„Unruhen in Frankreich 2005“ – Versionsunterschied

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Zur Navigation springen Zur Suche springen
[ungesichtete Version][ungesichtete Version]
Inhalt gelöscht Inhalt hinzugefügt
Bonzo* (Diskussion | Beiträge)
Löschvandale von Boogieman95028, 17:04, 5. Jun. 2007 rückgängig, "wegkärchern" wieder rein (Löschung erfolgte durch einen Kärcher-Mitarbeiter, 10:57, 22. Mär. 2007)
Zeile 9: Zeile 9:
Am [[27. Oktober]] [[2005]] versteckten sich drei Jugendliche, Ziad Benna (17 Jahre), Bouna Traoré (15 Jahre) und Muhttin Altun (17 Jahre) in einem Transformatorhaus in einem Vorort von Paris, weil sie befürchteten, dass die Polizei hinter ihnen her sei. Ziad Benna und Bouna Traoré kamen bei dem Versuch, das Häuschen zu überqueren, um. Trotz eines Warnschildes versuchten sie bei ihrem Fluchtversuch, die Transformatorstation zu überwinden und wurden dort von [[Stromschlag|Stromschlägen]] tödlich getroffen und verbrannten. Der türkischstämmige Muhttin Altun überlebte mit schweren Verbrennungen.
Am [[27. Oktober]] [[2005]] versteckten sich drei Jugendliche, Ziad Benna (17 Jahre), Bouna Traoré (15 Jahre) und Muhttin Altun (17 Jahre) in einem Transformatorhaus in einem Vorort von Paris, weil sie befürchteten, dass die Polizei hinter ihnen her sei. Ziad Benna und Bouna Traoré kamen bei dem Versuch, das Häuschen zu überqueren, um. Trotz eines Warnschildes versuchten sie bei ihrem Fluchtversuch, die Transformatorstation zu überwinden und wurden dort von [[Stromschlag|Stromschlägen]] tödlich getroffen und verbrannten. Der türkischstämmige Muhttin Altun überlebte mit schweren Verbrennungen.


Der Staatsanwalt François Molins gab an, dass die Jugendlichen vor Polizisten flüchteten, die allerdings eine andere Gruppe verfolgten, die sich einer Personenkontrolle entziehen wollte. Dies bestätigte auch der damalige [[Liste der Innenminister von Frankreich|französische Innenminister]] [[Nicolas Sarkozy]], nachdem er zunächst die Todesopfer des Diebstahls von Baumaterial bezichtigt hatte, was sich schnell als falsch herausstellte. Muhttin Altun sagte aus, dass er keine Polizisten während ihrer Flucht noch in der Nähe des Transformators gesehen habe. Nachdem die offizielle Untersuchung abgeschlossen wurde, eröffnete Sarkozy ein Ermittlungsverfahren wegen unterlassener Hilfeleistung gegen unbekannt, da, wie die Angehörigen zu recht vermuteten, die Polizisten von der Anwesenheit der Jugendlichen auf dem Gelände gewusst hatten, sie sich aber aufgrund der Lebensgefahr nicht darum gekümmert hätten. Dies ist durch Mitschnitte des Polizeifunks bestätigt worden.
Der Staatsanwalt François Molins gab an, dass die Jugendlichen vor Polizisten flüchteten, die allerdings eine andere Gruppe verfolgten, die sich einer Personenkontrolle entziehen wollte. Dies bestätigte auch der damalige [[Liste der Innenminister von Frankreich|französische Innenminister]] [[Nicolas Sarkozy]], nachdem er zunächst die Todesopfer des Diebstahls von Baumaterial bezichtigt hatte, was sich schnell als falsch herausstellte. Muhttin Altun sagte aus, dass er keine Polizisten während ihrer Flucht noch in der Nähe des Transformators gesehen habe. Nachdem die offizielle Untersuchung abgeschlossen wurde, eröffnete Sarkozy ein Ermittlungsverfahren wegen unterlassener Hilfeleistung gegen unbekannt, da, wie die Angehörigen zu Recht vermuteten, die Polizisten von der Anwesenheit der Jugendlichen auf dem Gelände gewusst hatten, sie sich aber aufgrund der Lebensgefahr nicht darum gekümmert hätten. Dies ist durch Mitschnitte des Polizeifunks bestätigt worden.


Überraschend kam der Ausbruch der Gewalt allerdings nicht. So wurden im Jahr 2005 bereits vor dem Beginn der eigentlichen Unruhen etwa 90 Autos jede Nacht in Frankreich in Brand gesteckt, insgesamt 28.000 seit Beginn des Jahres 2005. Daneben wurden ca. 17.500 Müllcontainer angezündet, 5.760 Bushaltestellen, Telefonzellen und andere städtische Einrichtungen zerstört und 3.832 Angriffe auf Polizei oder Feuerwehr gezählt<ref>Tagesspiegel vom 07. November 2005</ref>. Für mediales Aufsehen sorgte lediglich eine Serie von Brandanschlägen auf jüdische Einrichtungen, die die diplomatischen Beziehungen zwischen Frankreich und Israel belasteten.
Überraschend kam der Ausbruch der Gewalt allerdings nicht. So wurden im Jahr 2005 bereits vor dem Beginn der eigentlichen Unruhen etwa 90 Autos jede Nacht in Frankreich in Brand gesteckt, insgesamt 28.000 seit Beginn des Jahres 2005. Daneben wurden ca. 17.500 Müllcontainer angezündet, 5.760 Bushaltestellen, Telefonzellen und andere städtische Einrichtungen zerstört und 3.832 Angriffe auf Polizei oder Feuerwehr gezählt.<ref>Tagesspiegel vom 07. November 2005</ref> <ref>„Doch die Entwicklung eskaliert. Seit Januar hat es 70 000 Fälle von Vandalismus, Brandstiftung, Bandengewalt gegeben. Nicht weniger als 28 000 Autos sind angesteckt worden. Und es sind meist die Autos der Armen, die da lodern.“ In: [http://www.spiegel.de/spiegel/0,1518,383443,00.html „Aufruhr in Eurabia“], [[Der Spiegel]], 7. November 2005</ref> Für mediales Aufsehen sorgte lediglich eine Serie von Brandanschlägen auf jüdische Einrichtungen, die die diplomatischen Beziehungen zwischen Frankreich und Israel belasteten.


