010; abgerufen am 15. August 2021.
  23. Hässlich ist verlässlich. In: Der Tagesspiegel. 3. Mai 2009 (Bestseller-Besprechung:), abgerufen am 19. März 2017.
  24. Martin Spiewak: Wir sind keine Sorgenkinder! In: Die Zeit. vom 11. September 2014, S. 15 (zeit.de).
  25. Martin Dornes: Die Modernisierung der Seele. Frankfurt am Main 2012, S. 309.
  26. Martin Dornes: Die Modernisierung der Seele. Frankfurt am Main, 2012; zu Winterhoff hier Kap. Krank oder unerzogen? S. 414 ff.
  27. Martin Spiewak: "Deutschland verdummt": Pädagogik zum Gruseln. In: zeit.de. 1. Juni 2019, abgerufen am 30. Juli 2021.
  28. Alex Rühle: Die Schule als Warteraum. Kostenpflichtig. SZ, 23. Mai 2019, abgerufen am 24. Mai 2019.
  29. Susanne Billig: Michael Winterhoff: „Deutschland verdummt“ Abrechnung mit dem System Schule. In: deutschlandfunkkultur.de. 6. Juli 2019, abgerufen am 12. August 2021.
  30. Vorwürfe gegen den Kinderpsychiater Winterhoff: „Das Bild vom Tyrannenkind ist gefährlich“. Kai von Klitzing im Gespräch mit Julius Stucke. In: deutschlandfunkkultur.de. 14. August 2021, abgerufen am 15. Mai 2021.
  31. Neue Vorwürfe gegen Jugendpsychiater: Schwarze Pädagogik 2.0. Reinhard Kahl, taz, 23. August 2021, abgerufen am 24. April 2022
  32. Nicole Rosenbach: Schwere Vorwürfe gegen Kinderpsychiater. In: tagesschau.de. 9. August 2021, abgerufen am 29. August 2021.
  33. Die Story im Ersten: Warum Kinder keine Tyrannen sind. 11. August 2021, abgerufen am 30. Juli 2021.
  34. Herbert Renz-Polster: Das „System Winterhoff“ ist kollabiert. Und das System dahinter? 11. August 2021, abgerufen am 13. August 2021.
  35. Vorwürfe gegen den Kinderpsychiater Winterhoff – „Das Bild vom Tyrannenkind ist gefährlich“. In: Deutschlandfunk Kultur. 14. August 2021, abgerufen am 15. August 2021.
  36. Kinderpsychiater Winterhoff: Jugendamt beendet Kooperation. Tagesschau.de, 11. August 2021.
  37. Johannes Süßmann: "Der Vorgang scheint größere Ausmaße anzunehmen". In: zeit.de. 13. August 2021, abgerufen am 13. August 2021.
  38. Rainer Stadler: Strafanzeige gegen Kinderpsychiater Winterhoff. Abgerufen am 1. Mai 2022.
  39. Ärztekammer Nordrhein prüft berufsrechtliches Vorgehen gegen Kinderpsychiater. In: Ärztezeitung. Abgerufen am 15. August 2021.
  40. Nathalie Dreschke, Anna Maria Beekes: Nach schweren Vorwürfen: Kinderpsychiater Winterhoff tritt aus Vorstand des Vereins „Kleiner Muck“ zurück. In: General Anzeiger. 13. August 2021, abgerufen am 15. August 2021.
  41. Nicole Rosenbach, Rainer Stadler: Schleppende Ermittlungen im Fall Winterhoff. In: Süddeutsche Zeitung. 31. März 2022, abgerufen am 22. April 2022.
  42. Nicole Rosenbach: Verdacht der Körperverletzung: Razzia bei Kinderpsychiater Winterhoff. In: tagesschau. 13. Mai 2022, abgerufen am 13. Mai 2022.
  43. Rainer Stadler: Razzia bei Bonner Kinderpsychiater Michael Winterhoff. In: Süddeutsche Zeitung. 13. Mai 2022, abgerufen am 13. Mai 2022.
  44. Anna Maria Beekes: Fälle in Ermittlung gegen Kinderpsychiater Michael Winterhoff häufen sich. In: General-Anzeiger Bonn. 24. Juni 2022, abgerufen am 24. Juni 2022.
  45. Nicole Rosenbach, Rainer Stadler: Staatsanwaltschaft Bonn erhebt Anklage gegen Michael Winterhoff. In: Süddeutsche Zeitung. 4. Juli 2023, abgerufen am 4. Juli 2023.
  46. Anklage gegen bekannten Kinderpsychiater Michael Winterhoff. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 5. Juli 2024, abgerufen am 21. Oktober 2024.
  47. Winterhoff zum Ermittlungsverfahren wegen Körperverletzung. In: hoecker.eu. 5. Juli 2024, abgerufen am 21. Oktober 2024.
  48. Carsten Tergast. Abgerufen am 17. Februar 2023.
  49. zeit.de vom 1. Juni 2019 / Martin Spiewak: Rezension