== Unruhen ==
== Unruhen ==
Zeile 39: Zeile 39:
Am 5. November erklärte der für die innere Sicherheit zuständige französische Innenminister [[Nicolas Sarkozy]], dass „der Staat die Gewalt nicht akzeptieren“ könne. In der Nacht zum 6. November besuchte er überraschend eine Polizeistation im Département Essonne im Süden von Paris, wo er sich mit festgenommenen Minderjährigen auseinandersetzte. Der sozialistische Senator [[Jean-Luc Mélenchon]] hatte zuvor die Notwendigkeit eines Dialogs mit den Jugendlichen angemahnt. Die Situation dürfe nicht zum „Konflikt zwischen verzweifelten Jugendlichen und zornigen Polizisten werden”.
Am 5. November erklärte der für die innere Sicherheit zuständige französische Innenminister [[Nicolas Sarkozy]], dass „der Staat die Gewalt nicht akzeptieren“ könne. In der Nacht zum 6. November besuchte er überraschend eine Polizeistation im Département Essonne im Süden von Paris, wo er sich mit festgenommenen Minderjährigen auseinandersetzte. Der sozialistische Senator [[Jean-Luc Mélenchon]] hatte zuvor die Notwendigkeit eines Dialogs mit den Jugendlichen angemahnt. Die Situation dürfe nicht zum „Konflikt zwischen verzweifelten Jugendlichen und zornigen Polizisten werden”.
[[Image:France Riots spread.png|thumb|left|Von den Unruhen betroffene größere Städte]]
[[Image:France Riots spread.png|thumb|left|Von den Unruhen betroffene größere Städte]]
Sarkozy geriet immer mehr unter Druck. Durch seine ''[[Law and Order (Politik)|Law-and-order]]''-Parolen, z.B. das Schlagwort: „''Tolérance zéro''“ („Null Toleranz“), wurde er zur Hassfigur der Jugendlichen, die meist [[nordafrika]]nischer Herkunft sind. Sarkozy behauptete, dass diese Unruhen perfekt geplant seien. Kritisiert wurde er unter anderem dafür, dass er die Jugendlichen als „Gesindel“ und „Abschaum“ („''[[racaille]]''“) bezeichnete, mit dem Argument, wer auf „''Beamte, Familienväter oder junge Leute von der eigenen Hautfarbe''“ schieße, könne nur so bezeichnet werden, und so noch mehr Öl ins Feuer gegossen habe. In diesem Zusammenhang sprach er auch vom „Wundbrand“, den es „wegzuschneiden“ gelte. Jugendliche aus den Vororten forderten Sarkozys Rücktritt. Auch Teile der Regierungspartei [[Union pour un Mouvement Populaire|UMP]], deren Vorsitzender Sarkozy ist, rückten von ihm ab. Präsident [[Jacques Chirac]] rief dagegen zur Ruhe und zum Dialog auf. Kritisiert wurde auch, dass Sarkozy die orts- und bürgernahe [[police de proximité]] abgeschafft hat, die für Schlichtungen vor Ort eintreten sollte. Chirac selbst wurde dafür kritisiert, dass er sich erst nach tagelangem Schweigen zu den Ereignissen geäußert hat.
Sarkozy geriet immer mehr unter Druck. Durch seine ''[[Law and Order (Politik)|Law-and-order]]''-Parolen, z.B. das Schlagwort: „''Tolérance zéro''“ („Null Toleranz“), wurde er zur Hassfigur der Jugendlichen, die meist [[nordafrika]]nischer Herkunft sind. Sarkozy behauptete, dass diese Unruhen perfekt geplant seien. Kritisiert wurde er unter anderem dafür, dass er die Jugendlichen als „Gesindel“ und „Abschaum“ („''[[racaille]]''“) bezeichnete, den man „weg[[kärcher]]n“, also mit einem „Hochdruckreiniger wegspritzen“ müsse, mit dem Argument, wer auf „''Beamte, Familienväter oder junge Leute von der eigenen Hautfarbe''“ schieße, könne nur so bezeichnet werden, und so noch mehr Öl ins Feuer gegossen habe. In diesem Zusammenhang sprach er auch vom „Wundbrand“, den es „wegzuschneiden“ gelte. Jugendliche aus den Vororten forderten Sarkozys Rücktritt. Auch Teile der Regierungspartei [[Union pour un Mouvement Populaire|UMP]], deren Vorsitzender Sarkozy ist, rückten von ihm ab. Präsident [[Jacques Chirac]] rief dagegen zur Ruhe und zum Dialog auf. Kritisiert wurde auch, dass Sarkozy die orts- und bürgernahe [[police de proximité]] abgeschafft hat, die für Schlichtungen vor Ort eintreten sollte. Chirac selbst wurde dafür kritisiert, dass er sich erst nach tagelangem Schweigen zu den Ereignissen geäußert hat.


Premierminister [[Dominique de Villepin]] traf sich mit Protestierern aus betroffenen Vierteln zu Gesprächen. Er sagte, es handele sich um Schüler, Studenten, Arbeitslose und Inhaber von [[Niedriglohn|Billiglohnjobs]]. Er wollte einen Aktionsplan initiieren.
Premierminister [[Dominique de Villepin]] traf sich mit Protestierern aus betroffenen Vierteln zu Gesprächen. Er sagte, es handele sich um Schüler, Studenten, Arbeitslose und Inhaber von [[Niedriglohn|Billiglohnjobs]]. Er wollte einen Aktionsplan initiieren.
Zeile 55: Zeile 55:
Die Presselandschaft in Frankreich reagierte sehr unterschiedlich auf die jüngsten Ereignisse. Im Mittelpunkt stand dabei die rechts-konservative [[Boulevardzeitung]] [[France Soir]], die von „radikalen Islamisten, organisierten Banden und [[Guerillakrieg]]“ spricht. Diese Einschätzung erwies sich jedoch als unbelegbar.
Die Presselandschaft in Frankreich reagierte sehr unterschiedlich auf die jüngsten Ereignisse. Im Mittelpunkt stand dabei die rechts-konservative [[Boulevardzeitung]] [[France Soir]], die von „radikalen Islamisten, organisierten Banden und [[Guerillakrieg]]“ spricht. Diese Einschätzung erwies sich jedoch als unbelegbar.


Der deutsche Geheimdienstexperte [[Udo Ulfkotte]] äußerte in seiner Publikation «Der Krieg im Dunkeln. Die wahre Macht der Geheimdienste» (2006, S. 56 f.) die Beschuldigung, dass die [[Mossad]]-Abteilungen «Abteilung für Sondereinsätze» (Abt. Metsada, zuständig etwa für Sabotage und verdeckte Attentate) und die Abteilung für psychologische Kriegführung (Abt. Lohama Psichologit, LAP) die Unruhen mitgeschürt hätten und berief sich dabei auf die Angaben eines Informanten vom britischen Auslandsgeheimdienst [[MI6]].<ref>[http://www.zeit-fragen.ch/ausgaben/2006/nr45-vom-8112006/frankreichs-schwere-unruhen-im-november-2005-eine-geheimdienstoperation/ „Frankreichs schwere Unruhen im November 2005 – eine Geheimdienstoperation“], Zeit-Fragen, Nr. 45, 8. November 2006</ref> Ziel der Aktionen wäre es gewesen, ''„Muslime in der öffentlichen Meinung generell als unberechenbare Bedrohung erscheinen zu lassen“''.
Der grüne Politiker [[Daniel Cohn-Bendit]] nannte organisierte Krawalle „Blödsinn“ und eine „[[Verschwörungstheorie]]“, er warf Sarkozy Versagen vor. Er wies auf eine Atmosphäre des Misstrauens schon vor den Krawallen hin, seit Sarkozy Spezialeinheiten anstelle bürgernaher Beamter in den Gebieten einsetzen ließ. Cohn-Bendit forderte eine neue Polizeistrategie, die „materielle Integration“ der Jugendlichen sowie hohe Investitionen in Bildung. Die derzeitigen europäischen Schulsysteme schlössen Einwanderer aus.
Der grüne Politiker [[Daniel Cohn-Bendit]] nannte organisierte Krawalle „Blödsinn“ und eine „[[Verschwörungstheorie]]“, er warf Sarkozy Versagen vor. Er wies auf eine Atmosphäre des Misstrauens schon vor den Krawallen hin, seit Sarkozy Spezialeinheiten anstelle bürgernaher Beamter in den Gebieten einsetzen ließ. Cohn-Bendit forderte eine neue Polizeistrategie, die „materielle Integration“ der Jugendlichen sowie hohe Investitionen in Bildung. Die derzeitigen europäischen Schulsysteme schlössen Einwanderer aus.


Zeile 133: Zeile 135:
|}
|}


== Zur Situation der Jugendlichen in den Banlieues ==
== Quellen ==

Bei den [[Rebellion|rebellierenden]] Jugendlichen in den französischen Vorstädten handelte es sich so gut wie ausschließlich um [[Mann|männliche]] [[Jugendlicher|Jugendliche]]. Diese Besonderheit machte das deutsche Frauenmagazin [[Emma (Zeitschrift)|Emma]] zum Ausgangspunkt einer geschlechterspezifischen Analyse.
* [[Emma (Zeitschrift)|Emma]]; Ausgabe ''Januar / Februar 2006 (Seiten 6 - 7 und 22 - 31)''
* [http://www.spiegel.de spiegel.de]
Männliche wie weibliche Jugendliche in Migrantenfamilien leben im Spannungsfeld zwischen einer traditionell geprägten Kultur, die oft stark [[Patriarch|patriarchalisch]] dominiert ist und der westlichen Kultur des Landes, in dem sie wohnen. Sie erleben [[Diskriminierung]] und soziale [[Marginalisierung|Benachteiligung]], weil ihre Quartiere [[stigma]]tisiert sind, sie aus dem Ausland kommen und häufig in ärmlichen Verhältnissen leben. Da es ihnen an [[Strategie]]n zur [[Konflikt]]lösung mangelt, griffen Emma zufolge männliche Jugendliche leichter zu [[Gewalt]]maßnahmen.
Gefährlich wird das für alles, was als nicht männlich gilt: [[Frau]]en und z. B. auch [[Homosexualität|Schwule]]. Wenn die eigene [[Identität]] so strapaziert sei, werde sie über die Abwertung der anderen aufrechterhalten. Frauen und Mädchen wird vermehrt von Familie wie vom Staat ([[Kopftuch]]) wieder vorgeschrieben, wie sie sich zu verhalten haben, ihre [[Körper]] würden Emma zufolge somit von den [[Mann|Männern]] vereinnahmt, in dem sie bestimmen, wie die Frauen sich zu kleiden haben und ob sie sich [[schminke]]n dürfen.
Es komme zunehmend eine auch in der christlichen Kultur vorhandene traditionelle Trennung und Polarisierung von [[Heilig]]er und [[Hure]] zur Anwendung. Die Gewalt richte sich auf einmal nicht mehr einfach gegen die Staatsordnung, sondern ganz offen auch in die eigenen Reihen, gegen die eigenen Frauen und Mädchen.
2003 gründete sich eine Frauenorganisation, die sich »[[Ni Putes Ni Soumises]]« nennt, „weder Huren noch Sklavinnen“. Sie wagten erste Demonstrationen und sagten: Wir ersticken am [[Machismo]] der Männer in unseren Vierteln. Es gingen eine zunehmende [[Radikalismus|Radikalisierung]] von jungen Männern ohne Hoffnung, ohne Arbeit und ohne Akzeptanz in der Gesellschaft und eine [[Islamismus|Re-Islamierung]] einher. Religiöser und [[Sexismus|sexistischer]] Fanatismus seien von jeher Geschwister. Die einengenden Normen von Tradition und Religion ihrer Eltern und der freiheitlichen Lebensstil der französischen Gesellschaft bilden einen nicht zu lösenden Konflikt.<ref>[http://www.hr-online.de/website/fernsehen/sendungen/index.jsp?rubrik=21206&key=standard_document_12874560 „Weder Huren noch Sklavinnen - Rebellion in Frankreichs Vorstädten“], [[Hessischer Rundfunk|hr]], 10. November 2005</ref> <ref>[[Emma (Zeitschrift)|Emma]]; Ausgabe Januar / Februar 2006, S. 6 - 7 und 22 - 31</ref>


== Siehe auch ==
== Siehe auch ==
Zeile 162: Zeile 171:
==Quellen==
==Quellen==
<references/>
<references/>

==Literatur==
==Literatur==
*Laurent Mucchielli & Véronique Le Goaziou (Hg): '' Quand les banlieues brûlent... Retour sur les émeutes de Nov. 2005'' La Découverte, Paris 2006 ISBN 270715217X (2. Aufl. 2007)
*Laurent Mucchielli und Véronique Le Goaziou (Hrsg.): '' Quand les banlieues brûlent... Retour sur les émeutes de Nov. 2005.'' La Découverte, Paris 2006, ISBN 270715217X (2. Aufl. 2007)


== Weblinks ==
== Weblinks ==


* [http://www.heise.de/tp/r4/artikel/22/22178/1.html Von brennenden Autos und anderen urbanen Unannehmlichkeiten] [[Telepolis]] 9. März 2006
* [http://www.heise.de/tp/r4/artikel/22/22178/1.html „Von brennenden Autos und anderen urbanen Unannehmlichkeiten“], [[Telepolis]] 9. März 2006
* [http://www.ostblog.de/2006/04/frankreich_eine_art_selbstvers.php Gespräch mit Claude Dilain, Bürgermeister von Clichy-sous-Bois] Quelle: Freitag vom 21.Mai 2006, S. 7
* [http://www.ostblog.de/2006/04/frankreich_eine_art_selbstvers.php Gespräch mit Claude Dilain, Bürgermeister von Clichy-sous-Bois], [[Freitag (Zeitung)|Freitag]], 21. Mai 2006, S. 7
* [http://www.lemonde.fr/web/article/0,1-0,36-706879,0.html „La réduction des aides exaspère les maires de banlieue“], [[Le Monde]], 5. November 2005 (Die Kürzung der sozialen Hilfen machte die Bürgermeister der Vororte zornig.)


''Reaktionen der Linken auf den Krawall:''
''Reaktionen der Linken auf den Krawall:''

Version vom 26. September 2007, 22:40 Uhr

Datei:2005 riots France new.png
Von den Unruhen betroffene Départements in rot dargestellt (überwiegend nur einzelne Brennpunkte)

Bei den gewalttätigen Unruhen in Frankreich im Oktober und November 2005 handelte es sich um eine Serie von zunächst unorganisierten Sachbeschädigungen und Brandstiftungen sowie gewalttätigen Zusammenstößen überwiegend muslimischer Jugendlicher mit der Polizei in den so genannten Banlieues des Großraums Paris, die am Donnerstag, dem 27. Oktober 2005, nach dem Unfalltod zweier Jugendlicher begannen. Zunächst beschränkten sich die Ausschreitungen auf den Heimatort der Jugendlichen, den Pariser Vorort Clichy-sous-Bois. Im Laufe der folgenden Tage weiteten sich die Unruhen zunächst auf das Pariser Umland wie Seine-et-Marne oder Val-d’Oise, später auch auf andere französische Städte wie Lille, Lyon, Rouen, Rennes, Dijon, Toulouse und Aix-en-Provence aus. Alleine am Abend des 3. November wurden 500 Autos und mehrere Häuser in Aulnay-sous-Bois, Neuilly-sur-Marne, Le Blanc Mesnil und Yvelines in Brand gesteckt.

Vorgeschichte

Auslöser für die Gewalt waren Gerüchte um den Tod zweier Jugendlicher aus in Frankreich lebenden Immigrantenfamilien.

Am 27. Oktober 2005 versteckten sich drei Jugendliche, Ziad Benna (17 Jahre), Bouna Traoré (15 Jahre) und Muhttin Altun (17 Jahre) in einem Transformatorhaus in einem Vorort von Paris, weil sie befürchteten, dass die Polizei hinter ihnen her sei. Ziad Benna und Bouna Traoré kamen bei dem Versuch, das Häuschen zu überqueren, um. Trotz eines Warnschildes versuchten sie bei ihrem Fluchtversuch, die Transformatorstation zu überwinden und wurden dort von Stromschlägen tödlich getroffen und verbrannten. Der türkischstämmige Muhttin Altun überlebte mit schweren Verbrennungen.

Der Staatsanwalt François Molins gab an, dass die Jugendlichen vor Polizisten flüchteten, die allerdings eine andere Gruppe verfolgten, die sich einer Personenkontrolle entziehen wollte. Dies bestätigte auch der damalige französische Innenminister Nicolas Sarkozy, nachdem er zunächst die Todesopfer des Diebstahls von Baumaterial bezichtigt hatte, was sich schnell als falsch herausstellte. Muhttin Altun sagte aus, dass er keine Polizisten während ihrer Flucht noch in der Nähe des Transformators gesehen habe. Nachdem die offizielle Untersuchung abgeschlossen wurde, eröffnete Sarkozy ein Ermittlungsverfahren wegen unterlassener Hilfeleistung gegen unbekannt, da, wie die Angehörigen zu Recht vermuteten, die Polizisten von der Anwesenheit der Jugendlichen auf dem Gelände gewusst hatten, sie sich aber aufgrund der Lebensgefahr nicht darum gekümmert hätten. Dies ist durch Mitschnitte des Polizeifunks bestätigt worden.

Überraschend kam der Ausbruch der Gewalt allerdings nicht. So wurden im Jahr 2005 bereits vor dem Beginn der eigentlichen Unruhen etwa 90 Autos jede Nacht in Frankreich in Brand gesteckt, insgesamt 28.000 seit Beginn des Jahres 2005. Daneben wurden ca. 17.500 Müllcontainer angezündet, 5.760 Bushaltestellen, Telefonzellen und andere städtische Einrichtungen zerstört und 3.832 Angriffe auf Polizei oder Feuerwehr gezählt.[1] [2] Für mediales Aufsehen sorgte lediglich eine Serie von Brandanschlägen auf jüdische Einrichtungen, die die diplomatischen Beziehungen zwischen Frankreich und Israel belasteten.

Unruhen

Nach diesem Vorfall kam es 20 Nächte in mehreren Städten Frankreichs zu Ausschreitungen, denen die Polizei meist nicht Einhalt gebieten konnten. Besonders stark waren diese Unruhen seit dem Abend des 30. Oktober, nachdem ein Polizist eine Tränengas-Granate in eine mit ca. 200 Betenden voll besetzte Moschee im Einkaufszentrum Anatol-France gefeuert hatte. Die Polizei bestritt das zunächst, räumte es aber später ein, der getroffene Gebetsraum sei von außen aber nicht als solcher zu erkennen gewesen.

Gebiet, welches am 4. November 2005 von den Unruhen betroffen war

In Dijon und Aix-en-Provence bei Marseille wurden mehr als 30 Autos angezündet. Polizisten wurden mit Steinen beworfen, und es gab Angriffe auf öffentliche Gebäude wie Rathäuser, Schulen oder Polizeiwachen. Seit dem Beginn der Unruhen wurden fast 8.500 Autos zerstört; etwa 2.500 Personen wurden festgenommen.

Im Département Seine-Saint-Denis, nordöstlich von Paris, wurden 1.300 Sicherheitskräfte eingesetzt, die dort die Lage unter Kontrolle bringen sollten. Der öffentliche Nahverkehr musste eingestellt werden, da zahlreiche Busse ständig mit Steinen beworfen oder durch Brände vollständig zerstört wurden. Am 6. November wurde im Pariser Vorort Stains der 61-jährige Franzose Jean-Jacques Le Chenadec von einem Randalierenden zusammengeschlagen und starb an den schweren Kopfverletzungen.

In der Nacht zum 7. November gingen in der bis dahin schwersten Krawallnacht nach Aussagen der Polizei 1.408 Autos sowie erneut zahlreiche Gebäude vom Kindergarten bis zum Krämerladen in Flammen auf.

312 Randalierer und Brandstifter, darunter auch viele Minderjährige, seien festgenommen worden, teilte die Polizei in Paris mit. Die meisten Täter stammen aus muslimischen Einwandererfamilien aus Nordafrika und christlichen Einwandererfamilien aus Schwarzafrika.

Die Aufrufe der Regierung, muslimischer Würdenträger und auch der Eltern der zwei Jungen, deren Unfalltod die Unruhen ausgelöst hatte, verhallten ungehört. Brandstifterbanden zogen vermehrt auch in ruhige Viertel. Sogar im Zentrum von Paris wurden einige Autos angezündet.

Brennendes Auto in Straßburg

In Nantes, Rennes, Rouen und Montargis wurden Dutzende Autos und Mülleimer angezündet. Im südfranzösischen Toulouse musste die Feuerwehr nach eigenen Angaben etwa 50 Mal ausrücken, um von Jugendgruppen gelegte Brände zu löschen. Dutzende Jugendliche wurden festgenommen. In Evreux in der Normandie wurde ein Einkaufszentrum bei Zusammenstößen zwischen bewaffneten Jugendlichen und der Polizei schwer beschädigt. Trotz der Aufrufe der französischen Regierung zu Ruhe und Ordnung setzten randalierende Jugendliche die nächtliche Gewalt vorerst fort. 34 Polizisten wurden bei Auseinandersetzungen mit Jugendbanden in Pariser Vorstädten und anderswo im Land verletzt. Bis Mitternacht wurden mehr als 500 Autos in Brand gesteckt und es kam zu knapp 100 Festnahmen. Zuvor hatte Staatspräsident Jacques Chirac die „Wiederherstellung der Sicherheit und Ordnung” zur absoluten Priorität erklärt. Am 7. November gab es nach Meldungen der Polizei ein erstes Todesopfer. In Raincy (Seine-Saint-Denis) wurde vom Bürgermeister für den 7. November eine Ausgangssperre verhängt.

Ab dem 17. November „normalisierte“ sich die Lage in den Vorstädten wieder.

Reaktionen

Am 5. November erklärte der für die innere Sicherheit zuständige französische Innenminister Nicolas Sarkozy, dass „der Staat die Gewalt nicht akzeptieren“ könne. In der Nacht zum 6. November besuchte er überraschend eine Polizeistation im Département Essonne im Süden von Paris, wo er sich mit festgenommenen Minderjährigen auseinandersetzte. Der sozialistische Senator Jean-Luc Mélenchon hatte zuvor die Notwendigkeit eines Dialogs mit den Jugendlichen angemahnt. Die Situation dürfe nicht zum „Konflikt zwischen verzweifelten Jugendlichen und zornigen Polizisten werden”.

Von den Unruhen betroffene größere Städte

Sarkozy geriet immer mehr unter Druck. Durch seine Law-and-order-Parolen, z.B. das Schlagwort: „Tolérance zéro“ („Null Toleranz“), wurde er zur Hassfigur der Jugendlichen, die meist nordafrikanischer Herkunft sind. Sarkozy behauptete, dass diese Unruhen perfekt geplant seien. Kritisiert wurde er unter anderem dafür, dass er die Jugendlichen als „Gesindel“ und „Abschaum“ („racaille“) bezeichnete, den man „wegkärchern“, also mit einem „Hochdruckreiniger wegspritzen“ müsse, mit dem Argument, wer auf „Beamte, Familienväter oder junge Leute von der eigenen Hautfarbe“ schieße, könne nur so bezeichnet werden, und so noch mehr Öl ins Feuer gegossen habe. In diesem Zusammenhang sprach er auch vom „Wundbrand“, den es „wegzuschneiden“ gelte. Jugendliche aus den Vororten forderten Sarkozys Rücktritt. Auch Teile der Regierungspartei UMP, deren Vorsitzender Sarkozy ist, rückten von ihm ab. Präsident Jacques Chirac rief dagegen zur Ruhe und zum Dialog auf. Kritisiert wurde auch, dass Sarkozy die orts- und bürgernahe police de proximité abgeschafft hat, die für Schlichtungen vor Ort eintreten sollte. Chirac selbst wurde dafür kritisiert, dass er sich erst nach tagelangem Schweigen zu den Ereignissen geäußert hat.

Premierminister Dominique de Villepin traf sich mit Protestierern aus betroffenen Vierteln zu Gesprächen. Er sagte, es handele sich um Schüler, Studenten, Arbeitslose und Inhaber von Billiglohnjobs. Er wollte einen Aktionsplan initiieren.

Die Vizevorsitzende der rechtsextremen Front National, Marine Le Pen (Tochter von Jean-Marie Le Pen), forderte am 4. November 2005 in einer Presseerklärung die Verhängung des Ausnahmezustandes und den Einsatz der Armee in den betroffenen Bezirken.

Der Pariser Imam wandte sich gegen die Gewalt und bezeichnete sie als Schande. Auch der Bruder eines der durch Stromschläge getöteten Jugendlichen rief zur Mäßigung auf.

Am 5. November gab es erste Gegendemonstrationen und Proteste der Bevölkerung gegen Gewalt, so trugen etwa 1000 Bürger Transparente mit der Aufschrift „Nein zur Gewalt, Ja zum Dialog“ durch die Straßen Aulnay-sous-Bois bei Paris. In einigen Orten wurden Bürgerwehren gegründet oder zu ihrer Gründung aufgerufen, da die Polizei vielerorts überfordert sei. Diese sieht jedoch solche Bestrebungen als sehr kritisch an, weil möglicherweise die Gewalt eskalieren könne.

Der Generalstaatsanwalt von Paris, Yves Bot, meinte, die Zerstörungen seien organisiert. Über das Internet würden Jugendliche in anderen Städten zum Mitmachen aufgerufen. Auch hätten die Unruhen seiner Meinung nach keinen ethnischen Charakter, sondern seien allein gegen die Institution Staat gerichtet.

Am 8. November beschloss die französische Regierung, den Ausnahmezustand zu verhängen. Die Grundlage hierfür bildete ein aus dem Jahre 1955 stammendes Notstandsrecht, das bereits im Algerienkrieg Anwendung fand. Somit ist die Polizei nun ermächtigt, auch präventive Maßnahmen, wie Hausdurchsuchungen bei Verdacht auf Waffenbesitz, zu ergreifen. Zudem sollen gezielt Ausgangssperren über Teile des französischen Staatsgebietes verhängt werden.

Die Presselandschaft in Frankreich reagierte sehr unterschiedlich auf die jüngsten Ereignisse. Im Mittelpunkt stand dabei die rechts-konservative Boulevardzeitung France Soir, die von „radikalen Islamisten, organisierten Banden und Guerillakrieg“ spricht. Diese Einschätzung erwies sich jedoch als unbelegbar.

Der deutsche Geheimdienstexperte Udo Ulfkotte äußerte in seiner Publikation «Der Krieg im Dunkeln. Die wahre Macht der Geheimdienste» (2006, S. 56 f.) die Beschuldigung, dass die Mossad-Abteilungen «Abteilung für Sondereinsätze» (Abt. Metsada, zuständig etwa für Sabotage und verdeckte Attentate) und die Abteilung für psychologische Kriegführung (Abt. Lohama Psichologit, LAP) die Unruhen mitgeschürt hätten und berief sich dabei auf die Angaben eines Informanten vom britischen Auslandsgeheimdienst MI6.[3] Ziel der Aktionen wäre es gewesen, „Muslime in der öffentlichen Meinung generell als unberechenbare Bedrohung erscheinen zu lassen“.

Der grüne Politiker Daniel Cohn-Bendit nannte organisierte Krawalle „Blödsinn“ und eine „Verschwörungstheorie“, er warf Sarkozy Versagen vor. Er wies auf eine Atmosphäre des Misstrauens schon vor den Krawallen hin, seit Sarkozy Spezialeinheiten anstelle bürgernaher Beamter in den Gebieten einsetzen ließ. Cohn-Bendit forderte eine neue Polizeistrategie, die „materielle Integration“ der Jugendlichen sowie hohe Investitionen in Bildung. Die derzeitigen europäischen Schulsysteme schlössen Einwanderer aus.

Viele Jugendliche nichtdeutscher Herkunft würden sich auch in Deutschland ausgeschlossen fühlen und könnten in Zukunft besonders in den sozialen „Ghettos“ ihre Wut und ihren Hass auf ähnliche Weise zum Ausdruck bringen, äußerten Jörg Schönbohm und Wolfgang Bosbach (beide CDU) zur Situation in Deutschland. Günther Beckstein (CSU) warnte zudem vor „Parallelgesellschaften“.

Da der Anteil der Migranten in französischen Banlieues im Normalfall unter 50 % liegt und diese zudem überwiegend französisch sprechen oder dies zumindest beherrschen, ist der häufig gezogene Vergleich mit „Ghettos“ jedoch sachlich gesehen falsch. Unbestritten ist jedoch, dass die Banlieues wesentlich höhere Arbeitslosigkeit und Ausländeranteile haben als die meisten anderen Städte und Bezirke in Frankreich. Während der Unruhen berichteten immer wieder Jugendliche, dass ihre älteren Brüder trotz Schulabschluss alleine aufgrund ihres Wohnortes keinen Ausbildungsplatz oder Arbeitsplatz bekommen hätten.

Als Nachahmungstaten wurden vereinzelte Brandanschläge in Bremen-Huchting, Berlin-Moabit und Brüssel bekannt. In Berlin wurde dabei neben Autos und Kleidercontainern auch eine leerstehende Schule in Brand gesetzt. Auch in Köln und München-Neuperlach gab es vereinzelte Fälle. Ob diese auf die französischen Unruhen zurückzuführen sind oder anderweitig motiviert sind, ist unklar. So gab es vereinzelt mehrtägige Auseinandersetzungen in sozialen Brennpunkten zum Beispiel schon im Juli 2005 im hessischen Dietzenbach.

Ursachen und Hintergründe

In den 1930er Jahren war Frankreich nach den USA das zweitwichtigste Einwanderungsland der Welt. Auch heute ist Frankreich Anziehungspunkt für viele Menschen.

Der größte Anteil der Migranten kommt aus der Europäischen Union, der zweitgrößte ist maghrebinischer Herkunft und kommt damit aus muslimisch geprägten Ländern. In Frankreich lebt heute die größte islamische Gemeinde der EU mit schätzungsweise vier bis sechs Millionen Muslimen. Insbesondere im Zusammenhang mit dem Algerienkrieg (1954–62) und der darauf folgenden Unabhängigkeit Algeriens erfolgte eine Wanderungswelle nach Frankreich. Insgesamt verließen etwa 2 Millionen Menschen ihre Heimat in Algerien.

Die Gewaltausbrüche sehen Experten als einen Ausdruck für die lange aufgestaute Wut vieler Jugendlicher vor allem nordafrikanischer oder schwarzafrikanischer Herkunft über die herrschende relative Armut, den Rassismus, mangelnde Chancengleichheit, Perspektivlosigkeit, Massenarbeitslosigkeit und damit verbundene Resignation, Langeweile und Bandenkriminalität sowie fehlende Integrationsmöglichkeiten (Ghettoisierung), die besonders die Migranten in den Trabantenstädten betreffen.

Soziologen warnten schon länger vor einer Eskalation, da die Vorstädte seit etwa 20 Jahren politisch vernachlässigt wurden. Die Jugendlichen selbst haben in der Vergangenheit wiederholt versucht, friedlich auf ihre Situation aufmerksam zu machen, wie z.B. durch den „marche des Beurs“, doch die erhofften Reaktionen blieben aus. Thematisiert wurde die Ausweglosigkeit der Situation schon 1995 in Mathieu Kassovitz' Film Hass, in welchem die sich immer weiter drehende Spirale der Gewalt und die Unvermeidlichkeit des großen Knalles verdeutlicht wurde.

Jüngste Einsparungen und Sozialabbau, und konservative Law and Order-Politik vor allem auf kommunaler Ebene verschärften die Situation. Die bestehende Frustration wurde neben ethnischen und religiösen Spannungen durch das Gefühl verstärkt, politisch ignoriert und lediglich durch die Polizei ruhiggestellt und schikaniert zu werden. Ein Teilnehmer der Ausschreitungen sagte: „Die Menschen vereinen sich, um zu sagen, dass wir genug haben. Wir leben in Ghettos. Jeder lebt in Angst.“ Der Soziologe Michel Wieviorka deutete in Medien die Ereignisse als Revolte gegen die Ordnung, die Jugendlichen griffen Symbole des Staates an. Die Integration habe versagt, die Einwohner fühlten sich von der Gesellschaft ausgeschlossen und perspektivlos.

Im weiteren Verlauf der Krawalle wurde auch immer mehr von sozialen Verstärkereffekten durch Politik und der Medien gesprochen, so hätten sich Jugendliche vor allem im Internet gegenseitig angespornt und zu übertreffen versucht. Auch Fernsehbilder sollen Jugendliche zusätzlich angetrieben haben. Mittlerweile gingen die Jugendkrawalle auf eine «normale Lage» zurück. Das Abfackeln von Autos gehört in den Trabantenstädten zum Alltag. Jährlich werden etwa 800 Autos zerstört. Allein zu Silvester gehen jährlich ca. 100 Autos in Flammen auf. Bis zum Beginn der Unruhen wurden seit Jahresbeginn schon in ganz Frankreich 23106 Autos in Brand gesetzt.

Auch nach den Unruhen bleibt die Situation der Jugendlichen weiterhin unverändert.


Zahlen und Daten

Nacht zerstörte Autos Festnahmen
27.10.–28.10. 21 2
28.10.–29.10. 29 14
29.10.–30.10. 28 19
30.10.–31.10. 8 0
31.10.–01.11. 68 0
01.11.–02.11. 228 0
02.11.–03.11. 315 29
03.11.–04.11. 596 78
04.11.–05.11. 898 253
05.11.–06.11. 1295 349
06.11.–07.11. 1408 395
07.11.–08.11. 1173 330
08.11.–09.11. 617 280
09.11.–10.11. 482 203
10.11.–11.11. 463 201
11.11.–12.11. 502 206
12.11.–13.11. 374 212
13.11.–14.11. 284 115
14.11.–15.11. 215 71
15.11.–16.11. 165 44
16.11.–17.11. 98 33
Gesamt 9267 2832

Zur Situation der Jugendlichen in den Banlieues

Bei den rebellierenden Jugendlichen in den französischen Vorstädten handelte es sich so gut wie ausschließlich um männliche Jugendliche. Diese Besonderheit machte das deutsche Frauenmagazin Emma zum Ausgangspunkt einer geschlechterspezifischen Analyse.

Männliche wie weibliche Jugendliche in Migrantenfamilien leben im Spannungsfeld zwischen einer traditionell geprägten Kultur, die oft stark patriarchalisch dominiert ist und der westlichen Kultur des Landes, in dem sie wohnen. Sie erleben Diskriminierung und soziale Benachteiligung, weil ihre Quartiere stigmatisiert sind, sie aus dem Ausland kommen und häufig in ärmlichen Verhältnissen leben. Da es ihnen an Strategien zur Konfliktlösung mangelt, griffen Emma zufolge männliche Jugendliche leichter zu Gewaltmaßnahmen.

Gefährlich wird das für alles, was als nicht männlich gilt: Frauen und z. B. auch Schwule. Wenn die eigene Identität so strapaziert sei, werde sie über die Abwertung der anderen aufrechterhalten. Frauen und Mädchen wird vermehrt von Familie wie vom Staat (Kopftuch) wieder vorgeschrieben, wie sie sich zu verhalten haben, ihre Körper würden Emma zufolge somit von den Männern vereinnahmt, in dem sie bestimmen, wie die Frauen sich zu kleiden haben und ob sie sich schminken dürfen.

Es komme zunehmend eine auch in der christlichen Kultur vorhandene traditionelle Trennung und Polarisierung von Heiliger und Hure zur Anwendung. Die Gewalt richte sich auf einmal nicht mehr einfach gegen die Staatsordnung, sondern ganz offen auch in die eigenen Reihen, gegen die eigenen Frauen und Mädchen.

2003 gründete sich eine Frauenorganisation, die sich »Ni Putes Ni Soumises« nennt, „weder Huren noch Sklavinnen“. Sie wagten erste Demonstrationen und sagten: Wir ersticken am Machismo der Männer in unseren Vierteln. Es gingen eine zunehmende Radikalisierung von jungen Männern ohne Hoffnung, ohne Arbeit und ohne Akzeptanz in der Gesellschaft und eine Re-Islamierung einher. Religiöser und sexistischer Fanatismus seien von jeher Geschwister. Die einengenden Normen von Tradition und Religion ihrer Eltern und der freiheitlichen Lebensstil der französischen Gesellschaft bilden einen nicht zu lösenden Konflikt.[4] [5]

Siehe auch

Unruhen in Frankreich mit sozialem Hintergrund und unterschiedlicher Motivation

Weiterführende Links

Quellen

  1. Tagesspiegel vom 07. November 2005
  2. „Doch die Entwicklung eskaliert. Seit Januar hat es 70 000 Fälle von Vandalismus, Brandstiftung, Bandengewalt gegeben. Nicht weniger als 28 000 Autos sind angesteckt worden. Und es sind meist die Autos der Armen, die da lodern.“ In: „Aufruhr in Eurabia“, Der Spiegel, 7. November 2005
  3. „Frankreichs schwere Unruhen im November 2005 – eine Geheimdienstoperation“, Zeit-Fragen, Nr. 45, 8. November 2006
  4. „Weder Huren noch Sklavinnen - Rebellion in Frankreichs Vorstädten“, hr, 10. November 2005
  5. Emma; Ausgabe Januar / Februar 2006, S. 6 - 7 und 22 - 31

Literatur

  • Laurent Mucchielli und Véronique Le Goaziou (Hrsg.): Quand les banlieues brûlent... Retour sur les émeutes de Nov. 2005. La Découverte, Paris 2006, ISBN 270715217X (2. Aufl. 2007)

Weblinks

Reaktionen der Linken auf den Krawall: